In ein paar Stunden flog Jason also ab, ins Schlaumeiercamp. Es hieß natürlich anders, aber alle redeten bloß vom Schlaumeiercamp.
»Das müsste alles sein.« Jason stopfte das endgültig letzte Paar Socken seitlich in seinen Koffer. »Liest du mir trotzdem bitte noch mal die Liste vor?«
Ich nahm das Blatt Papier, das neben mir lag, und begann: »Stifte, Notizbücher, Telefonkarte, Kamera-Akkus, Vitamine . . .«
Währenddessen wanderten Jasons Hände über den Inhalt des Koffers, suchten und fanden jeden Gegenstand, den ich aufzählte, überprüften, ob er wirklich alles eingepackt hatte. Überprüften es vorsichtshalber gleich noch einmal. Sich vergewissern, ob etwas tatsächlich stimmt – Jasons Lebensmotto.
»Taschenrechner«, fuhr ich fort. »Laptop –«
»Stopp.« Er hob die Hand, ging zu seinem Schreibtisch, zog den Reißverschluss der schmalen schwarzen Tasche auf, die dort stand, und nickte mir zu. »Mach mal mit Liste Nummer zwei weiter.«
Meine Augen überflogen die Seite, bis sie das Wort LAPTOPTASCHE entdeckten. Ich räusperte mich. »CD-Rohlinge, Spannungsschutzadapter, Kopfhörer . . .«
Nachdem wir LAPTOPTASCHE abgehakt und das Checken der Hauptliste ebenfalls glücklich erledigt hatten – inklusive zweier Unterlisten, KULTURBEUTEL sowie VERSCHIEDENES –, war Jason einigermaßen überzeugt davon, dass er tatsächlich alles eingepackt hatte. Was ihn nicht davon abhielt, noch ein paar Runden durchs Zimmer zu tigern und dabei nachdenklich vor sich hin zu murmeln. Perfekt zu sein ist Arbeit. Schwerstarbeit. Wer sich nicht wirklich anstrengen will, braucht gar nicht erst damit anzufangen.
Jason wusste, was Perfektsein bedeutet. Anders als bei den meisten anderen Menschen war das für ihn kein Ziel, das in weiter oder gar unerreichbarer Ferne lag. Für Jason befand sich Perfektion gerade mal hinter dem nächsten Hügel, so nah, dass man bereits Einzelheiten der Landschaft erkennen konnte. Und es war kein Ort, an dem er sich nur besuchsweise aufhalten würde. Nein, er würde dort leben, im Land der Perfektion. Als Dauerwohnsitz.
Jason war nationaler Mathepreisträger, Vorsitzender des Debattierclubs, zweimal nacheinander wiedergewählter Schulsprecher und in dieser Eigenschaft verantwortlich für ein innovatives Recycling-Programm, das inzwischen auch an anderen Schulen, und zwar im ganzen Bundesland, eingeführt worden war. Er hatte die besten Noten, die ein Schüler an unserer Highschool je bekommen hatte; übersprang seit der siebten Klasse regelmäßig die Einführungskurse, egal in welchem Fach, und wurde gleich bei den Fortgeschrittenen eingestuft; nahm seit der Zehnten an besonderen College-Seminaren teil, die nur hochbegabten Highschool-Absolventen offen stehen; sprach fließend Spanisch und Französisch. Aber er war nicht nur der ultimative Musterschüler, sondern auch sonst vollkommen. In den letzten Sommerferien hatte er als Freiwilliger bei einem sozialen Wohnungsbauprojekt mitgeholfen; er war Veganer, machte Yoga, besuchte jeden zweiten Sonntag seine Großmutter im Altersheim und hatte seit seinem achten Lebensjahr einen nigerianischen Brieffreund, mit dem er sich regelmäßig schrieb. Alles, was er tat, tat er richtig, gut, gründlich. Perfekt eben.
Die meisten finden Typen wie Jason vermutlich nervig oder sogar richtig daneben. Ich nicht. Jason war genau die Art Mensch, die ich an meiner Seite brauchte.
Was ich von der ersten Sekunde an gewusst hatte, als wir uns kennen lernten, zu Beginn der Neunten. Wir hatten zusammen Englisch und sollten eine Gruppenarbeit über Macbeth machen.
Jason, ich und die Dritte im Bunde, eine gewisse Amy Richmond, hatten kaum unsere Tische zusammengeschoben, da verkündete Amy, sie habe keine Ahnung von »diesem Shakespeare-Mist«, bettete den Kopf auf ihren Rucksack und schlief ein. Tief und fest.
Jason warf ihr bloß einen kurzen Blick zu und öffnete sein Macbeth-Exemplar. »Dann fangen wir mal an«, sagte er.
Zu dem Zeitpunkt war ES noch nicht lange her und ich befand mich gerade in meiner Schweigephase. Hatte Mühe, Worte aufzunehmen. Manchmal fiel es mir sogar schwer, sie überhaupt zu identifizieren. Beim Lesen kamen mir oft ganze Sätze so vor, als wären sie in einer fremden Sprache geschrieben oder stünden rückwärts da. Als ich ein paar Tage zuvor meinen Namen oben auf ein Blatt Papier hatte schreiben müssen, war ich mir beispielsweise nicht einmal mehr sicher gewesen, welche Buchstaben in welcher Reihenfolge dazugehörten. Zu meinem eigenen Namen! Am Ende riet ich mich irgendwie durch.
Macbeth überforderte mich daher komplett. Ich blickte |8|gar nichts. Das ganze Wochenende über hatte ich mich mühsam durch den Text gekämpft, hatte versucht die altertümliche Sprache und die seltsamen Namen auf die Reihe zu kriegen, und die Geschichte dennoch kaum begriffen, nicht mal in ihren Grundzügen. Nun schlug ich schicksalsergeben meinen Macbeth auf und starrte auf die Zeilen: Wär ich gestorben, eine Stunde nur, /Eh dies geschah, gesegnet war mein Dasein! / Von jetzt gibt es nichts Ernstes mehr im Leben: /Alles ist Tand, gestorben Ruhm und Gnade!
Fehlanzeige, dachte ich. Nichts. Zu meinem Glück hatte Jason a) bereits Übung darin, bei Gruppenarbeiten den Ton anzugeben, und b) nicht vor, den Erfolg oder Misserfolg dieser speziellen Gruppenarbeit plus der dazugehörigen Zensur anderen zu überlassen. Er schlug sein Heft auf, holte einen Stift aus der Tasche und schraubte die Kappe ab. »Als Erstes suchen wir uns die Grundthemen des Stücks heraus«, erklärte er mir. »Dann überlegen wir uns, welches wir bearbeiten.«
Ich nickte. Unsere Klassenkameraden um uns herum schwatzten laut und angeregt, da konnte unser Englischlehrer, Mr Sonnenberg, mit matter Stimme noch sooft um Ruhe bitten.
Jason ließ die ersten paar Zeilen frei und notierte dann in ordentlichen Druckbuchstaben das Wort Mord; seine Bewegungen beim Schreiben waren rasch und präzise. Weitere Wörter folgten: Macht. Ehe. Rache. Prophezeiung. Politik. Man bekam den Eindruck, er hätte ewig so weiterschreiben können, doch unvermittelt hielt er inne und sah mich an: »Was noch?«
Erneut warf ich einen Blick auf die Seite vor mir; als könnten sich die Wörter plötzlich doch dazu durchringen, verständliche Sätze zu bilden. Ich spürte, wie Jason mich ansah. Nicht unfreundlich, nicht drängend, bloß abwartend. Dass ich auch etwas beitrug.
»Ich weiß nicht . . .«, begann ich schließlich, unterbrach mich jedoch wieder, weil die Worte am Gaumen festklebten. Schluckte, unternahm einen neuerlichen Anlauf: »Eigentlich verstehe ich nur Bahnhof.«
Ich rechnete fest damit, dass er mir daraufhin einen ähnlichen Blick zuwerfen würde wie vorhin Amy Richmond. Doch zu meiner Überraschung legte er seinen Stift auf den Tisch und fragte: »Was genau verstehst du nicht?«
»Alles«, entgegnete ich, und als er daraufhin – entgegen meiner Befürchtung – nicht die Augen verdrehte, fügte ich hinzu: »Ich meine, ich weiß, dass es einen Mordplan gibt und einen kriegerischen Angriff, aber der Rest . . . keine Ahnung. Ich finde die Geschichte so was von verwirrend.«
Er nahm den Stift wieder in die Hand. »Der Text ist nicht so kompliziert, wie du denkst«, meinte er. »Man muss mit der Prophezeiung anfangen, die ist der Schlüssel, um das Stück zu verstehen. Hör zu . . . Moment . . . hier . . .« Beim Reden blätterte er sein Macbeth-Exemplar durch, bis er auf eine bestimmte Textpassage stieß, die er mir laut vorlas. Und als sein Finger dabei von Wort zu Wort wanderte, war es, als würde er sie wie von Zauberhand verändern. Denn plötzlich ergaben die Worte einen Sinn.
Und ich fühlte mich getröstet. Endlich. Ich hatte eine Ewigkeit darauf gewartet, dass mir jemand alles, was passiert war, erklärte. Einfach nur ruhig und systematisch erklärte. Was anderes wollte ich doch gar nicht. Nur, dass alles ordentlich untereinander auf einem Blatt Papier stand, nach dem Motto: Wenn das geschieht, folgt daraus das und dann das und so weiter. Tief innen wusste ich zwar, dass es nicht so war und die Dinge viel, viel komplizierter lagen. Dennoch gab Jason mir Hoffnung. Er räumte mit dem Chaos auf, als das ich Macbeth empfand. Vielleicht war er ja in der Lage, das Gleiche für mich zu tun? Deshalb rückte ich ein wenig dichter an ihn heran und habe mich seitdem nicht mehr von dort wegbewegt.
Jason zog den Reißverschluss der Laptoptasche zu, stellte sie zu den übrigen Gepäckstücken und ließ seinen Blick ein letztes Mal prüfend durchs Zimmer wandern. »Also gut, dann mal los.«
Als wir aus dem Haus kamen, warteten seine Eltern bereits im Wagen. Mr Talbot stieg jedoch wieder aus und öffnete den Kofferraum des Volvos, damit er und Jason alles verstauen konnten. Ich setzte mich schon mal nach hinten und schnallte mich an. Mrs Talbot wandte sich mit einem Lächeln zu mir um. Sie und ihr Mann waren Dozenten an der Uni, sie für Botanik, er für Chemie. Die ultimativen Akademiker – jedes Mal wenn ich einen von den beiden ohne Buch in der Hand sah, beschlich mich das eigenartige Gefühl, ein Körperteil würde fehlen, Nase oder Ellbogen . . .
Ich versuchte diesen Gedanken aus meinem Bewusstsein zu schieben, während Mr Talbot mich fragte: »Na, Macy, was hast du für Pläne, solange Jason weg ist? Er kommt ja erst im August zurück.«
»Keine Ahnung«, antwortete ich. Ich würde Jason am Informationsschalter der Bibliothek vertreten, wo er normalerweise arbeitete, aber abgesehen davon dehnten sich die kommenden acht Ferienwochen vor mir aus wie eine Einöde. Außer Jason kannte ich zwar schon noch ein paar Leute, vor allem aus der Schülermitverwaltung. Doch die fuhren auch fast alle weg, nach Europa oder ins Ferienlager. Außerdem hatte ich, ehrlich gesagt, kaum noch Zeit für andere, seit Jason und ich zusammen waren. Es war einfach immer irgendwas: Yogastunden oder Lernen oder ich half ihm bei einer der tausend Sachen, für die er sich engagierte, und bei seinen diversen Schulsprecheraktionen. Außerdem wurde Jason leicht ungeduldig, wenn jemand keine so rasche Auffassungsgabe hatte wie er und nicht so intelligent oder interessiert an allem war; ich hatte es aufgegeben, uns mit neuen Leuten zu verabreden. Das ging leicht daneben, eben weil er schnell genervt war; deshalb fand ich es leichter, meine Zeit mit ihm allein oder mit ihm und den Leuten zu verbringen, die Jason schon kannte und die mit ihm mithalten konnten. Ich empfand das nie als Problem – so klappte es einfach am besten zwischen uns, das war alles.
Auf dem Weg zum Flughafen unterhielten Jason und sein Vater sich über irgendwelche Wahlen, die in Europa stattgefunden hatten, seine Mutter regte sich über die Baustellen auf und ich starrte den Abstand zwischen Jasons und meinem Knie an (zwei Zentimeter) und fragte mich, warum ich nicht versuchte näher an ihn ranzurücken. Fragte mich das übrigens nicht zum ersten Mal. Er hatte mich erst bei unserer dritten Verabredung geküsst und mittlerweile waren wir seit anderthalb Jahren zusammen, aber bei diesen sehr seltenen, verhaltenen Küssen oder Berührungen war es geblieben. Wir hatten bisher nicht mal darüber gesprochen, weiterzugehen, vielleicht sogar bis zum Äußersten. Anfangs war das völlig okay gewesen, denn als wir uns kennen lernten, konnte ich es kaum ertragen, umarmt zu werden. Niemand durfte mir zu nahe kommen. Alles, was ich wollte, war ein Freund, der verstand, wie ich mich fühlte, und das respektierte. Doch mittlerweile wünschte ich mir mehr. Zumindest manchmal.
Am Gate verabschiedeten wir uns. Nachdem seine Eltern ihn umarmt hatten, ließen sie uns rücksichtsvoll allein und gingen durch die Wartehalle zu dem großen Fenster, von dem aus man die Landebahnen und den weiten blauen Himmel darüber sehen konnte. Ich schlang meine Arme um Jason und atmete tief den vertrauten Duft ein: Deoroller mit sportlicher Note, Gesichtswasser gegen Akne. Atmete tief ein: kleiner Vorrat für die kommende Zeit der Trennung.
»Ich werde dich vermissen«, sagte ich. »Sehr.«
»Es sind doch bloß acht Wochen«, antwortete er.
Er küsste mich auf die Stirn. Und plötzlich, ganz schnell – so schnell, dass ich keine Zeit hatte zu reagieren –, auch auf die Lippen. Lehnte sich leicht zurück und sah mich an. Seine Hände schlossen sich etwas fester um meine Taille.
»Wir mailen, okay?« Wieder küsste er mich auf die Stirn. Sein Flug wurde aufgerufen. Er ging durch den Gang Richtung Flugzeug davon. Während ich ihm nachblickte, spürte ich ein leichtes Ziehen in der Brust. Mir stand ein langer Sommer bevor. Ich hätte mir einen richtigen Kuss gewünscht, einen Erinnerungskuss, hatte aber schon vor langer Zeit gelernt, dass man sich seine Abschiede nicht aussuchen kann. Es gibt weder Abschiedsgarantien noch -versprechen. Man kann von Glück, ja von Segen sprechen, sofern überhaupt ein Abschied stattfindet.
Ich war dabei, als mein Vater starb.
Seitdem klebte das an mir wie ein Etikett. Ich war nicht die Tochter von Deborah Queen, die hübsche Häuser in exklusiven neuen Wohnanlagen bauen ließ. Und auch nicht Macy, die Schwester von Caroline – Caroline Queen, die mit ihrer Hochzeitsfeier ins kollektive Gedächtnis eingegangen war. Meine Schwester hatte letzten Sommer im Lakeview Inn geheiratet, und es war eindeutig das rauschendste Hochzeitsfest gewesen, das dort je stattgefunden hatte. Man kannte mich nicht mal als die Macy Queen, die bei den Mittelschulwettkämpfen Rekord über fünfzig Meter gelaufen war. Nein, ich war das Mädchen, das am Tag nach Weihnachten aus dem Haus ging und mit ansah, wie sein Vater auf dem Asphalt am anderen Ende der Straße lag, während irgendein fremder Mensch verzweifelt versuchte ihn durch Herzmassage wiederzubeleben. Wieder und immer wieder drückte er auf die breite Brust des Mannes, der da am Boden lag. Ich sah meinen Vater sterben. Und so kannte man mich. Das war ich – jetzt.
Wenn sie davon erfuhren oder mich sahen und sich daran erinnerten, machten die Leute immer dieses ganz bestimmte Gesicht. Ein spezieller, trauriger Gesichtsausdruck, dazu den Kopf leicht schräg geneigt und den Mund ein wenig geöffnet, nach dem Motto: Mein Gott, wie schrecklich, das arme Mädchen! So gut gemeint das auch sein mochte – für mich war es bloß ein Zusammenspiel von Muskeln und Sehnen, das nichts bedeutete. Gar nichts. Ich hasste diesen Gesichtsausdruck. Und sah ihn überall.
Das erste Mal im Krankenhaus: Als meine Mutter aus dem kleinen Wartezimmer trat – dem, das an den Hauptwartebereich grenzt –, saß ich neben dem Wasserspender. In das kleine Wartezimmer nehmen sie die Leute mit, um ihnen die wirklich brutalen Neuigkeiten mitzuteilen; so viel hatte ich bereits mitgekriegt. Die Nachricht, dass sie nicht länger zu warten brauchen. Die Nachricht vom Tod ihres Angehörigen. Gerade noch hatte ich eine Familie bei ihrem Gang zu diesem kleinen Wartezimmer beobachtet. Zehn Schritte, einmal um die Ecke biegen – und die Grenze zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit war überschritten. Deshalb wusste ich schon Bescheid, während meine Mutter von der anderen Seite der Grenze her noch auf mich zulief. Hinter ihr tauchte eine rundliche Krankenschwester mit Klemmbrett in der Hand auf, die – als sie mich dort warten sah, in meiner Laufhose, dem weiten Sweatshirt und ausgelatschten, müffelnden Turnschuhen – sofort jenen Gesichtsausdruck aufsetzte. Ach du armes, armes Mädchen, besagte er. In dem Moment ahnte ich natürlich nicht, dass er mich von nun an verfolgen würde.
Auf der Beerdigung sah ich ihn, wohin ich auch schaute. Die Leute trugen diesen Gesichtsausdruck wie eine Maske. Als ich an den Kirchenbänken vorbeilief, erstarb das leise Gemurmel und man warf mir diskrete Seitenblicke zu. Der Gesichtsausdruck verfolgte mich zusammen mit ihren Blicken, obwohl ich den Kopf gesenkt hielt und auf das Schwarz meiner Strumpfhose sowie die Spitzen meiner Schuhe starrte. Meine Schwester Caroline, die neben mir herging, schluchzte vor sich hin, schluchzte immerzu: Während des Trauergottesdienstes, als wir die Kirche durch den Mittelgang verließen, im Wagen zum Friedhof, auf dem Friedhof, bei der Nachfeier. Sie weinte so sehr, dass es mir – selbst wenn ich gekonnt hätte – falsch vorgekommen wäre mitzuweinen. Noch eine Weinende mehr wäre einfach eine zu viel gewesen. Tränen-Overkill.
Ich fand’s ätzend. Fand ätzend, was auf der Beerdigung ablief, ätzend, dass mein Vater tot war, ätzend, dass ich an jenem Morgen zu verpennt, zu faul gewesen war, um aufzustehen, als er in seinem alten, ausgeleierten T-Shirt mit der Aufschrift Waccamaw-Fünf-Kilometer-Lauf in mein Zimmer kam und mir ins Ohr flüsterte: Wach auf, Macy, du kriegst auch einen Vorsprung. Komm, hoch mit dir, du weißt doch, die ersten paar Schritte sind die schwersten. Aber ich hatte abgewunken, mich auf die andere Seite gedreht. Ich fand’s ätzend, dass ich meine Meinung nicht zwei oder drei, sondern erst fünf Minuten später geändert hatte, erst dann aufstand, meine Laufklamotten zusammenklaubte, die Schnürsenkel meiner Turnschuhe zuband. Ich fand’s ätzend, dass ich auf diesen knapp fünfhundert Metern nicht schneller gewesen war, dass er schon nicht mehr da war, als ich ihn endlich erreichte, mein Gesicht nicht mehr sehen, meine Stimme nicht mehr hören und ich ihm nicht mehr sagen konnte, was ich ihm sagen wollte. Okay, war ich eben das Mädchen, dessen Vater gestorben war, während sie daneben hockte. Von mir aus. Alle Welt wusste es. Dass sie es wussten, konnte ich ebenso wenig kontrollieren wie vieles andere. Aber dass ich wütend war und Angst hatte, war mein Geheimnis. Und das gehörte mir. Mir ganz allein.
Als ich von den Talbots heimkam, stand auf den Stufen vor der Haustür ein Paket. Ein Blick auf den Absender und ich wusste, worum es sich handelte.
Ich trat ins Haus, ließ die Tür hinter mir zufallen. »Mama?« Meine Stimme hallte im leeren Flur wider. Im Esszimmer war bereits alles für den Cocktailempfang vorbereitet, den meine Mutter heute Abend geben würde: Blumenarrangements, stapelweise Broschüren . . . Der Bau ihrer Luxusvorstadtvillen ging gerade in Phase zwei, was bedeutete, dass sie einiges zu verkaufen hatte, was wiederum bedeutete, dass sie beim Kunden-Umgarnen ein paar Gänge zulegen musste. Und auch zugelegt hatte, wie man an dem erst vor kurzem gedruckten Schild auf dem Kaminsims erkennen konnte, auf dem unter ihrem lächelnden Gesicht der Slogan prangte: Ihr Makler heißt Queen – wir bauen Ihr neues Schloss!
Ich stellte das Paket auf die Küchentheke, ging zum Kühlschrank, schenkte mir ein Glas Orangensaft ein, trank es in einem Zug leer, hielt das Glas kurz unter den Wasserhahn, stellte es in die Spülmaschine. Aber sosehr ich auch versuchte mich abzulenken – das Paket ging mir nicht aus dem Sinn. Im Gegenteil, es hockte auf der Theke und wartete auf mich. Mir blieb gar nichts anderes übrig als die Sache hinter mich zu bringen.
Ich nahm die Küchenschere aus der Schublade und ritzte einmal längs das braune Klebeband auf. Das Paket stammte, wie alle seine Vorgänger, aus Waterville, Maine.
Sehr geehrter Mr Queen,
wir von E.I.N.fach-Produkte freuen uns, Ihnen als einem unserer treuesten Kunden heute eine unserer Novitäten zur Ansicht zusenden zu können. Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Ausprobieren und sind davon überzeugt, dass auch dieses Produkt Ihnen in Zukunft den Alltag erleichtern wird, so wie die vielen Zeit sparenden, praktischen Geräte, die Sie in der Vergangenheit bereits von uns erworben haben. Falls Sie jedoch aus irgendeinem Grund einmal nicht zufrieden sein sollten, schicken Sie die Ware bitte binnen dreißig Tagen an uns zurück. Wir werden Ihr Kundenkonto bei uns dann selbstverständlich nicht belasten.
Danke, dass Sie sich schon so oft für E.I.N.fach-Produkte entschieden haben. Falls Sie Fragen haben, rufen Sie bitte jederzeit unten stehende Nummer an. Unsere Mitarbeiter helfen Ihnen gern weiter. Unser Ziel ist es, anderen Menschen das Leben zu erleichtern, es effektiver und unkomplizierter zu gestalten – Menschen wie Ihnen, Mr Queen. Gemäß unserem Motto: E.I.N.fach ist einfach besser. Denn unser Name ist nicht nur ein Name, sondern unser Versprechen.
Hochachtungsvoll
Walter F. Tempest
Geschäftsführer
E.I.N.fach-Produkte
Waterville, Maine
Ich klappte den Paketdeckel auseinander, löffelte mit der Hand die Styroporflocken heraus und schichtete sie auf der Küchentheke zu einem ordentlichen Haufen, bis ich auf die Schachtel mit dem neuesten E.I.N.fach-Produkt stieß. Auf der Schachtel waren zwei Abbildungen und beide zeigten eine Frau in ihrer Küche. Doch auf der einen stand die Ärmste total erledigt vor einem Wust von ungefähr zwanzig länglichen Schachteln mit Wachspapier und Alufolie, die sich auf ihrer Anrichte türmten, und sah aus, als hätte sie jeden Moment einen Nervenzusammenbruch. Auf der zweiten Abbildung stand die Frau zwar immer noch neben ihrer Anrichte, doch die Schachteln waren verschwunden. Stattdessen hing an der Wand ein Plastikhalter, aus dem sie mit beiden Händen ein Stück Klarsichtfolie zog, wobei auf ihrem Gesicht der gleiche verklärte Ausdruck lag, den man ansonsten mit Madonnen assoziiert oder mit Menschen, die unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln stehen.
Sind Sie es leid, sich mit lauter einzelnen Schachteln mit Frischhaltefolie und Cellophan herumzuschlagen? In unaufgeräumten Schubladen oder Küchenschränken herumzukramen? Mit unserem neuen Folienhalter lösen Sie dieses Problem ein für alle Mal, denn Sie haben alles, was Sie brauchen, jederzeit griffbereit. Mit individuellen Spendern für Butterbrotpapier, Gefrierbeutel, Alufolie, Backpapier. Jetzt ist endlich Schluss mit dem aufreibenden Wühlen in Schubladen, um zu finden, was Sie brauchen. Ein einziger Griff, und Sie halten das Gesuchte in der Hand!
Ich legte die Schachtel vor mir auf die Küchentheke und strich mit einem Finger dran entlang. Komisch, woran man merkt, dass einem jemand fehlt. Tausend Leute auf einer Beerdigung, Unmengen Beileidspost, das gedämpfte Stimmengewirr während der Nachfeier . . . Alles konnte ich ertragen ohne zusammenzubrechen. Doch jedes Mal, wenn wieder ein Paket aus Maine ankam, zerriss es mir schier das Herz.
Mein Vater hatte diesen Kram geliebt. Er fuhr voll auf jeden Firlefanz ab, der das Leben angeblich vereinfachte. Gleichzeitig neigte er zu Schlaflosigkeit – eine fatale Kombination. Bis spät in die Nacht hockte er unten, prüfte Verträge, schrieb eine E-Mail nach der anderen und die ganze Zeit lief im Hintergrund der Fernseher. Unweigerlich kam dann irgendwann irgendein Info-Werbespot, der ihn sofort wie magisch anzog. Fasziniert verfolgte er den aufgekratzten, künstlichen Dialog zwischen dem Anpreiser und demjenigen, dessen Produkt angepriesen wurde; sah wie gebannt bei der praktischen Demonstration des betreffenden neuen Geräts sowie der Präsentation der Prämien zu, die man zusätzlich bekommen würde, sofern man sich entschloss sofort anzurufen und zu bestellen. Doch da hielt er auch bereits den Hörer in der einen Hand und zückte mit der anderen seine Kreditkarte.
Wenn ich auf einer nächtlichen Wanderung in die Küche zufällig vorbeikam, sagte er zu mir: »Also, das nenne ich mal eine echte Neuerung!« Und seine Stimme überschlug sich vor lauter Kaufvorfreude.
Für »echte Neuerungen« hielt mein Vater beispielsweise: Die spezielle Spezialsammlung von Grußkarten für meine Mutter, die Karten für jeden erdenklichen Feiertag von Kwanzaa bis Lichtmess enthielten, allerdings keine einzige Weihnachtskarte. Oder den Plastikapparat, der einer kleinen Bärenfalle ähnelte und mit dessen Hilfe man sich angeblich die perfekte Hochsteckfrisur machen konnte – was dazu führte, dass wir ihn aus meinen Haaren rausschneiden mussten, weil sich das Teil hoffnungslos darin verheddert hatte. Der Rest der Familie lief zwar schreiend davon, wenn wieder ein E.I.N.fach-Produkt bei uns auftauchte, mein Vater ließ sich dadurch jedoch weder beirren noch erschüttern. Unser Spott perlte an ihm ab. Er liebte das Potenzial dieser abstrusen Gegenstände, die Möglichkeiten, die einem dadurch verheißen wurden, und behandelte jedes einzelne Teil so, als hielte er damit die konkrete Antwort auf existenzielle Fragen in Händen, Fragen wie Warum leben wir? oder Gibt es einen Gott?. Fragen, um deren Antwort sich die Menschheit seit ewigen Zeiten vergeblich bemühte.Doch sofern die Frage Gibt es eine Zahnbürste, die gleichzeitig als Mundwasserspender funktioniert? lautete, erhielt zumindest mein Vater endlich eine eindeutige, eine klare Antwort: Ja. Ja, ohne jeden Zweifel.
»Schau dir das an!«, sagte er und in seinem Ton schwang eine solche Begeisterung mit, dass man ihn dafür nur knuddeln konnte, sogar wenn man selbst alles andere als begeistert war. Aber das war typisch für meinen Vater. Er hatte seinen Spaß an den Dingen und das hatte etwas Ansteckendes. »Gib zu, das ist eine großartige Erfindung!« Mit diesen Worten präsentierte er einem: feuchtigkeitsabsorbierende Untersetzer aus Schwamm, ein sprechendes Diktiergerät, eine Kaffeemaschine mit Fernbedienung. »Erstaunlich, was? Die meisten Menschen kämen gar nicht erst auf die Idee, dass man sich so etwas überhaupt ausdenken kann!«
Mir blieb bei so viel ungebremstem, fast naivem Enthusiasmus gar nichts anderes übrig als von klein auf eine ähnlich begeisterte Reaktion zu entwickeln: zustimmender, staunender Gesichtsausdruck kombiniert mit eifrigem Nicken. Meine Schwester dagegen, die Melodramatikerin unserer Familie, konnte sich nicht einmal zu einem schwachen Lächeln durchringen, sondern schüttelte jedes Mal bloß den Kopf: »Mensch, Papa, wann hörst du endlich auf, dauernd diesen Mist zu bestellen?« Meine Mutter versuchte immerhin sich auf seine Marotten einzulassen; als die Kaffeemaschine mit Fernbedienung uns ereilte, räumte sie sogar ihre Super-Espressomaschine weg – bis wir mitkriegten, dass die Frequenz der Fernbedienung durch das Babyfon unserer Nachbarn gestört wurde, worauf die Kaffeemaschine sich eigenständig einschaltete und uns um drei Uhr früh weckte, weil der Geruch nach frischem Kaffee durchs Haus zog. Des Weiteren erduldete meine Mutter den Papiertaschentuchspender, den er auf dem Armaturenbrett ihres BMWs installierte (Riskieren Sie keine Unfälle mehr, nur weil Sie nach einem Tempotaschentuch suchen müssen!), duldete das Teil sogar noch, nachdem es sich bei einer Autobahnfahrt aus der Halterung gelöst hatte, sie an der Stirn traf und ihr Wagen fast auf die Gegenfahrbahn geschleudert worden wäre, weil sie sich so erschrocken hatte, dass sie das Lenkrad herumriss.
Auf den Tod meines Vaters reagierten wir sehr unterschiedlich. Meine Schwester schien die Trauer für uns drei in sich zu vereinen, wie ein Schwamm aufzusaugen und wieder von sich zu geben, denn sie weinte so sehr und so viel, dass sie vor unseren Augen zu schrumpfen schien. Ich saß still, beherrscht und wütend in der Ecke und weigerte mich meinem Kummer freien Lauf zu lassen, weil ich das Gefühl hatte, dann bloß das zu tun, was alle von mir erwarteten. Und meine Mutter fing an aufzuräumen.
Zwei Tage nach der Beerdigung wirbelte sie mit einer Energie durchs Haus, die so stark und intensiv war, dass einem die Zähne klapperten. Ich stand im Türrahmen meines Zimmers und sah zu, wie sie sich berserkerartig durch den Wäscheschrank auf dem Flur wühlte und alles Unbrauchbare (verschlissene Waschlappen, Spannbettlaken für Betten, die längst auf den Sperrmüll gewandert waren, und Ähnliches) aussortierte. Und weiter ging’s, in die Küche, wo alles in den Müll wanderte, das zu nichts anderem mehr passte: ein einsames Marmeladenglas, ein rustikaler Teller, den wir bei einem Weihnachtsessen in einem ebenso rustikalen Landgasthaus als Andenken geschenkt bekommen hatten, und dergleichen mehr. Rastlos wanderte sie durch das ganze Haus, zog einen großen Müllsack hinter sich her und pfefferte so viele Sachen hinein, dass es nur so schepperte und krachte, bis der Sack zu voll und schwer war, um ihn noch hinter sich herzuziehen. Nichts war vor ihr sicher. Eines Tages entdeckte ich bei meiner Rückkehr aus der Schule, dass sie sich auch meinen Kleiderschrank vorgenommen hatte, denn sämtliche Klamotten, die ich seit längerem nicht mehr getragen hatte, waren verschwunden. Spätestens in dem Moment dämmerte mir, dass es keinen Sinn hat, sein Herz zu sehr an irgendetwas zu hängen; denn kaum drehst du dem Ding – wer oder was auch immer es ist – den Rücken, hast du es schwuppdiwupp auch schon wieder verloren.
Die Lieferungen von E.I.N.fach-Produkte fielen ihrer Aufräumwut als Letztes zum Opfer. An einem Samstagmorgen, etwa eine Woche nach der Beerdigung, stand meine Mutter schon um sechs auf und stapelte alles Mögliche in unserer Auffahrt, weil sie für den Tag eine karitative Einrichtung zu uns bestellt hatte, die solchen Krempel abholte und weiterverwertete. Um neun hatte sie unsere Garage fast vollständig leer geräumt: das alte Laufband, Gartenstühle, ganze Kartons voll unbenutzten Weihnachtsschmuck . . . Bisher hatte ich ihre radikalen Aktionen vor allem ihretwegen zunehmend nervös verfolgt, doch allmählich galt meine Sorge nicht mehr nur ihr. Denn was würde wohl geschehen, wenn alles aufgeräumt und aussortiert war und nur noch eine unerledigte Sache übrig blieb: wir!
Ich lief über den Rasen vor unserem Haus zur Auffahrt, vorbei an einer Farbdosenpyramide (übrigens Dosen, die nie geöffnet worden waren). Meine Mutter beugte sich gerade über einen Karton mit Stofftieren.
»Wirfst du das alles weg?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete sie. »Falls du irgendwas behalten möchtest, musst du schnell sein.«
Ich betrachtete den ganzen Kram, der zu meinem Leben gehört hatte, als ich klein war: ein rosa Fahrrad mit weißem Sattel, ein kaputter Plastikschlitten, ein paar Schwimmwesten aus dem Boot, das wir schon vor Jahren verkauft hatten. Kein Gegenstand bedeutete irgendetwas, jeder Gegenstand war wichtig. Ich hatte keinen Schimmer, was ich nehmen sollte, da entdeckte ich den Karton mit dem E.I.N.fach-Kram. Obenauf lag zusammengeknüllt das sich selbst erwärmende Handtuch, welches mein Vater nur wenige Wochen zuvor zu einem »Wunder der Technik« ernannt hatte. Behutsam nahm ich es heraus, rieb das dünne Material zwischen meinen Fingern.
»Ach Macy.« Meine Mutter blickte mich stirnrunzelnd an. Über den Rand des Kartons vor ihr lugte der Kopf einer Giraffe, die mal, glaube ich, meiner Schwester gehört hatte. »Den Ramsch willst du doch nicht im Ernst behalten, oder?«
»Alles Schnickschnack, ist mir klar«, sagte ich.
In dem Moment bogen die Typen vom Sozialdienst in unsere Auffahrt ein. Lautes Hupen. Winkend und gestikulierend half meine Mutter ihnen beim Rückwärtseinparken. Zeigte ihnen dann die diversen Stapel und Kartons, die sie bitte einladen sollten. Während sie mit ihnen redete, dachte ich darüber nach, wie viele Male pro Tag sie wohl bei Leuten, die – genau wie wir – angerufen hatten, vorbeifuhren und wie es ihnen dabei erging. War es anders, wenn sie etwas abholen sollten, weil jemand gestorben war? Oder machte es in ihren Augen keinen Unterschied? Nach dem Motto: Müll ist Müll.
»Und bitte nichts vergessen«, rief meine Mutter den Männern zu, bevor sie über die Wiese aufs Haus zuging. »Warten Sie, ich hole schnell mein Scheckheft, ich würde Ihnen gern eine kleine Spende mitgeben.«
Die beiden Männer nickten und nahmen sich als Erstes das Laufband vor, packten jeder an einem Ende an. Meine Mutter verschwand im Haus.
Ich stand still zwischen all dem Krempel, während die zwei Männer alles in ihren Wagen luden. Als Letztes wollten sie gerade den künstlichen Weihnachtsbaum holen, da deutete der eine von den beiden, ein kleiner Rothaariger, mit dem Kinn auf den Karton zu meinen Füßen.
»Den auch?«, fragte er.
Ich wollte schon nicken. Doch dann fiel mein Blick noch einmal auf das Handtuch und die anderen Sachen. Eine Erinnerung stieg in mir auf, glasklar und deutlich: Wie aufgeregt mein Vater jedes Mal gewesen war, wenn wieder so ein Paket ankam. Er lief dann durchs ganze Haus, schaute ins Esszimmer, ins Wohnzimmer, in die Küche, um eine von uns zu finden, der er erzählen konnte, wie sehr er sich freute. Ich hörte ihn immer schon kommen, seine Schritte im Flur, und war froh, wenn ich diejenige war, die er als Erste fand und mit seiner Begeisterung ansteckte.
»Nein.« Ich hob den Karton hoch. »Das gehört mir.«
Ich trug den Karton in mein Zimmer, stellte einen Stuhl vor meinen Wandschrank und mich drauf. Über dem obersten Regalbrett befand sich eine Klappe zum Speicher; die öffnete ich und schob den Karton in die Dunkelheit dahinter.
Weil mein Vater nicht mehr da war, gingen wir automatisch davon aus, dass auch unser Kontakt zu E.I.N.fach-Produkte beendet sein würde. Doch etwa einen Monat nach der Beerdigung flatterte uns ein neues Paket ins Haus, Inhalt: ein Stift mit integriertem Klammerhefter. Wir dachten uns nichts weiter dabei. Bestimmt handelte es sich um seine letzte Bestellung, um etwas, das er sich noch kurz vor seinem Herzinfarkt ausgesucht hatte. Aber im folgenden Monat wurde ein dekorativer Kunstfelsen mit integrierter Rasensprengvorrichtung geliefert. Als meine Mutter anrief, um sich zu beschweren, entschuldigte sich die Dame am anderen Ende der Leitung tausendmal und erklärte, weil er so viel und so regelmäßig bei E.I.N.fach-Produkte bestellt habe, hätten sie meinen Vater auf ihre VIP-Liste für besonders treue Kunden gesetzt, was bedeute, dass er monatlich ein brandneues Produkt zur Ansicht und ohne jegliche Kaufverpflichtung erhalte. Aber natürlich werde man ihn umgehend von der Liste streichen, gar kein Problem und bitte nochmals um Entschuldigung.
Allerdings ereilte uns nach wie vor pünktlich jeden Monat ein Paket mit der neuesten Errungenschaft aus dem Hause E.I.N.fach, sogar noch nachdem wir längst die Einzugsermächtigung widerrufen hatten. Ich hatte dazu so meine eigene Theorie, über die ich allerdings, wie über so vieles andere, mit niemandem sprach. Mein Vater war am Tag nach Weihnachten gestorben; die Geschenke waren also entweder weggeräumt oder bereits in Gebrauch. Meiner Mutter hatte er ein Diamantarmband geschenkt, meiner Schwester ein Mountainbike, aber mir – außer einem Pullover und ein paar CDs – »nur« einen Gutschein. Auf der goldenen Karte stand in seiner typischen Krakelschrift: Da kommt noch was. Bald. Während ich las, nickte mein Vater mir beruhigend zu. »Ich bin diesmal ein bisschen spät dran mit meinem Geschenk«, sagte er, »doch dafür wird es dir bestimmt gut gefallen.«
Und ich nickte, denn ich wusste, es würde mir gefallen, sogar sehr, weil mein Vater mich kannte und weil er einfach wusste, was mich glücklich machte. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass ich als kleines Mädchen jedes Mal losgeplärrt hatte, wenn er sich auch nur für eine Minute aus meinem Gesichtsfeld bewegte, oder nicht zu beruhigen war, wenn irgendwer anders als er mir mein Lieblingsessen machte, nämlich die 08 / 15-Instant-Käsemakkaroni, die man in jedem Supermarkt in der Dreierpackung für einen Dollar bekommt und die mit ihrem leuchtenden Orange so irrsinnig künstlich aussehen.
Wir hingen sehr aneinander, mein Vater und ich, nicht nur emotional. Manchmal hatte ich fast das Gefühl, wir wären seelenverwandt oder es bestünde eine Art geheime Verbindung zwischen uns. Bis zum allerletzten Tag, als ich – kaum fünf Minuten, nachdem er versucht hatte mich aus den Federn zu kriegen – aus dem Bett schoss, als hätte mich jemand gerufen. Vielleicht war das ja genau der Moment, in dem der höllische Schmerz sich in seiner Brust ausbreitete. Ich werde es niemals erfahren.
In den ersten Tagen nach seinem Tod fiel mir der Gutschein ein paar Mal ein und ich überlegte, was er mir wohl hatte schenken wollen. Obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass es sich nicht um ein E.I.N.fach-Produkt gehandelt hätte, fand ich es irgendwie tröstlich, dass die Pakete aus Waterville, Maine, weiter an uns geliefert wurden. Als würde er sich Monat für Monat bei mir melden, um sein Versprechen zu halten.
Deshalb holte ich jedes Paket, das meine Mutter wegwarf, wieder aus dem Müll, brachte es in mein Zimmer und legte es zu meiner ständig wachsenden Sammlung. Ich probierte keins der Produkte je aus, las immer nur die flammenden Beschreibungen auf den Verpackungen und stellte mir dabei vor, wie das Teil funktionierte. Das genügte mir. Es gab viele Möglichkeiten, meinen Vater in Erinnerung zu behalten. Ich vermute, diese hätte ihm besonders gut gefallen.