Kapitel 19

Von meiner Schwester hörten und sahen wir die ganze nächste Woche über nichts. Totale Funkstille. Sie ging nicht mehr an ihr Handy, sie reagierte nicht auf E-Mails, und als wir endlich bei ihr zu Hause jemanden erreichten, war Wally am Apparat. Allerdings sprach er so gezwungen und steif, dass sofort klar war: Nicht nur sagte er genau das, was sie ihm aufgetragen hatte, sondern sie stand auch noch neben ihm, während er mit uns telefonierte.

»Sie beruhigt sich schon wieder«, sagte meine Mutter jedes Mal, wenn ich ihr von einem meiner gescheiterten Versuche erzählte, zu Caroline vorzudringen. »Ganz bestimmt.«

Ich war mir dessen gar nicht so sicher und entsprechend beunruhigt. Meine Mutter nicht. Sie hatte ganz andere, ihrer Meinung nach viel schwerwiegendere Probleme. Und jedes ihrer Probleme hatte mit dieser Gala zu tun.

Dass Rathka sie im Stich gelassen hatte, war bloß der Anfang gewesen. Seitdem lief alles schief, was nur schief laufen konnte. Als endlich die Gartenbaufirma auftauchte, die unseren Vorgarten und die Grünflächen ums Haus für die Gala auf Vordermann bringen sollte, drehte einer der Rasenmäher durch. Er wütete wie ein durchgeknallter Roboter in unserem Garten, rupfte ziemlich viel von unserem gepflegten Rasen aus und massakrierte ein paar Ziersträucher. Die Leute von der Gartenbaufirma taten alles, was sie konnten, um den Schaden zu beheben, aber das Gelände blieb uneben. Wenn man von der Garage zum Gartenweg ging, hatte man das Gefühl, über eine Buckelwiese zu laufen.

Aber das war noch lange nicht das letzte Missgeschick: Wegen irgendeines blöden Fehlers bei der Briefzustellung wurde die Hälfte der Einladungen irrtümlich an uns zurückgesandt, was zur Folge hatte, dass ich an einem besonders heißen Nachmittag durch die halbe Stadt kutschieren und jeden Briefkasten einzeln beliefern musste. Am Tag darauf sagte das Streichquartett ab, weil drei der vier Mitglieder nach einer Hochzeit, auf der sie gespielt hatten, mit Lebensmittelvergiftung darniederlagen.

Am Abend vor der Gala schien sich das Blatt allerdings endlich zu wenden. Die Leute von der Firma, die das Partyzubehör lieferte, kamen tatsächlich überpünktlich, um das Zelt aufzubauen. Wir stellten uns vorsichtshalber daneben, schauten mit Argusaugen zu und waren innerlich auf jede Form von Krise eingestellt. Aber siehe da, das Zelt erhob sich leicht und luftig, Tische und Stühle wurden in Reih und Glied aufgestellt – alles verlief nach Plan.

»Ausgezeichnet«, sagte meine Mutter, als sie dem Typen von der Partyfirma seinen Scheck überreichte. »Ich war mir nicht mal sicher, ob wir überhaupt ein Zelt brauchen würden. Aber es sieht wirklich sehr schön aus so. Das ganze Ambiente gewinnt dadurch.«

»Und falls es regnet, können Sie trotzdem weiterfeiern«, antwortete er.

Sie warf ihm einen Blick zu. »Es wird nicht regnen«, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Ach ja, es gab in dieser Stresswoche noch eine andere gute Nachricht für meine Mutter. Die einzige, aber immerhin: Zu meiner großen Überraschung nahm Delia den Auftrag an. Es werde zwar weder Lamm noch feines Porzellan geben, hatte meine Mutter resigniert gesagt; sie sei inzwischen jedoch froh, wenn es überhaupt etwas zu essen gebe, und seien es Hühnerspießchen oder Fleischklopse.

»Fleischklopse mag wirklich jeder.« Mit dieser Erkenntnis aus eigener Erfahrung versuchte ich sie zu beruhigen, doch sie hatte mir lediglich einen stummen Blick zugeworfen, bevor sie ihre Aufmerksamkeit der nächsten drohenden Katastrophe zuwandte.

In gewisser Weise war ich froh darüber, dass eine Krise die nächste jagte, weil es mich so in Atem hielt, dass ich keine Zeit hatte, nachzudenken oder mir Sorgen zu machen. Zum Beispiel darüber, wie es wohl sein würde, Wes wiederzusehen, oder mit Jason klarzukommen, der sich in den Kopf gesetzt hatte, noch an dem Abend der Gala vorbeizuschauen. Am besten lasse ich alles auf mich zukommen, sagte ich mir immer wieder, und sehe dann, wie’s läuft. Es würde alles noch früh genug passieren.

Die Leute, die das Zelt aufgebaut hatten, fuhren gerade wieder weg, da hörte ich, wie ein Wagen die Auffahrt hochkam und parkte. Ich schaute um die Ecke und entdeckte – Caroline. Sie stieg aus einem kleinen Lastwagen mit lang gestreckter, offener Ladefläche, der mit irgendwelchen Gegenständen aus Metall voll gepackt war; im ersten Moment dachte ich, es würde sich um Gartenmöbel handeln oder um Überreste der Hausrenovierung. Während sie ausstieg, stellte sich ein weiteres Auto hinter ihren Truck. Am Steuer saß einer der Makler, mit denen meine Mutter zusammenarbeitete.

»Was schleppt sie denn da um Himmels willen an?«, überlegte meine Mutter laut, während wir am Haus entlang zu ihr liefen. Doch noch während sie die Frage stellte, wurde mir klar, worum es sich handelte: um Skulpturen. Wes’ Skulpturen. Mindestens sechs Stück. Es war tatsächlich nicht so leicht zu erkennen, dazu waren sie zu kunstvoll auf- und ineinander gestapelt. Als wir bei Caroline und dem Makler anlangten, hatten die beiden bereits die hintere Klappe des Lastwagens runtergelassen und damit begonnen, die Skulpturen auszuladen und sie nebeneinander an die hintere Stoßstange zu lehnen, unter anderem einen großen Engel mit einem Heiligenschein aus Stacheldraht sowie das Windspiel, das ich noch unfertig gesehen hatte, als ich zum letzten Mal bei ihm war. Es bestand aus Fahrradrädern unterschiedlicher Größe, von ganz normalen bis hin zu winzig kleinen Stützrädern, die Wes um ein in sich verdrehtes Stahlrohr montiert und festgeschweißt hatte.

»Hallo, Caroline.« Meine Mutter bemühte sich hörbar um einen möglichst unbeschwerten Tonfall.

Caroline reagierte zunächst überhaupt nicht, doch der Makler winkte uns grüßend zu, während die beiden wortlos damit fortfuhren, die Skulpturen auszuladen und auf der Auffahrt abzustellen: Einen kleineren Engel mit einem Heiligenschein aus bunten Glasscherben, noch ein Windspiel – eine Konstruktion aus Radkappen und Zahnrädern, die kunstvoll ineinander griffen.

»Wir stellen sie einfach auf der Wiese auf«, sagte Caroline zu dem Makler. »Egal wo, das ist schon okay.«

Prompt zerrte der Mann einen der Engel über den Rasen, und zwar zielsicher auf das unebene Stück zu.

»Caroline?« Ich spürte, dass meine Mutter nervös wurde, eine neuerliche Auseinandersetzung jedoch um jeden Preis vermeiden wollte. Deshalb blieb es auch bei diesem einen Wort, diesem einen Fragezeichen, selbst als der Engel in dem gerade notdürftig wiederhergestellten Rasen eine ziemlich tiefe Furche hinterließ.

»Keine Bange«, meinte Caroline. Endlich. Sie trug Shorts und ein T-Shirt, hatte die Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden und wischte sich mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn. »Ich bin gleich wieder weg. Wollte bloß rasch ein paar Fotos von den Skulpturen machen und an Wally mailen, damit wir gemeinsam entscheiden, welche wir bei unserem Haus in den Bergen aufstellen und welche ich direkt mit nach Atlanta bringe.«

»Ach so«, sagte meine Mutter. Caroline und der Makler zogen gemeinsam den größeren Engel auf den Rasen vor dem Haus und rückten ihn zurecht, bis er einigermaßen sicher stand. Anschließend gingen sie zurück, um einen von den kleineren zu holen. »Mach das«, fuhr meine Mutter fort. »Kein Problem.«

Und dann sagte niemand von uns ein Wort, während langsam ein kleiner Skulpturenwald aus dem Rasen wuchs. Die Leute, die in der Zeit vorbeifuhren, bremsten fast alle ab und schauten verwundert herüber. Meine Mutter erwiderte die Blicke mit ihrem freundlichsten Lächeln und winkte jedes Mal zurück, die perfekte höfliche Nachbarin. Aber ich merkte genau, dass ihr die ganze Aktion überhaupt nicht in den Kram passte.

Als Caroline und der Vertreter fertig waren, standen auf der Wiese vor unserem Haus sieben Skulpturen: zwei große und zwei kleine Engel, ein großes rechteckiges Gebilde sowie die zwei Windspiele. Der Makler trat einen Schritt zurück, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen, und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.

»Sind Sie sicher, dass ich nicht doch besser bleiben und Ihnen helfen soll die Stücke wieder einzuladen?«

»Nicht nötig«, antwortete Caroline. »Ich werde einen der Nachbarsjungen fragen, ob er mit anpackt. Ich wusste vorhin bloß nicht, ob bei meiner Ankunft irgendwer hier sein würde. Auf jeden Fall vielen Dank.«

»Gern geschehen«, sagte er freundlich. »Ich bin immer gern behilflich. Bis morgen, Deborah.«

»Ja.« Meine Mutter nickte. »Bis morgen.«

Er fuhr wieder los. Meine Schwester ging zwischen den Skulpturen umher, verrückte mal hier eine, arrangierte dort eine etwas anders. Plötzlich schien ihr überhaupt erst aufzufallen, in welchem Zustand der Rasen war, und sie fragte: »Was ist eigentlich mit der Wiese passiert?«

Ich schüttelte bloß den Kopf und riskierte einen Blick zu meiner Mutter.

»Gar nichts«, antwortete meine Mutter ruhig. Sie trat näher an den großen Engel heran, um ihn genauer betrachten zu können. »Die sind . . . auf jeden Fall sehr interessant. Wo hast du sie her?«

»Von Macys Freund Wes«, antwortete Caroline, während sie einen Fleck von einem der Räder abrieb. Und an mich gewandt fuhr sie fort: »Er ist schon etwas ganz Besonderes, aber das weißt du ja.«

»Mmh.« Ich betrachtete den Engel mit Stacheldraht-Heiligenschein. Wes’ Skulpturen wirkten hier, im Freien und ohne das Durcheinander seiner Werkstatt oder des Marktes als Hintergrund, noch viel eindrucksvoller als ohnehin schon. Was sogar meiner Mutter auffiel. Ich merkte es an der Art, wie sie unverwandt, ja geradezu versonnen das Gesicht des Engels studierte. »Ich weiß.«

»Wes?«, fragte meine Mutter. »Ist das der junge Mann, mit dem du neulich abends in der Auffahrt gesessen und geredet hast?«

»Hat Macy dir nicht erzählt, dass er ein Künstler ist?«, fragte Caroline.

Meine Mutter warf mir einen Blick zu, dem ich auswich. Wir wussten beide, dass das zum damaligen Zeitpunkt – bei jenem bewussten »Gespräch« – auch nichts geändert hätte. »Nein«, antwortete meine Mutter leise. »Hat sie nicht.«

»Er ist wirklich sehr begabt.« Caroline strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich habe gerade Stunden in seinem Atelier verbracht und mir jedes einzelne Stück genau angesehen. Das Schweißen hat er übrigens in einer Einrichtung für straffällig gewordene Jugendliche gelernt.«

Meine Mutter ließ mich nicht aus den Augen. »Was du nicht sagst.«

»Eine irre Geschichte ist das.« Caroline hockte sich hin und stupste eins der kleinen Räder an, das sich daraufhin in Bewegung setzte. »Ein paar Dozenten von unserer Uni engagieren sich ehrenamtlich in Myers, du weißt schon, das ist eine dieser Einrichtungen; auch der Leiter des Instituts für Kunst und Kunstgeschichte, wo ich studiert habe, war mal dort, um zu unterrichten. Und er war von Wes’ Arbeit derart beeindruckt, dass er ihm anbot, Wes könne als Externer an den praktischen Seminaren im Institut teilnehmen. Und das tut Wes auch seit zwei Jahren regelmäßig. Außerdem hatte er vor ein paar Monaten eine eigene Ausstellung in der Galerie, die zur Universität gehört.«

»Davon hat er mir nie was erzählt«, meinte ich.

»Mir auch nicht«, erwiderte Caroline lapidar. »Aber seine Tante kam zufällig vorbei . . . wie heißt sie noch gleich?«

»Delia«, sagte ich.

»Genau.« Caroline fing wieder an, zwischen den Skulpturen hin und her zu gehen. »Während Wes die Skulpturen einlud, unterhielten wir uns ein bisschen miteinander, wobei sie auch erwähnte, dass ihm mittlerweile mehrere Colleges im ganzen Land Kunststipendien angeboten haben, er sich aber noch gar nicht sicher sei, ob er überhaupt studieren wolle. Im Moment hat er nämlich so viele Aufträge von Galerien, Designerläden und Gartencentern, dass er gar nicht mehr nachkommt. Und letztes Jahr hat er den Emblem-Preis gewonnen.«

»Was ist das?«, fragte ich.

»Ein staatlicher Kunstpreis.« Meine Mutter sah erst mich und dann den kleinen Engel zu ihren Füßen an, dessen Heiligenschein aus ineinander montierten Schraubenschlüsseln konstruiert war. »Wird direkt vom Kulturausschuss der Landesregierung vergeben.«

»Auf jeden Fall ist er ein richtiger Künstler. Und ein richtig guter dazu«, fügte Caroline hinzu.

»Wahnsinn!«, meinte ich. Und Wahnsinn, dass er mir nichts von all dem erzählt hatte. Aber ich hatte ja auch nie danach gefragt. Wie hatte Delia Menschen wie ihn und seine Mutter beschrieben? Ruhig, still, bescheiden – aber unglaublich.

»Ich hatte ja schon ein paar Skulpturen von ihm gekauft, damals, auf dem Markt. Als ich sie bei mir im Garten aufstellte, flippten meine Nachbarinnen beinahe aus. Auf einmal wollte jede auch so eine, mindestens.« Caroline rückte die rechteckige Skulptur zurecht, deren Basis – wie mir jetzt erst klar wurde – im Prinzip ein altes, eisernes Bettgestell war. »Ich habe Wes gesagt, wenn ich mit diesen neuen Sachen daheim auftauche, könnte ich sie vermutlich fürs Doppelte weiterverkaufen. Wobei ich sie natürlich nie verkaufen würde.«

»Wirklich? Das Doppelte?« Mit schräg geneigtem Kopf betrachtete meine Mutter die Bettgestell-Skulptur. Wes hatte die Beine abgesägt, so dass nur der kastenförmige Rahmen übrig geblieben war; diesen hatte er auf der Innenseite mit glänzendem Aluminium verkleidet und dann auf zwei langen, leicht abgewinkelten Rohren montiert. Das Ganze wirkte wie ein riesiger Bilderrahmen ohne Bild: Als Bild sah man das, was sich hinter dem Rahmen befand, wenn man davorstand und hindurchschaute. Caroline hatte die Skulptur so aufgestellt, dass sie genau die Vorderseite unseres Hauses einrahmte – die rote Haustür, die sorgfältig zurechtgestutzten Stechpalmen zu beiden Seiten der Eingangsstufen, eine Reihe Fenster.

Zu dritt standen wir davor und betrachteten unser Haus in Wes’ Rahmen.

»Eine neue Serie, an der er gerade arbeitet und die mir wirklich sehr gut gefällt«, meinte Caroline. »Ich habe gleich drei Stück davon gekauft, weil es mich fasziniert, was Kunst hier über Vergänglichkeit und Beständigkeit aussagt.«

»Ach ja?«, sagte meine Mutter.

»Allerdings.« Caroline hatte schon wieder ihren Ich-habe-Kunst-studiert-und-kenne-mich-aus-Ton angeschlagen. Ich verspürte plötzlich eine ungeheure Sehnsucht nach Wes. Mir war gar nicht klar gewesen, wie sehr ich ihn vermisste, wie sehr ich mir wünschte, er wäre jetzt da, würde mir einen seiner ironischen Blicke zuwerfen, die Augenbrauen heben, belustigt lächeln. Damals, als Caroline ihn durch mich kennen gelernt und in dem Stil mit ihm gesprochen hatte, hatte er doch glatt so getan, als hörte er diese Art Gerede zum allerersten Mal. Aber wie ich soeben erfahren hatte, stimmte das gar nicht. »Ein leerer Rahmen und darin ein sich ständig wandelndes Bild als Symbol dafür, wie auch die Zeit fortschreitet und sich ständig wandelt. Die Zeit hält niemals an, nicht einmal in einem einzigen Bild. So empfinde ich das, wenn ich mir diese Skulptur anschaue.«

Es war noch nicht sehr spät, die Sonne noch nicht einmal ganz untergegangen. Dennoch sprangen in diesem Moment die Straßenlaternen hinter uns an. Erst ertönte das leise, charakteristische Summen, dann flackerten sie mit einem schwachen Knacken auf. Als sie schließlich brannten, wurden auf der leeren Fläche hinter dem Rahmen unsere Schatten sichtbar: auf der einen Seite der meiner Mutter, groß und dünn, sowie Carolines – Hände in den Hüften, Ellbogen nach außen ragend – auf der anderen Seite. Meiner fiel genau dazwischen. Ich führte meine Hand zum Kopf, ließ sie abrupt wieder sinken. Mein Schatten tat es mir gleich.

»Ich mache mal besser die Fotos, bevor es ganz dunkel wird«, sagte Caroline und lief zum Truck, um ihre Kamera zu holen.

Noch bevor sie das Führerhaus erreicht hatte, fuhr ein Wagen an unserem Haus vorbei, wurde langsamer und hielt schließlich ganz an. Am Steuer saß eine Frau, die wir gut kannten, denn sie gehörte zu den unabhängigen Maklern, die die Objekte meiner Mutter besonders engagiert verkauften. Sie hupte, ließ das Fenster auf der Beifahrerseite runter und rief meiner Mutter zu: »Deborah! Was für eine originelle Idee!«

Meine Mutter kam über die Wiese an das Auto heran. »Ich verstehe nicht ganz . . .«

»Die Dinger da!« Die Frau zeigte auf die Skulpturen beziehungsweise fuchtelte vor lauter Begeisterung so heftig mit dem Arm, dass ihr dickes, klobiges Holzarmband am Handgelenk auf und ab rutschte. »Sehr passend, wirklich, Baumaterial aus den Villen als Dekoration für die Eröffnung zu verwenden. So symbolisch. Mal wieder brillant von Ihnen.«

»Nein«, sagte meine Mutter. »Das ist keine –«

Doch die Frau hörte gar nicht richtig hin, sondern fiel meiner Mutter ins Wort: »Bis morgen. Ich muss schon sagen – fabelhaft! Großartige Idee.« Und damit fuhr sie bereits wieder davon, wobei sie noch einmal hupte. Meine Mutter blickte ihr stumm nach.

Caroline kam mit ihrer Kamera über die Wiese zurück und ging, während sie die Linse auf den größeren Engel richtete, ein wenig in die Knie, um für das Foto den richtigen Ausschnitt zu finden. Dabei stutzte sie und betrachtete den Boden aufmerksam: »Ihr könnt mir erzählen, was ihr wollt – irgendwas stimmt nicht mit diesem Rasen. Es ist mir sofort aufgefallen. Als . . . als wäre das Gelände auf einmal uneben. Geradezu wellig.«

»Wir hatten da ein kleines Problem«, antwortete ich. Caroline blickte durch den Sucher und im nächsten Augenblick hörte ich das Klicken der Kamera. »Um genau zu sein, wir hatten ein paar Probleme.«

Ich hatte erwartet, dass meine Mutter alles abstreiten oder zumindest schönreden würde, aber als ich mich nach ihr umwandte, merkte ich, dass sie nicht einmal richtig zuhörte. Stattdessen blickte sie immer noch auf die Straße, auf der das gewohnte, allabendliche nachbarschaftliche Treiben herrschte: Die Leute machten einen kleinen Verdauungsspaziergang nach dem Abendessen, schoben einen Kinderwagen vor sich her, führten einen Hund an der Leine spazieren; Kinder kreisten auf Fahrrädern um ihre Eltern, fuhren vor, kamen zurück, fuhren wieder vor . . . Eines war an diesem Abend allerdings anders als sonst: Jeder, der vorbeikam, warf einen Blick auf die Skulpturen in unserem Vorgarten. Manche Leute blieben sogar stehen und starrten unverhohlen herüber. Was meiner Mutter genauso auffiel wie mir.

Prompt wandte sie sich an Caroline. »Weißt du was?«, begann sie vorsichtig. »Diese Skulpturen würden sich bei dem Empfang morgen vielleicht wirklich gut machen. Sie haben einfach was. Unser Garten wirkt auf einmal viel spektakulärer.«

Caroline machte noch ein Foto, richtete sich auf und trat auf das Windspiel aus Rädern zu. »Ich wollte eigentlich heute Abend weiterfahren.« Beim Sprechen sah sie nicht meine Mutter an, sondern blickte prüfend durch den Sucher. »Ich hab noch ein paar Termine, du weißt schon . . .«

Das war’s, dachte ich. Sie lehnte ab und wir konnten nichts dagegen tun. Was meiner Mutter ebenfalls klar war; ich merkte es an der Art und Weise, wie sie ein, zwei Schritte zurückwich und nickte. »Ich verstehe«, antwortete sie. »Natürlich, wenn es nicht geht . . .«

Einen Moment lang schwiegen wir alle drei. Ich fragte mich plötzlich, ob am Ende wohl jeder Streit so ausgeht: Ein einvernehmliches Schweigen – und dann ist man quitt. Ich nehme dir etwas weg, du nimmst mir etwas weg. Ich mache dir was kaputt, du machst mir was kaputt. Am Ende gleicht sich alles aus. Und das ist es doch, was sich die Menschen am meisten wünschen.

»Andererseits könnte ich es vermutlich auch verschieben«, meinte Caroline plötzlich. »Es geht ja nur um den einen Tag, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete meine Mutter. Caroline hob erneut die Kamera vors Auge. »Nur für einen Tag.«

Also blieb Caroline über Nacht bei uns. Sie machte ein Foto nach dem anderen, bis es zu dunkel wurde. Erst dann kam sie ins Haus. Sie und meine Mutter umkreisten einander wachsam, fast misstrauisch, aber höflich. Bis wir alle schlafen gingen. Beziehungsweise ich wie üblich nicht einschlafen konnte. Nachdem ich mich eine Stunde oder so im Bett hin- und hergewälzt hatte, kletterte ich auf das Dach vor meinem Fenster und betrachtete Wes’ Skulpturen auf der Wiese unter mir. Sie kamen mir in dieser Umgebung so fremd vor, als wären sie vom Himmel gefallen.

Irgendwann ging ich wieder ins Bett und schlief doch ein, wurde allerdings gegen drei Uhr früh von einem Windstoß geweckt, der durch mein geöffnetes Fenster blies. Auch wenn meine Mutter es anders geplant hatte – das Wetter schlug offensichtlich um. Ich setzte mich im Bett auf, schob den Vorhang beiseite und blickte übers Dach hinweg in unseren Vorgarten.

Die beweglichen Teile der Skulpturen – und jede hatte welche – drehten sich wie verrückt im Kreis. Wirbelten, schwirrten, pfiffen, lärmten, sausten. Das Geräusch war ohrenbetäubend und verdrängte alles andere. Wie ich überhaupt dabei hatte schlafen können, war mir ein Rätsel. Ich legte mich wieder auf mein Kissen und hörte zu. Mindestens eine Stunde. Wartete, dass der Wind abnahm. Aber der Wind nahm nicht ab, das Geräusch hörte nicht auf. Im Gegenteil, es wurde eher lauter und ich dachte, ich würde nie in meinem Leben wieder einschlafen. Aber irgendwie passierte es dann doch.

 

Macy! Wach auf.

Hastig richtete ich mich auf. Die Stimme meines Vaters hallte in meinem Kopf wider. Ich träume nur, sagte ich mir; doch in meinem Zustand zwischen Schlafen und Wachen war ich mir dessen nicht ganz sicher.

Beim letzten Mal, als ich diese Worte im Halbschlaf gehört hatte, war es Winter gewesen. Kalt, kahle Bäume. Jetzt blies ein starker, süß duftender Sommerwind. Traum, entschied ich, glitt wieder zwischen meine Laken, legte den Kopf aufs Kissen, schloss die Augen. Aber genau wie beim letzten Mal vor anderthalb Jahren überkam mich ungefähr drei Minuten später der unwiderstehliche Drang, doch aufzustehen.

Ich ging zum Fenster, schaute hinaus – und traute im ersten Moment meinen Augen nicht. Aber nachdem ich einmal und dann gleich noch einmal heftig geblinzelt hatte, um sicherzugehen, dass ich wirklich nicht mehr träumte, musste ich mir eingestehen, dass Wes wirklich dort unten in unserem Garten stand; seinen Truck hatte er vor dem Haus am Bordstein geparkt. Es war sieben Uhr morgens. Und was tat Wes? Betrachtete seine Skulpturen, seine Windspiele, wie sie sich drehten und wirbelten. Als ich mich näher zum Fliegengitter vor dem Fenster beugte, um ihn besser sehen zu können, blickte er auf und entdeckte mich.

Einen Moment lang starrten wir einander regungslos an. Dann holte ich ein T-Shirt und ein Paar Shorts aus der Kommode, streifte beides rasch über, lief auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und durch die Haustür nach draußen.

So wie der Wind mit den Skulpturen spielte, bekam man das Gefühl, alles wäre in Bewegung. Der Torf, den die Gärtner am Rand der Blumenbeete entlang aufgehäuft hatten, war über die ganze Wiese bis weit auf die Straße geweht worden. An mehreren Stellen fegten kleine Wirbelstürme aus Blütenblättern und Grasabfällen mit den Windstößen über den Rasen. Und im Zentrum dieses Aufruhrs stand Wes. Stand nun auch ich, zwischen uns nichts als die paar Meter Gartenweg.

»Was machst du hier?« Ich musste fast brüllen, um gegen den Sturm anzukommen, hatte das Gefühl, meine Stimme würde sofort auf und davon getragen. Doch meine Frage hörte er trotzdem.

»Ich wollte noch etwas vorbeibringen«, rief er zurück. »Ich dachte nicht, dass schon jemand wach sein würde.«

»War ich auch nicht«, antwortete ich. »Zumindest nicht bis gerade eben.«

»Ich habe versucht dich anzurufen.« Er trat einen Schritt auf mich zu, ich tat es ihm gleich. »Ein paar Mal, in den Tagen nach jenem Abend, du weißt schon . . . Warum bist du nie ans Telefon gegangen?«

Eine weitere starke Böe ließ meine Shorts um meine Beine flattern. Das ist ein richtig starker Sturm, dachte ich und schaute mich ein wenig skeptisch um, bevor ich antwortete: »Ich weiß auch nicht so genau.« Mit beiden Händen hielt ich mir meine Haare aus dem Gesicht. »Ich dachte bloß . . . mir kam es irgendwie so vor, als wäre plötzlich alles anders geworden.«

»Anders.« Er trat noch einen Schritt auf mich zu. »Du meinst, am vierten Juli? Zwischen uns beiden?«

»Nein«, antwortete ich, was ihn zu überraschen, ja irgendwie sogar zu verletzen schien, denn ein Schatten flog über sein Gesicht. Doch der Moment war ebenso schnell vorbei, so dass ich sofort wieder daran zweifelte, ob ich überhaupt richtig gesehen hatte. »Ich rede nicht vom vierten Juli, sondern von dem Abend, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Du warst so . . .« Ich brach ab, weil mir kein passender Ausdruck dafür einfiel. Und trotzdem . . . Ich bekam die Chance, etwas zu erklären oder vielleicht sogar eine Erklärung zu bekommen, wenn man auseinander ging oder etwas zu Ende war – das war eine ganz neue, ungewohnte Situation für mich.

Doch Wes wartete offenbar geduldig darauf, dass ich weitersprach, egal was ich als Nächstes sagen würde.

»Es war einfach schräg.« Kein besonders gutes oder zutreffendes Wort, aber irgendetwas musste ich ja sagen. »Du warst schräg drauf. Deswegen dachte ich, es wäre vielleicht zu viel gewesen.«

»Was war zu viel?«

»Ich. Am vierten Juli. Als ich im Krankenhaus zusammengebrochen bin.« Er war vollkommen perplex; anscheinend hatte er keine Ahnung, wovon ich redete. »Wir. Wir waren vielleicht auch zu viel. Füreinander. Und weil du, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, so komisch warst, hatte ich das Gefühl, du wolltest mich nicht mehr sehen.«

»Da irrst du dich«, antwortete er. »Es lag nur daran, dass –«

Ich unterbrach ihn. »Ich bin dir gefolgt, um mich bei dir zu entschuldigen. Irgendwie wusste ich, dass ich dich im Waffelcafé finden würde. Deshalb bin ich dorthin gefahren und habe dich gesehen. Mit Becky.«

»Du hast mich gesehen«, wiederholte er, »nachdem wir auf dem Parkplatz vorm Supermarkt miteinander geredet hatten?«

»In dem Moment habe ich endgültig kapiert, was los war«, erwiderte ich. »Aber ich fand alles schon vorher ziemlich merkwürdig. Wie wir da standen, wie wir redeten . . . Deshalb hatte ich plötzlich den Eindruck, was am vierten Juli passiert ist, wäre dir zu viel geworden. Und das war mir peinlich.«

»Deshalb hast du die Bemerkung über dich und Jason gemacht«, sagte Wes auf einmal. »Dass ihr vielleicht wieder zusammenkommen würdet. Dann bist du mir gefolgt, hast mich gesehen und –«

Wieder fiel ich ihm ins Wort und schüttelte dabei energisch den Kopf, um ihm zu signalisieren, dass er nichts weiter zu erklären brauchte: »Ist schon okay. Das spielt alles keine Rolle mehr.«

»Okay«, wiederholte er. Warum lief es immer wieder darauf hinaus? Warum tauchte immer wieder dieses verdammte Okay auf, wenn man gefragt wurde, wie es einem ging? Obwohl dem, der gefragt hatte, die Antwort im Grunde meistens herzlich egal war, weil er die Wahrheit gar nicht wirklich wissen wollte.

Irgendetwas flog von hinten gegen meine Beine. Ich senkte den Kopf und sah ein Stück weißen Stoff, der sich wahrscheinlich von einer Wäscheleine losgerissen oder zu irgendeinem Gartenmöbel gehört hatte. Im nächsten Moment segelte es auch schon wieder weiter und verschwand über den Büschen neben mir. »Wir wussten beide, dass Jason und Becky zurückkommen und unsere Beziehungspausen irgendwann zu Ende sein würden«, sagte ich. »Das war für niemanden eine Überraschung, sondern von vornherein so geplant. Wir wollten es doch gar nicht anders.«

»Stimmt das?«, fragte er. »Willst du es wirklich nicht anders?«

Ob absichtlich oder nicht – damit hatte Wes die letzte Frage gestellt. Die entscheidende Frage, mit der unser Wahrheitsspiel enden würde. Wenn ich jetzt gesagt hätte, was ich wirklich dachte, wäre ich so offen gewesen wie noch nie in meinem Leben; gleichzeitig hätte ich mich dadurch verwundbar gemacht, verletzlich. Und das schaffte ich nicht. Es entsprach mir einfach nicht. Wes hatte im Verlauf des Spiels viele Regeln verändert und auf raffinierte Weise zu seinen Gunsten ausgelegt. Aber ich würde jetzt eine Regel brechen, und zwar die wichtigste, die entscheidende Regel: Ich würde nicht die Wahrheit sagen.

»Ja«, antwortete ich.

Ich wartete darauf, dass er etwas sagte, wartete auf irgendeine Reaktion und fragte mich dabei im Stillen, was wohl als Nächstes geschehen würde, jetzt, da das Spiel vorbei war. Doch Wes’ Blick wanderte plötzlich an meinem Gesicht vorbei und nach oben. Verblüfft hob ich den Kopf, um nachzusehen, was ihn ablenkte. Aber ich sah eigentlich gar nichts mehr, nur wirbelndes Weiß, das den Himmel bedeckte.

Es war fast wie Schnee; doch während die einzelnen Stücke langsam herunterfielen und um mich herumwehten, bemerkte ich, dass es sich um Fetzen desselben steifen, weißen Stoffes handelte, der vorhin gegen meine Beine geflogen war. Der Groschen fiel allerdings erst, als ich einen Entsetzensschrei hörte, der auf der anderen Seite des Hauses ausgestoßen wurde.

»Das Zelt!«, kreischte meine Mutter. »Das kann nicht sein! Das Zelt!«

Ich wandte mich wieder zu Wes um, doch er hatte mir bereits den Rücken zugekehrt und lief zu seinem Truck. Ich rührte mich nicht vom Fleck, sondern blickte ihm nach, wie er einstieg, sich hinters Steuer setzte, losfuhr. Ich hatte gewonnen. Aber es fühlte sich nicht wie ein Sieg an. Ganz und gar nicht.

 

Die Bilanz: ein zerfetztes Zelt, ein Garten voll geköpfter Blumen und aus der Ferne – Donnergrollen.

Caroline sagte mit gedämpfter Stimme »Oje« und stieß mich mit dem Ellbogen an. Ich schreckte hoch. Schon seit Stunden war ich nicht mehr ganz bei mir, sondern mit meinen Gedanken irgendwo im Nirgendwo versunken. Obwohl ich instinktiv alles tat, um meine total entnervte, panische Mutter zu unterstützen, hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, neben mir zu stehen. Dennoch streichelte ich beruhigend ihre Hand und meinte, nein, natürlich werde es auch ohne Zelt gehen. Denn die Leute von der Partyfirma hatten uns mehrfach versichert, es tue ihnen schrecklich Leid, aber sie könnten uns kein Ersatzzelt liefern, da alle ihre Zelte vergeben seien; und selbst wenn, gebe es so kurzfristig kein Personal zum Aufbauen. Also versuchten wir drei auf eigene Faust, zumindest die Stühle und Tische so zu arrangieren, dass man sitzen konnte, doch der Wind blies sie genauso schnell wieder um, wie wir sie aufstellen konnten. Daher schlug Caroline vor, wir sollten sie ganz wegräumen, das wäre doch auch nicht schlecht; schließlich würde es den Gästen ermöglichen, sich ganz »zwanglos untereinander zu mischen und zu plaudern«, wie sie sich ausdrückte. Ich nickte eifrig, um meiner Mutter das Gefühl zu geben, es würde schon alles irgendwie klappen. Und als sie sich kurze Zeit später den Absatz abbrach, nachdem sie das rote Band vor der Modellvilla zerschnitten und rückwärts die Stufe hinuntergetreten war, wobei sie mehr als unglücklich mit dem Fuß aufkam, sorgte ich für einen kleinen Lacher, weil ich geistesgegenwärtig meine eigenen Schuhe auszog und sie ihr hinhielt. Trotzdem kam ich mir die ganze Zeit merkwürdig distanziert vor. Als spielte sich das Geschehen nicht direkt vor meinen Augen, sondern irgendwo weit weg ab, so dass die Konsequenzen – egal welche – für mich überhaupt keine Rolle spielen würden.

Ausnahmsweise lächelte meine Mutter gerade mal, zwar nur für die Kameras, aber immerhin. Während dunkel drohende Wolken über den Himmel jagten, schüttelte sie ihren Bauleitern, Handwerkern und anderen Mitarbeitern herzlich und äußerlich vollkommen gelassen die Hände. Alles in allem vermittelte sie das Gefühl, ganz gut drauf zu sein – bis zu dem Moment, als wir in ihr Auto einstiegen und sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Was soll das?«, schrie sie hysterisch. »Warum? Seit Wochen habe ich auf diesen Tag hingearbeitet und genau das wollte ich nicht.«

Ihre Stimme gellte durchs Wageninnere, dröhnte in meinen Ohren. Meine Mutter trat aufs Gaspedal und fuhr los. Während die vertrauten Straßen und Häuser unseres Viertels draußen am Fenster vorbeihuschten, schoss mir plötzlich die Szene mit mir und Wes durch den Kopf, als wir am frühen Morgen bei uns im Garten gestanden und ich etwas ganz Ähnliches zu ihm gesagt hatte wie meine Mutter gerade – ganz ähnlich und gleichzeitig das genaue Gegenteil: Wir wollten es doch gar nicht anders. Als ich die Worte ausgesprochen hatte, waren sie mir vollkommen logisch erschienen. Doch allmählich überkamen mich Zweifel.

Wir bogen um eine Ecke. Direkt über uns ertönte ein Donnerschlag, der uns alle drei heftig zusammenzucken ließ. Meine Schwester, die vorne neben meiner Mutter saß, beugte sich etwas vor, um durch die Windschutzscheibe zum Himmel zu spähen. »Vielleicht sollten wir uns allmählich überlegen, was wir tun, falls es regnet«, sagte sie.

»Es wird nicht regnen«, meinte meine Mutter lapidar.

»Hast du den Donner nicht gehört?«

»Nur weil es donnert, heißt das noch lange nicht, dass es auch regnet.« Meine Mutter gab Gas und raste mit mindestens dreißig Stundenkilometern mehr dahin, als es sich für einen rücksichtsvollen Bewohner von Wildflower Ridge gehörte.

Caroline warf ihr einen Blick von der Seite zu. »Mama, bitte.«

Doch meine Mutter bretterte unsere Auffahrt hoch und war, zusammen mit Caroline, schon fast im Haus, da stieg ich überhaupt erst aus. Nach wie vor war ich tief in Gedanken versunken. Gelegentlich flatterte ein Stück weiße Zeltplane durch die Luft. Ich folgte den beiden und fand sie in der Küche, wo sie eilig die Broschüren und Kataloge bereitlegten, die draußen auf den Tischen verteilt werden sollten; und auch sonst wirbelten sie wie zwei Derwische durch die Gegend, um alles für den Empfang vorzubereiten. Als sie mich kommen sah, schnappte sich meine Mutter einen Stapel alter Zeitungen, Innenarchitektur- und Design-Zeitschriften meiner Schwester, Mappen sowie Flyer von der Arbeitsplatte und packte ihn mir auf den Arm.

»Bringst du das bitte außer Sichtweite, Macy? Leg es irgendwohin, wo es nicht stört. Und schau in der Toilette nach, ob die Gästehandtücher auch gerade aufeinander liegen und genug Seife nachgefüllt wurde und . . .« Sie unterbrach sich und schaute sich hektisch um, welche Unordnung ihren scharfen Augen bisher entgangen war. Ihr Blick fiel auf den Karton mit dem E.I.N.fach-Schlüsselsystem, den ich gestern neben dem Telefon hatte stehen lassen. ». . . bitte verstau das Ding ebenfalls irgendwo, wo es nicht im Weg rumliegt, und komm anschließend sofort zu mir zurück, ich brauche deine Hilfe im Esszimmer, dringend.«

Ich bewegte mich zwar immer noch wie in Trance, nickte aber und tat alles, worum sie mich gebeten hatte. Die Mappen brachte ich in ihr Arbeitszimmer, die Zeitungen zum Altpapier, die Zeitschriften legte ich vor die Zimmertür meiner Schwester. Blieb bloß noch das E.I.N.fach-Schlüsselsystem. Damit ging ich in mein Zimmer, setzte mich aufs Bett, drehte und wendete das Paket in meinen Händen.

Von unten drang das Geräusch des Staubsaugers zu mir hoch; anscheinend war meine Schwester zu einer letzten Blitzsäuberungsaktion verdonnert worden, denn meine Mutter hastete im Flur hin und her, was ich am Klappern ihrer Absätze hörte. Ich wusste zwar, dass sie mich eigentlich im unteren Stockwerk brauchten, und zwar bald; dennoch wollte ein Teil von mir sich einfach aufs Bett legen, die Augen schließen und noch einmal ein paar Stunden früher aufwachen, heute Morgen, sieben Uhr. Um eine zweite Chance zu bekommen. Zunächst würde sich alles genauso abspielen wie beim ersten Mal: Ich würde die Treppe hinunterlaufen, über den Gartenweg auf Wes zugehen – aber ich würde etwas anderes zu ihm sagen als heute Morgen. Er hatte mir immer die Wahrheit gesagt. Inzwischen hatte ich begriffen, dass ich dasselbe hätte tun sollen.

Und was war die Wahrheit?

Wes war mein Freund, zweifellos. Aber ich hatte Gefühle für ihn, die weit darüber hinausgingen, auch wenn ich an jenem Abend, als ich ihn mit Becky zusammen sah, das Gegenteil behauptet hatte. Allmählich blieb mir jedoch gar nichts anderes mehr übrig als mir diese Gefühle einzugestehen. Und es wurde auch höchste Zeit. Im Prinzip hatte ich es schon lange gewusst. Genau deswegen hatte es mich ja schon fast wieder zu Jason zurückgezogen, zu dem geordneten, ruhigen Leben, das mich – wie ich hoffte – davor bewahren sollte, je wieder verletzt zu werden. In dieser meiner geordneten, ruhigen Welt war es nicht nur möglich, sondern sogar ziemlich einfach, so zu tun, als wäre nichts von dem, was ich in diesem Sommer – mit Wes, mit Wish Catering – erlebt hatte, überhaupt je passiert.

Aber es war passiert. Ich war Delias Lieferwagen an jenem Abend gefolgt, ich hatte Wes meine Wahrheiten erzählt, mich in seine Arme geflüchtet, ihm mein trauriges, wundes, gebrochenes Herz geöffnet. Natürlich konnte ich auch weiterhin so tun, als wäre es nicht so gewesen, konnte die Ereignisse aus meinem Kopf und hoffentlich irgendwann auch aus meinem Bewusstsein verbannen. Aber ob das auf Dauer überhaupt was bringen würde? Wenn nämlich irgendetwas wirklich wichtig ist, sorgt das Schicksal in der Regel dafür, dass es noch einmal zu einem zurückkehrt und man eine zweite Chance bekommt. Einmal war – ganz konkret – die Hand nach mir ausgestreckt worden, als Kristy mich ins Bertmobil, also den ehemaligen Krankenwagen, gezogen hatte; ein zweites Mal forderte das Schicksal mich heraus, als ich mit den anderen ins Krankenhaus fuhr und am Ende die Geburt von Avery miterlebte. Die Ereignisse verschwören sich miteinander, um einen an den Ort zurückzukatapultieren, an dem man in einer existenziellen Situation schon einmal gewesen ist. Ab dann hängt es von einem selbst ab, wie es weitergeht, und im Mittelpunkt steht nur noch eins: die Möglichkeiten, das Potenzial des Lebens.

Ich stand auf, trug einen Stuhl zum Schrank und stellte mich drauf, um das neueste E.I.N.fach-Produkt zu den anderen zu legen. Ich wollte schon wieder runterklettern, da fiel mein Blick auf die Einkaufstüte, die ich vor Wochen ebenfalls dort oben hingeräumt hatte. Schon den ganzen Tag über hatte ich das Gefühl gehabt, irgendwie wäre alles anders als sonst. Vermutlich streckte ich nur deshalb die Hand aus und zog die Tüte vom Regal.

»Ich fasse es nicht«, murmelte meine Mutter vor sich hin, die gerade an meiner nur angelehnten Schlafzimmertür vorbeieilte. Mir war sofort klar, dass sie das Donnergrollen über unseren Köpfen meinte. »Als läge ein Fluch über dem heutigen Tag.«

Ich setzte mich wieder aufs Bett, nahm das Päckchen aus der Tüte. Es fühlte sich ziemlich schwer an. Ich legte es auf meinen Schoß und begann sofort, es auszuwickeln.

»Also wirklich!« Jetzt murmelte sie nicht mehr, sondern rief laut gegen den ebenfalls immer lauter werdenden Donner an. »Wie soll man denn so ein Wetter überhaupt einplanen?«

Das Papier verknitterte und zerriss beim Auspacken. Und plötzlich spürte ich intuitiv, dass sich etwas mir Wohlbekanntes unter dem Geschenkpapier verbarg, kam aber noch nicht drauf, was es war.

»Der Rasen, der Caterer, das Zelt . . .« Erneut hastete meine Mutter an meiner Zimmertür vorbei. »Was kommt wohl als Nächstes?«

Ich saß ganz still da (dafür klopfte mein Herz umso lauter) und betrachtete mein Geschenk. Schließlich hob ich langsam die Hand und legte sie auf ihr Gegenstück in der Skulptur auf meinem Schoß. Auf einmal begann einiges einen Sinn zu ergeben, anderes dagegen verwirrte mich stärker denn je zuvor. Eins wusste ich allerdings mit Bestimmtheit: Das Herz in meiner Hand diese Herzhand – gehörte mir. So lange hatte ich vergeblich auf ein Zeichen gehofft. Dabei war es die ganze Zeit über in meiner Nähe gewesen und hatte darauf gewartet, dass ich endlich bereit sein würde, es zu empfangen.

Noch hallte die letzte Frage meiner Mutter in meinem Kopf wider, da donnerte es plötzlich so heftig und laut, dass die Fenster klirrten, das Haus wackelte und die Erde bebte. Zumindest bekam man das Gefühl. Und dann fing es an zu schütten.

Meine Mutter hatte eine Antwort auf ihre Frage bekommen. Und ich ebenfalls.