»Wisst ihr was«, sagte ich ungefähr zum hundertsten Mal, seit ich etwa zwei Stunden zuvor bei Kristy und Monica zu Hause angekommen war. »Ich glaube, ich fahre jetzt besser heim.«
»Macy!« Kristy stand vor dem Spiegel und bewunderte sich in Seitenansicht: kurzer roter Rock, schwarzes Spaghettiträgertop und ein Paar hochhackige Sandalen, für die man einen Waffenschein gebraucht hätte. »Ich habe dir doch gesagt, du verpflichtest dich zu gar nichts, wenn du mitkommst. Wir gehen bloß mit ein paar netten Typen aus, sonst nichts. Jetzt mach nicht so einen Aufstand.«
Aha, so lautete also ihre neueste Version des Plans für den heutigen Abend. Jedes Mal wenn ich einen Rückzieher machen wollte, beschrieb Kristy – was ganz schön auffällig war – die Aktion als noch einen Tick harmloser, unverbindlicher. Es ging um Folgendes: Vor ein paar Tagen, als Wish Catering eine Veranstaltung auszurichten hatte, bei der ich nicht dabei sein konnte, weil es sich mit meinem Job in der Bibliothek überschnitten hätte, hatten Monica und Kristy zwei Jungs kennen gelernt, die zwar nicht direkt in Kristys Kategorie ›Supertyp‹ fielen, aber doch zumindest, wie sie meinte, »viel versprechend« wirkten. Weil beide als Pizzaboten arbeiteten, konnte man sich mit ihnen erst zu einer Zeit verabreden, zu der Kristy und Monica normalerweise längst daheim sein mussten. Deshalb mussten wir warten, bis Stella vor dem Fernseher eingenickt war, und uns dann heimlich rausschleichen. Dass ich mit von der Partie sein sollte, hatte sich erst am Nachmittag entschieden; allerdings hatte Kristy es zunächst so dargestellt, als sollte ich doch bitte vorbeikommen und bei ihnen übernachten. Erst als ich – im festen Glauben, wir würden uns einen gemütlichen Abend bei ihnen daheim machen – gegen sieben ankam, eröffnete Kristy mir, dass ihre Typen einen dritten Kerl mitbringen würden und die Schwestern gebeten hatten im Gegenzug ein drittes Mädchen anzuschleppen.
»Und ich habe dir gesagt, ich bin nicht interessiert –«
Ausgerechnet Monica unterbrach mich: »Jetzt!« Sie saß am Fenster, wollte sich eigentlich eine Zigarette anzünden und zeigte auf irgendetwas draußen vor dem Haus, das ich nicht sehen konnte. Augenblicklich lief Kristy zu ihr, stellte sich hinter ihren Stuhl, beugte sich etwas vor, damit sie besser sehen konnte, und fuchtelte gleichzeitig mit den Armen, damit ich mich zu den beiden gesellte.
»Was ist denn los?«, fragte ich und spähte über Monicas Kopf hinweg durch das Fliegengitter. Es war schon fast dunkel. Alles, was ich sehen konnte, waren die letzten Strahlen des Sonnenuntergangs und ein Stück von Stellas Garten: ein paar Salatreihen, ein Beet mit Lilien, ein schmaler Weg in der Mitte.
»Einen Moment noch«, flüsterte Kristy. »Es passiert jeden Abend ungefähr um die Zeit.«
Ich rechnete damit, gleich einen besonderen Vogel zu sehen. Oder eine Blüte, die sich nur in der Dunkelheit entfaltet. Doch zunächst sah ich gar nichts, sondern hörte nur etwas. Ein leises, hämmerndes Geräusch, das mir bekannt vorkam; dennoch konnte ich es im ersten Moment nicht einordnen. Dabei wusste ich genau, was es war. Es war –
»Mmm-hmmm«, murmelte Monica, als Wes in Sicht kam. Er joggte mit raschen, regelmäßigen Schritten über den Gartenweg und blickte dabei konzentriert geradeaus. Er trug Shorts und Schuhe, sonst nichts. Auf seinem gebräunten Oberkörper glitzerte der Schweiß.
Kristy neben mir seufzte sehnsüchtig. Der Seufzer dauerte ewig und hörte erst auf, als Wes zwischen ein paar Bäumen verschwunden und um eine Ecke gebogen war, hinter der in leichter Entfernung sein Haus lag, dessen Umrisse gerade noch zu erkennen waren.
»Du lieber Gott.« Kristy fächelte sich mit einer dramatischen Geste Luft zu. »Das habe ich bestimmt schon eine Million Mal gesehen. Aber ich kann nicht genug davon kriegen. Dieser Anblick ist so . . . er ist immer wieder wie neu.«
Monica nickte zustimmend.
»Was habt ihr denn bloß auf einmal?«, fragte ich. »Das ist doch bloß Wes.«
»Du sagst es.« Kristy kehrte zum Spiegel zurück und beugte sich vor, um ihr Dekolleté zu inspizieren. »Es hat nicht viele Vorteile, in der Pampa zu wohnen. Aber das ist definitiv einer davon.«
Ich schüttelte irgendwo zwischen belustigt und entnervt den Kopf und setzte mich aufs Bett. Monica zündete sich nun endlich ihre Zigarette an und streckte den Arm aus dem Fenster; spiralförmig stieg der Rauch außen an den Fensterläden hoch.
»Zierst du dich deshalb so sehr wegen heute Abend?« Kristy ließ sich neben mich aufs Bett plumpsen und warf einen prüfenden Blick durch die offen stehende Tür den Flur entlang, wo man Stella im Wohnzimmer sitzen sehen konnte. Sie war fast sofort weggedämmert, als sie es sich vor etwa einer Stunde vor dem Fernseher bequem gemacht hatte. Und inzwischen machte sie tatsächlich den Eindruck, als schliefe sie tief und fest.
»Was meinst du?«
Kristy deutete mit dem Kinn Richtung Fenster. »Unser Wesley. Zwischen euch läuft doch was, oder? Mir ist zwar nicht klar, was, aber ihr spielt permanent dieses komische Spiel und –«
»Was da läuft, nennt man Freundschaft«, erwiderte ich. »Und es hat mit meiner Meinung über deine Pläne heute Abend nicht das Geringste zu tun. Du weißt doch, wie es ist. Jason und ich, wir sind nicht richtig zusammen, aber richtig vorbei ist es auch nicht. Ich habe momentan kein Interesse daran, irgendwelche neuen Typen kennen zu lernen.«
»Bis auf Wes«, sagte Kristy stur, weil sie wohl fand, das klarstellen zu müssen.
Ich warf ihr einen Blick von der Seite zu. »Das ist etwas ganz anderes. Schließlich ist er genauso liiert wie ich. Und das bedeutet, wir können einfach befreundet sein, ohne dass es für irgendjemanden komisch wäre oder so was.«
Kristy blickte mich an, als hätte sie soeben eine Erleuchtung gehabt. »Natürlich!« Sie schlug sich mit der Hand vor den Mund. »Jetzt kapier ich.«
»Was?«
Statt zu antworten beugte sie sich weit über die Bettkante und kramte eine Zeit lang unter ihrem Bett herum. Ich konnte hören, wie Sachen gegeneinander klirrten und rumpelten. Was um alles in der Welt bewahrte sie da unten auf? Doch als ich Monica einen fragenden Blick zuwarf, zog diese bloß die Schultern hoch und atmete tief den Rauch aus, den sie inhaliert hatte. Endlich tauchte Kristys Kopf wieder oberhalb der Bettkante auf.
»Du und Wes«, verkündete sie triumphierend, »seid genau wie die beiden!«
Sie hielt ein dickes Taschenbuch in der Hand, ganz unverkennbar einen gewaltigen Schundroman mit dem Titel VERBOTEN, der in großen goldenen Lettern über der Abbildung eines Mannes im Piratenkostüm, Augenklappe und alles inklusive, auf dem Umschlag prangte. Der Pirat hielt eine sehr kleine Frau mit sehr großen Brüsten an sich gepresst. Im Hintergrund: eine einsame Insel mitten im tiefblauen Ozean.
»Wir sind Piraten?«, fragte ich.
Kristy klopfte mit dem Fingernagel auf das Buch. »In der Geschichte geht es um zwei Leute, die wegen der Umstände, in denen sie leben, nicht zusammenkommen können. Trotzdem lieben sie einander wie wahnsinnig; es kommt alles vor, der ganze Herzschmerz mit allem Drum und Dran. Natürlich alles heimlich, aber gerade weil sie sich nicht lieben dürfen, weil es verboten ist, ist ihre Liebe umso leidenschaftlicher.«
»Hast du dir das gerade ausgedacht?«
»Nein.« Kristy drehte das Buch um, überflog den Klappentext. »In der Zusammenfassung steht es auch. Bei Wes und dir läuft es genauso. Weil ihr nicht zusammen sein könnt, wollt ihr zusammen sein. Und ihr dürft es niemals zugeben, denn dann wäre eure Liebe ja nicht mehr heimlich und entsprechend weniger leidenschaftlich.«
Ich verdrehte die Augen. Monicas »Mmm-hmmm« dagegen klang, als leuchtete Kristys Erklärung ihr vollkommen ein.
Kristy legte das Buch zwischen uns aufs Bett. »Ich gebe zu, eine unerfüllte Liebe ist besser als eine reale«, meinte sie wehmütig und verschränkte nachdenklich die Arme vor der Brust. »Ich meine, so eine Liebe ist perfekt.«
»Nichts ist perfekt«, sagte ich.
»Nichts, was in Wirklichkeit existiert«, hielt sie dagegen. »Doch solange es nicht mal richtig losgegangen ist, braucht man sich keine Sorgen darüber zu machen, wie es eventuell enden könnte. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt, die Zukunft steht einem weit offen.« Kristy stieß einen Seufzer aus, der genauso klang wie vorhin, als sie Wes mit nacktem Oberkörper hatte vorbeijoggen sehen: lang, inbrünstig, sehnsüchtig. »Sehr romantisch. Kein Wunder, dass du nicht mit Sherman ausgehen willst.«
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, weil ich über das nachdachte, was sie gesagt hatte. Erst bei den letzten Worten horchte ich auf. »Sherman?«
Kristy nickte. »So heißt der Freund von John und Craig. Er wohnt in Shreveport und ist auf Besuch da.«
»Sherman aus Shreveport, hm?«, meinte ich. »Mit so einem willst du mich also verkuppeln?«
»He, du kannst ein Buch doch nicht nur nach dem Cover beurteilen«, antwortete Kristy leicht beleidigt. Und als ich daraufhin einen viel sagenden Blick auf VERBOTEN warf, schnappte sie sich das Buch und schob es wieder unters Bett. »Du weißt genau, was ich meine. Vielleicht ist Sherman ja richtig nett.«
»Bestimmt ist er das«, antwortete ich. »Trotzdem interessiert er mich nicht.«
Kristy sah mich forschend an. »Natürlich nicht«, meinte sie nach einer Pause. »Warum auch? Schließlich hast du ja deinen eigenen, von aller Welt missverstandenen, sexy Piraten namens Silus Branchburg Turlock, nach dem du dich heimlich verzehren kannst.«
»Wen?«
»Ach, vergiss es.« Sie stand auf, rauschte ab und kurze Zeit später fiel die Badezimmertür mit einem vernehmlichen Knall ins Schloss. Ich warf einen Blick zu Monica rüber. Sie starrte – wie immer mit vollkommen unbewegtem Gesicht – in die Nacht.
»Sherman aus Shreveport.« Wenn man es laut aussprach, klang es noch alberner.
»Lass stecken.« Monica atmete tief und langsam aus.
»Allerdings.«
Trotzdem schlich ich mich um Viertel nach zehn – als John, Craig und Sherman aus Shreveport in geheimer Mission vor dem Hexenhaus vorfuhren und nur einmal kurz verschwörerisch die Scheinwerfer aufleuchten ließen – hinter Kristy die Verandastufen hinunter, während Monica leise die Tür hinter uns zuzog. Stella rührte sich nicht. Wir liefen auf den Wagen zu. Der Typ auf dem Beifahrersitz stieg aus, um Monica zu begrüßen. Kristy winkte dem Fahrer zu, der zurückwinkte und sich ebenfalls aus seinem Sitz schälte. Auf der Rückbank saß auch jemand, dessen Gesicht ich allerdings nicht erkennen konnte. Ich nahm nur eine Gestalt wahr, die an der Fensterscheibe lehnte.
Kristy wandte sich mir zu und sagte im Flüsterton: »Deine letzte Chance, es dir anders zu überlegen.«
»Tut mir Leid«, antwortete ich. »Vielleicht beim nächsten Mal.«
Was sie mir nicht abkaufte, denn sie schüttelte bloß den Kopf und klemmte sich ihre Handtasche fester unter den Arm. »Du verpasst was, nicht ich«, meinte sie. Dennoch fasste sie mich kurz am Arm, bevor sie näher an den Wagen herantrat. »Ruf mich morgen an.«
»Mach ich«, versprach ich.
Der Typ, der am Steuer gesessen hatte, lächelte ihr entgegen und öffnete die Tür hinter seiner. »Pass ein bisschen auf, wegen Sherman«, meinte er, als Kristy gerade einsteigen wollte. »Er hat seinen Feierabend bereits vor ein paar Stunden eingeläutet und ist schon ziemlich weg vom Fenster.«
»Bitte?«, fragte Kristy.
»Keine Panik.« Der Typ setzte sich wieder ans Steuer. »Wir sind uns ziemlich sicher, dass er schon alles wieder ausgekotzt hat, was er intus hatte. Dürfte also nichts mehr passieren.«
Kristy warf erst einen Blick auf die zusammengesunkene Gestalt neben sich, dann zu mir rüber. Ich hob bloß die Augenbrauen. Achselzuckend zog sie die Tür hinter sich zu und winkte mir zum Abschied durchs Fenster zu, während das Auto rückwärts die Auffahrt hinuntersetzte und Richtung Straße entschwand. Leise tuckerte der Motor in der Dunkelheit davon.
Alles in Stellas Garten fühlte sich so lebendig an. Es war, als könnte man spüren, wie alles wuchs, angefangen bei den leuchtend weißen Blüten, die mir von den Ranken über meinem Kopf zuwinkten, bis zu den kompakten, niedrigen Beerenbüschen, die den Gartenweg wie kleine Felsen säumten. Ich lief aufs Geratewohl weiter, vorbei an büschelweise Zinien, Petunien, einer Ansammlung Rosenbüsche, unter denen das Gras mit zerbrochenen kleinen weißen Eierschalen gesprenkelt war. Rechts von mir sah ich zwar das Dach des Hexenhäuschens und zu meiner Linken die Straße. Dennoch kam es mir so vor, als würde der Garten in seinem üppigen Wuchern, seiner Dschungelartigkeit beides an den Rand meines Sichtfelds drängen; als würden die Pflanzen sich um einen herum zusammenschließen, sobald man den Garten betreten hatte, sich dicht an den herandrängen, der darin herumspazierte, um ihn festzuhalten.
Vor mir schimmerte etwas im Mondschein, das sich mitten auf einer kleinen Lichtung befand, eingerahmt von Kletterrosen, deren Blüten im Nachtwind leise wippten. Ich trat durch eine Öffnung in der Rosenhecke und stand vor beziehungsweise hinter einer Skulptur. Eine Frauengestalt. Die Arme hielt sie weit ausgestreckt, die Handflächen wiesen gen Himmel; über ihre Handflächen hingen dünne, biegsame Rohre herab, deren Enden sich in sanften Wellen nach unten bogen. Ich stellte mich so, dass ich die Figur von vorn betrachten konnte. Als ich meinen Kopf etwas in den Nacken legte, um besser an ihr hochschauen zu können, sah ich, dass auch der Kopf mit ähnlich dünnen, in sich verdrehten Rohren bedeckt und von einer Art Kranz aus demselben Material gekrönt war. Natürlich handelte es sich um eine von Wes’ Skulpturen, so viel stand auf den ersten Blick fest. Dennoch war irgendetwas anders als sonst. Was das war, kapierte ich allerdings erst, als ich merkte, dass an jedem einzelnen Rohr, sowohl an denen auf dem Kopf als auch an den Händen, ja selbst an den Rohren, welche die Haare darstellten, ein Dichtungsring befestigt war, in dem wiederum ein kleines Stück Metall steckte. Blumen! Jedes Rohr stellte eine Blume dar. Noch einmal wanderten meine Augen von oben bis unten über die gesamte Statue, von dem Geflecht an ihrem Kopf, in dem das Mondlicht glänzte, bis zu den Füßen, mit denen die Figur fest auf dem Boden stand. Und endlich begriff ich, dass es sich um Stella handelte. Eine Skulptur, die symbolisierte, was Stella tat: aus dem dicken, lehmigen Boden durch die Arbeit ihrer Hände Blume für Blume, Blüte für Blüte zu zaubern.
»Macy?«
So sehr hatte ich mich in meinem Leben noch nicht erschreckt. Und wer mich da erschreckte, hatte es noch nie so raffiniert eingefädelt. Es war die ultimative Erschreck-Aktion. Nur zu verständlich also, dass mein Herz einen Riesensatz machte und ich laut aufschrie, und zwar gleich zweimal. Denn ein paar Spatzen, die mein Erschrecken erschreckt hatte, flatterten so unvermittelt vom Fuß der Skulptur auf, dass ich gleich noch einmal erschrak mit allem Drum und Dran. Aufgeregt zwitschernd flogen die Spatzen zwischen den Rosenbüschen umher und entschwanden schließlich in die Dunkelheit.
»Ups«, sagte ich und schluckte hart. »Du meine Güte!«
»Wow«, meinte Wes. Er stand, die Hände in den Hosentaschen, am Rand des Gartenwegs. »Du hast geschrien wie in einem Horrorfilm.«
»Du hast mich ja auch zu Tode erschreckt!«, antwortete ich. »Was schleichst du nachts hier draußen im Dunkeln herum und lauerst nichts ahnenden Spaziergängern auf?«
»Ich bin weder rumgeschlichen noch habe ich dir aufgelauert«, entgegnete er. »Seit du auf die Lichtung gekommen bist, habe ich versucht dich anzusprechen. Was meinst du, wie oft ich dich gerufen habe?«
»Hast du nicht.«
»Doch, ehrlich.«
»Stimmt nicht«, hielt ich dagegen. »Du hast dich klammheimlich an mich rangeschlichen, um mich absichtlich zu erschrecken. Und das ist dir gelungen, du kannst also zufrieden sein.«
»Nein«, antwortete er bedächtig, als wäre ich ein Kleinkind, das einen total ungerechtfertigten Tobsuchtsanfall hatte. »Ich wollte gerade los, da sah ich, wie du deine Tasche in dein Auto gelegt hast. Ich habe dich gerufen, aber du hast mich einfach nicht gehört.«
Ich blickte zu Boden. Mein Herz schlug allmählich wieder etwas langsamer. Wind kam auf. Die Blumen hinter Wes neigten sich mal in die eine, mal in die andere Richtung. Über mir hörte ich ein Surren. Ich blickte auf. Je stärker der Wind blies, umso mehr drehten sich die Blumen in der Hand der Figur, schneller und immer schneller. Auch der Kranz auf ihrem Kopf setzte sich wie ein Karussell in Bewegung.
Wes und ich sahen dem Tanz der Skulptur gemeinsam zu, bis der Wind wieder nachließ. »Echt, du hast mich total erschreckt«, wiederholte ich überflüssigerweise. Mittlerweile war es mir nur noch peinlich.
»Das wollte ich nicht.«
»Weiß ich.«
Alles beruhigte sich nach und nach: mein Herz, die Blumen in den Händen der Figur und in dem Kranz auf ihrem Kopf, sogar die Spatzen, die sich in Scharen auf der Rosenhecke hinter mir niedergelassen hatten und darauf warteten, endlich wieder nach Hause zu können. Den Gefallen tat ich ihnen gern und verließ die Lichtung. Wes bog einen Zweig beiseite, damit ich leichter durch die Hecke zu ihm auf den Gartenweg treten konnte.
»Lass es mich wieder gutmachen«, sagte er, während er mir über den schmalen Pfad folgte.
»Brauchst du nicht«, antwortete ich.
»Schon klar. Ich will aber. Und ich weiß auch schon, wie.«
Ich wandte mich zu ihm um. »Ach?«
Er nickte. »Komm einfach mit. Auf geht’s.«
Man kann sich auf vielerlei Art entschuldigen. Mit Diamanten, Pralinen, Blumen. Oder auch indem man es schlicht und einfach ernst meint mit der Entschuldigung, sie wirklich aufrichtig empfindet. Doch einen Stift, der nach Sirup roch, hatte ich noch nie zuvor bekommen, wenn sich jemand bei mir entschuldigen wollte. Ich muss zugeben: Es wirkte.
»Okay«, sagte ich. »Ich verzeihe dir.«
Wir saßen im Waffelcafé, einem kleinen, orange gestrichenen Gebäude direkt an der Schnellstraße, an dem ich in meinem Leben bestimmt schon tausendmal vorbeigefahren war, ohne dass es mir je in den Sinn gekommen wäre, anzuhalten und hineinzugehen. Vielleicht lag es an den riesigen Lastwagen – ein paar parkten eigentlich immer davor – oder an dem uralten, von der Sonne ausgeblichenen Schild, auf dem in schwarzen Buchstaben IMMER HEREIN MIT DER GANZEN BANDE stand. Aber jetzt saß ich drin, um kurz vor elf an einem Samstagabend, und hielt eine Friedenspfeife in Form eines Stiftes in der Hand, der nach Ahornsirup roch, mit Miniwaffeln dekoriert war und den Wes gerade für mich im Geschenkeshop gekauft hatte, Kostenpunkt ein Dollar neunundsiebzig.
Ich nahm die Speisekarte vom Tisch. Alles klebte, Speisekarte, Tischplatte . . . Die Kellnerin trat zu uns, zog einen Stift aus ihrer Schürzentasche. »Hallo, Großer«, sagte sie zu Wes. Sie war ungefähr so alt wie meine Mutter, trug eine dicke Stützstrumpfhose und Krankenschwesternschuhe mit quietschenden Sohlen. »Das Übliche?«
»Genau.« Er schob seine Speisekarte zur Tischkante. »Danke.«
»Und Sie?«, fragte sie mich.
»Eine Waffel und einmal Rösti«, sagte ich und legte meine Speisekarte auf seine. Die einzigen Gäste außer uns waren ein alter Mann, der Zeitung las und einen Kaffee nach dem anderen in sich hineinschüttete, sowie eine Gruppe betrunkener Collegestudenten, die die Jukebox in Endlosschleife einen Song von Tammy Wynette spielen ließen und sich aus unerfindlichen Gründen halb totlachten.
Ich nahm meinen Stift in die Hand und schnupperte dran.
»Gib’s zu«, sagte Wes. »Jetzt, wo du endlich eins von den Dingern geschenkt bekommen hast, kannst du es nicht fassen, dass du im Leben bisher ohne ausgekommen bist.«
»Was ich tatsächlich nicht fasse, ist, dass man dich hier kennt.« Ich legte den Stift wieder auf die Tischplatte. »Seit wann bist du Stammgast?«
Er lehnte sich auf der gepolsterten Bank zurück und strich mit dem Finger am Rand der Papierserviette entlang, die unter seinem Besteck lag. »Seit dem Tod meiner Mutter. Ich konnte oft nicht gut schlafen. Dieses Café hat Tag und Nacht geöffnet. Hierher zu kommen war besser, als ziellos in der Gegend herumzufahren. Inzwischen ist es zur Gewohnheit geworden. Vor allem wenn ich etwas Inspiration brauche, komme ich gern her.«
»Inspiration«, wiederholte ich und sah mich leicht verwundert um.
»Allerdings«, antwortete Wes so enthusiastisch wie selten; offenbar war ihm mein zweifelnder Ton aufgefallen. »Wenn ich bei der Arbeit an einer Skulptur nicht weiterkomme, setze ich mich eine Zeit lang hier rein, esse eine Waffel – und wenn ich damit fertig bin, habe ich das Problem im Kopf gelöst oder sehe zumindest Möglichkeiten, wie ich weitermachen könnte.«
»Und die Skulptur im Garten? Wie bist du darauf gekommen?«
Nach kurzem Nachdenken antwortete er: »Das lässt sich nicht vergleichen. Ich meine, die habe ich speziell für jemanden gemacht. Und damit ergab sich die Idee fast von selbst.«
»Stella.«
»Ja.« Er lächelte. »Sie hat sich vor lauter Freude überhaupt nicht mehr eingekriegt. Dabei war es das Mindeste, was ich für sie tun konnte, weil sie die ganze Zeit, als meine Mutter krank war, so nett zu Bert und mir gewesen war. Vor allem zu Bert.«
»Die Stella-Skulptur ist echt der Hammer«, meinte ich. Und erntete ein Achselzucken. Typisch. Wes machte das immer, wenn man irgendwas Positives über ihn sagte. »Bei all deinen Skulpturen dreht oder bewegt sich was, wie bei einem Windspiel. Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«
»Sieh mal an, seit wann willst du denn eine Bedeutung in meinen Sachen entdecken?«, frotzelte er. »Als Nächstes erzählst du mir was von der komplexen Wechselbeziehung zwischen Gärtnerei und Weiblichkeit, die sich in dieser Skulptur ausdrückt.«
Ich warf ihm einen – nicht ganz gespielten – bösen Blick zu. »Verwechsle mich nicht mit meiner Schwester. Ich habe dich bloß was gefragt.«
Noch ein Achselzucken. »Keine Ahnung. Als ich in Myers mit dem Kram angefangen habe, waren die Sachen noch statisch und überwiegend ganz simpel. Aber nachdem ich meine ersten Herzhände gemacht hatte, wurde ich zunehmend neugierig darauf, wie sich was durch Bewegung verändert. Deshalb begann ich rumzuexperimentieren. Mich interessierte, wie das Drehen und Schwingen des Materials rückwirkend Einfluss auf das Motiv nimmt, wie alles dadurch lebendig wird, verstehst du?«
Ich erinnerte mich an den Augenblick, als ich vorhin in Stellas Garten hineinspaziert war, an das deutlich wahrnehmbare, fast schmeck- und fühlbare Gefühl, alles um mich her würde ebenso atmen wie ich selbst. »Ja, das verstehe ich gut«, antwortete ich.
»Was hast du eigentlich in ihrem Garten getrieben?«, fragte er. Die Jukebox in der Ecke hörte endlich auf zu plärren.
»Eigentlich weiß ich das gar nicht so genau«, erwiderte ich. »Aber dieser Garten fasziniert mich, seit ich zum ersten Mal bei Kristy und Monica gewesen bin.«
»Ja, er ist schon irre.« Wes nahm einen Schluck aus seinem Wasserglas. Die Herzhand auf seinem Oberarm blitzte auf, weil der Ärmel seines T-Shirts mit der Bewegung leicht hochrutschte; doch dann war das Tattoo wieder verschwunden.
»Ja, irre ist das richtige Wort.« Ich fuhr mit dem Finger an der Tischkante entlang. »Außerdem ist es einfach anders als bei mir zu Hause, wo alles neu und immer total aufgeräumt ist. Aber der Chaosfaktor gefällt mir.«
»Als Bert klein war, hat er sich öfter in dem Garten verlaufen, weil er von der Straße her abkürzen wollte.« Wes lehnte sich zurück und lächelte. »Wir konnten hören, wie er da drinnen rumschrie, als wäre er rettungslos im Urwald verschollen, dabei befand er sich gerade mal einen Meter von unserem Hof entfernt. Aber er hatte einfach komplett den Überblick verloren und regte sich tierisch auf.«
»Armer Bert.«
»Er hat’s überlebt.« Wes ließ sein Glas auf der Tischplatte kreisen. »Er ist zäher, als man denkt. Zum Beispiel als unsere Mutter starb; da war er erst dreizehn, und wir haben uns totale Sorgen um ihn gemacht, weil die beiden einander so nahe standen. Außerdem war er im Gegensatz zu mir bei ihr, als sie erfuhr, dass sie Krebs hatte. Ich saß zu dem Zeitpunkt in Myers fest. Aber Bert entpuppte sich als echter Kämpfer. Und als extrem fürsorglich. Er wich nicht mehr von ihrer Seite und unterstützte sie, so gut er konnte, egal wie schwer es wurde.«
»Das hat dir bestimmt ganz schön viel ausgemacht«, meinte ich. »Nicht da zu sein in dem Moment.«
»Bevor es richtig schlimm wurde, war ich längst wieder daheim. Trotzdem fand ich es natürlich ätzend, wegen einer einzigen dummen Geschichte weggesperrt zu sein, als meine Familie mich am meisten brauchte. Und als ich endlich wieder draußen war, wusste ich eins: So wollte ich mich nie wieder fühlen. Was auch immer von nun an geschehen würde, ob mit Bert oder sonst wem – ich würde für denjenigen da sein, aber hundert pro.«
Einen Teller in jeder Hand, näherte sich die Kellnerin unserem Tisch. Wie aufs Stichwort fing es in meinem Magen an zu rumoren, obwohl ich eigentlich gedacht hatte, ich hätte gar keinen Hunger. Mit einem energischen Klappern stellte sie die Teller vor uns hin, gab uns eine etwa zweisekündige Chance, uns zu äußern, falls wir noch etwas bräuchten, und marschierte wieder ab.
»Aufgepasst!« Wes deutete auf meinen Teller. »Gleich wird dir Hören und Sehen vergehen.«
Ich warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Das ist eine Waffel und nicht die Rückkehr der apokalyptischen Reiter.«
»Sei dir da mal nicht so sicher. Du hast noch nicht probiert.«
Bevor ich ein kleines Stück abschnitt, bestrich ich meine Waffel mit Butter und goss Sirup darüber. Während ich den ersten Bissen in den Mund steckte, ließ Wes mich nicht aus den Augen. Er hatte noch nicht mal mit Essen angefangen – als wollte er zuerst mein Urteil abwarten. Was positiv ausfiel. Sogar sehr positiv.
Doch bevor ich überhaupt etwas sagen konnte, meinte Wes: »Ich wusste es.« Als hätte er meine Gedanken gelesen. »Vielleicht nicht gerade die Apokalypse, aber auf jeden Fall so was wie eine spirituelle Erfahrung, findest du nicht?«
Ich hatte bereits den zweiten Bissen im Mund und wollte ihm gerade begeistert zustimmen, da fiel mir etwas ein und ich musste unwillkürlich lächeln.
»Was ist?«, fragte Wes.
Ich blickte auf meinen Teller. »Witzig, deine Bemerkung gerade; erinnert mich an etwas, das mein Vater immer gesagt hat.«
Wes steckte sich ein Stück Waffel in den Mund und wartete, dass ich weitersprach.
»Obwohl meine Mutter immer fand, wir sollten, und Schuldgefühle hatte, weil wir’s nicht taten, gingen wir nie zur Kirche«, erzählte ich. »Mein Vater liebte es einfach zu sehr, sonntags ausgiebig zu frühstücken. Er machte eigenhändig das Frühstück, immer sehr aufwändig, und meinte dann jedes Mal, das sei eben seine Form von Gottesdienst und die Küche seine Kirche. Die Opfergaben, das waren Eier und Speck und Muffins und . . .«
»Waffeln«, vollendete Wes meinen Satz.
Ich nickte und spürte, wie sich in meinem Hals ein Kloß festsetzte. Jetzt bloß nicht anfangen zu heulen, dachte ich, hier vor allen Leuten in dieser grell erleuchteten Fernfahrerraststätte mit Tammy Wynette im Hintergrund (ja, die Jukebox dudelte wieder munter vor sich hin). Doch als mir bewusst wurde, dass mein Vater dieses Lokal geliebt hätte, sogar inklusive Tammy Wynette, wurde der Kloß prompt noch größer.
»Das allererste Mal bin ich mit meiner Mutter hergekommen«, sagte Wes unvermittelt und spießte ein Stück Waffel mit der Gabel auf. »Auf dem Rückweg von meiner Oma, die in Greensboro wohnt, haben wir jedes Mal hier angehalten. Das war ein echtes Ritual, sogar während ihrer Gesundheitsfraß-Phase. Hier haute sie immer richtig rein, egal wie ungesund es war. Sie bestellte meistens die belgischen Waffeln mit Erdbeeren und Schlagsahne und verputzte sie bis zum letzten Krümel. Den Rest des Wegs nach Hause beschwerte sie sich dann, wie schlecht ihr sei.«
Ich lächelte und trank einen Schluck Wasser. Der Kloß löste sich allmählich auf. »Ist es nicht seltsam, wie und an was man sich erinnert, wenn jemand nicht mehr da ist?«
»Was meinst du damit genau?«
Ich aß noch ein Stück Waffel. »In der ersten Zeit, nachdem mein Vater gestorben war, konnte ich mich an überhaupt nichts mehr erinnern, nur noch an den Tag selbst. Ich habe ewig gebraucht, bis ich überhaupt wieder an die Zeit davor denken konnte.«
Noch bevor ich den Satz vollendet hatte, fing Wes an zu nicken. »Wenn jemand über lange Zeit krank ist, ist das noch viel schlimmer«, meinte er. »Man vergisst, dass dieser Mensch auch mal gesund war, dass es ihm gut ging. Es kommt einem so vor, als hätte man nie eine Zeit erlebt, wo man nicht permanent mit der nächsten Horrormeldung rechnen musste.«
»Aber es gibt diese Zeiten«, antwortete ich. »Allerdings erinnere ich mich erst seit ein paar Monaten wieder daran. An alles Schöne, was ich mit meinem Vater zusammen erlebt habe. Wie viel wir gelacht haben. Und ich fasse es nicht, dass ich es vorübergehend vergessen hatte.«
»Du hattest es nicht vergessen.« Wes trank einen Schluck Wasser. »Du konntest dich in dem Moment bloß nicht mehr daran erinnern. Aber jetzt bist du offen dafür, deshalb kannst du es auch wieder.«
Während ich meine Waffel aufaß, dachte ich über seine letzte Bemerkung nach. »Ich glaube, es fiel mir auch deshalb so schwer, mich zu erinnern, weil meine Mutter nach dem Tod meines Vaters so einigermaßen durchdrehte und alles wegwarf, was ihr vor die Nase kam. Sie hat so gründlich ausgemistet, dass am Ende von den alten Sachen nichts mehr da war. Irgendwie galt das auch für ihn. Fast so, als wäre er ebenfalls nie da gewesen.«
»Bei mir zu Hause ist es genau umgekehrt«, sagte Wes. »Meine Mutter ist im Prinzip noch überall präsent. Delia hat zwar viele ihrer Klamotten in Kartons gepackt, aber sie brachte es einfach nicht übers Herz, alles wegzuräumen. An der Garderobe im Flur hängt immer noch einer ihrer Mäntel. Neben dem Rasenmäher in der Garage steht nach wie vor ein Paar Gummistiefel von ihr. Und es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht eine Liste wiederfinde, bis heute. Sie sind einfach überall.«
»Liste?«
»Ja.« Mit einem leichten Lächeln senkte Wes den Kopf, blickte versonnen auf die Tischplatte. »Meine Mutter war ein richtiger Kontrollfreak und hat für alles Listen geschrieben: Was sie am nächsten Tag zu tun hatte, was sie in diesem Jahr noch schaffen wollte, was sie einkaufen und wen sie zurückrufen musste. Doch wenn sie mit einer Liste fertig war, verschmiss sie den Zettel irgendwo und vergaß völlig, dass es die Liste überhaupt gab. Wahrscheinlich werde ich auch in ein paar Jahren noch welche finden.«
»Das ist bestimmt komisch«, sagte ich und fügte – weil mir »komisch« in dem Zusammenhang nicht als das richtige Wort erschien – rasch hinzu: »Oder vielleicht gut?«
»Stimmt beides ein bisschen.« Wes warf seine zusammengeknüllte Serviette auf den Teller und lehnte sich zurück. »Bert macht es wahnsinnig, aber mir gefällt es irgendwie. Ich hatte eine Phase, da habe ich versucht, aus jeder Liste eine besondere Bedeutung herauszulesen. Wenn ich wieder mal eine gefunden hatte, grübelte ich stundenlang nach, um sie zu entschlüsseln. Sachen aus der Reinigung abholen, Tante Sylvia anrufen . . . als steckte irgendeine Botschaft aus dem Jenseits hinter den Worten.« Wieder dieses typische Achselzucken, doch diesmal eher aus Verlegenheit.
»Ich weiß, was du meinst. Ich habe so was Ähnliches gemacht.«
Er hob verblüfft die Augenbrauen. »Echt?«
Ich konnte nicht glauben, dass ich ihm davon erzählte, aber die Worte kamen wie von selbst: »Mein Vater war süchtig nach TV-Verkaufsshows beziehungsweise nach dem Zeug, das da verkauft wird. Er hockte die halbe Nacht vorm Fernseher und bestellte überflüssigen Kram, zum Beispiel diesen Fußabtreter mit Sensor, der einem automatisch signalisiert, wenn jemand –«
Wes fiel mir ins Wort: »Des Gastgebers bester Freund.«
»Du kennst das Teil?«
»Nein.« Er grinste. »Doch natürlich. Wer kennt den bescheuerten Werbespot nicht?«
»Mein Vater hat den ganzen Krempel gekauft«, sagte ich. »Er konnte einfach die Finger nicht davon lassen, wie andere von Drogen oder Alkohol.«
»Ich wollte schon immer mal so ein Gerät haben, das Münzen automatisch sortiert«, sagte Wes verträumt.
»Ich habe eins«, sagte ich.
»Nicht wahr.«
»Doch, ich schwöre«, antwortete ich. »Jedenfalls bekam er immer weiter Pakete von dem Hersteller, auch nachdem er längst gestorben war. Sie schickten jeden Monat ungefragt ein neues. Eine Zeit lang war ich fest davon überzeugt, das hätte etwas zu bedeuten. Als würde mein Vater mit Absicht dafür sorgen, dass ich diese Pakete bekam. Als wollte er mir eine Botschaft übermitteln.«
»Tja, man kann nie wissen«, meinte Wes. »Vielleicht ist es so.«
Ich sah ihn an. »Was meinst du?«
»Na, dass die Pakete etwas zu bedeuten haben«, antwortete Wes.
Ich blickte aus dem Fenster. In einiger Entfernung sausten die Autos auf der Schnellstraße vorbei; ihre Scheinwerfer verschwammen zu einer einzigen Lichtspur. Wo die vielen Leute wohl hinfuhren? Schließlich war es schon nach Mitternacht. »Ich habe jedes Paket behalten«, sagte ich schließlich leise. »Einfach so, für den Fall. Ich bringe es nicht übers Herz, sie wegzuwerfen, verstehst du?«
»Ja, verstehe ich gut«, antwortete er.
Wir blieben noch etwa eine Stunde im Waffelcafé, um uns ein ständiges Kommen und Gehen. Familien mit schlafenden Babys, Fernfahrer, die dort Rast machten, ein Pärchen, das am Nebentisch eine Straßenkarte ausbreitete und mit den Fingern die Strecke entlangfuhr, auf der sie zu ihrem Ziel – wo auch immer – gelangen würden. Die ganze Zeit hockten Wes und ich beisammen und unterhielten uns. Über alles und nichts und dann wieder über alles. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so viel geredet, wann ich überhaupt so geredet hatte. Vielleicht nie?
Trotzdem war ich noch zehn Minuten vor Kristy und Monica wieder im Hexenhäuschen. Ich hatte Wes gerade zum Abschied zugewunken und mich an der friedlich schlafenden Stella vorbei hineingeschlichen, als die Jungs Monica und Kristy in der Auffahrt absetzten. Als Kristy auf bloßen Füßen, Schuhe unterm Arm, ins Zimmer kam, hatte ich den Schlafsack, den sie extra für mich bereitgelegt hatte, schon auf dem Boden neben ihrem Bett ausgerollt und schlüpfte gerade in meinen Pyjama. Kristy schien nicht im Mindesten überrascht, mich zu sehen.
»Hattet ihr einen schönen Abend?«, fragte ich, während sie Top und Rock aus- und stattdessen ein T-Shirt sowie Boxershorts anzog.
»Nein.« Sie setzte sich aufs Bett, holte eine Flasche Reinigungsmilch aus der Schublade ihres Nachttischs und begann, sich das Gesicht einzureiben. Als es ungefähr zur Hälfte mit dem weißen Zeug beschmiert war, entschloss Kristy sich endlich mir doch noch ein bisschen was zu erzählen. »Ich sage nur eins: Obwohl Sherman fast die ganze Zeit völlig ausgeknockt war, war er immer noch der Beste von den dreien.«
»Das klingt übel.«
Kristy nickte und schraubte den Verschluss auf die Flasche. »Diese Typen waren langweiliger als der normalste Normalo, kannst du dir das vorstellen? So was von frustrierend. Gibt’s was Schlimmeres als diese 08 / 15-Normalos? Ich habe das Gefühl, ich mache drei Schritte zurück anstatt wenigstens mal einen vor.«
Ich versuchte sie zu trösten. »Das stimmt nicht. Du hattest eben einen bescheuerten Abend, mehr nicht.«
»Vielleicht.« Kristy stand auf, ging zur Tür. »Aber diese Welt macht es einem Mädchen schon schwer, nicht die Hoffnung zu verlieren, das kannst du mir glauben.«
Sie ging ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen. Ich streckte mich in meinem Schlafsack aus. Durchs Fenster über meinem Kopf konnte ich den Himmel mit dem Mond sehen. Aber ich war so müde, dass mir bald die Augen zufielen. Dass Kristy zurückkam, merkte ich nur am Geräusch der Tür und an dem lauten Seufzer, den sie ausstieß, als sie in ihr Bett und unter die Decken kroch.
»Wieder ein Abend vorbei und außer Spesen nichts gewesen.« Kristy gähnte. »Mich nervt es einfach, wenn nie was passiert, von dem man hinterher noch was hat. Was Konkretes. Du nicht auch?«
»Doch«, antwortete ich. »So was ist echt blöd.«
Sie gab so eine Art Räuspern von sich, das alles und nichts bedeuten konnte, drehte sich auf die andere Seite, klopfte und schüttelte an ihrem Kissen rum, bis sie bequem lag. »Gute Nacht, Macy«, sagte sie schließlich. Ihre Stimme klang schläfrig. »Träum was Schönes.«
»Du auch. Gute Nacht.«
Kurze Zeit später hörte ich, wie ihr Atem immer regelmäßiger ging; bald darauf war sie tief und fest eingeschlafen. Ich hingegen lag noch ein paar Minuten mit geöffneten Augen da und starrte den Mond an. Irgendwann streckte ich die Hand aus und tastete suchend über den Boden, bis ich auf meine Tasche stieß, die neben dem Schlafsack lag. Ich wühlte darin herum, bis ich fand, was ich gesucht hatte. Und hielt es fest umklammert, dort im Dunkeln. Das, was ich als Ergebnis dieses Abends vorzuweisen hatte. Das Konkrete. Das, von dem ich auch hinterher noch was hatte: ein Stift, der nach Zucker und Sirup roch. Und als ich am nächsten Morgen bei strahlendem Sonnenschein wieder aufwachte, hielt ich den Stift nach wie vor fest in meiner Hand.
»Macy? Bist du das?«
Ich stellte meine Schuhe auf die oberste Stufe vor dem Treppenabsatz und meine Handtasche daneben. Normalerweise stand meine Mutter auch an den Wochenenden sehr zeitig auf; sie wollte möglichst früh in ihrem Modellhaus sein, um potenziellen Käufern zuvorzukommen und sie persönlich begrüßen zu können. Doch obwohl es schon fast zehn Uhr war, saß sie in einem Sessel am Fenster – ich konnte sie durch die halb geöffnete Wohnzimmertür sehen –, trank Kaffee und las in einer Immobilienfachzeitschrift. Sie sah ganz anders aus als sonst. Ruhig, still, geradezu faul. Sehr ungewohnt. Das konnte nur einen Grund haben: Sie hatte auf mich gewartet.
»Äh . . . ja.« Während ich durch den Flur lief, stopfte ich mir unwillkürlich das T-Shirt in die Jeans und versuchte meine Haare nicht nur zu glätten, sondern mit den Händen eine Art Scheitel zu ziehen. »Kristy hat extra Frühstück gemacht, deshalb bin ich ein bisschen länger geblieben, als ich vorhatte. Was machst du denn noch zu Hause?«
»Ach, ich dachte, ich gönne mir mal eine Stunde, um hier im Haus ein paar Dinge zu erledigen.« Sie ließ die Zeitschrift in ihren Schoß sinken. »Außerdem kommt es mir vor, als hätten wir seit Ewigkeiten keine Gelegenheit mehr gehabt, uns miteinander zu unterhalten. Komm, setz dich zu mir, erzähl mir was von dir. Wie geht es dir, was treibst du so?«
Wie ein Blitz schoss mir plötzlich ein Bild durch den Kopf, ein Flashback: Ich oben an der Treppe, Caroline – nachdem sie die ganze Nacht weggeblieben war – eilig auf dem Weg in ihr Zimmer, meine Mutter im Wohnzimmer, die sie zu sich bat. Notgedrungen ging Caroline dann die Treppe wieder hinunter ins Wohnzimmer, wo meine Mutter sie bereits erwartete, um etwas mit ihr zu »besprechen«. In diesen Augenblicken herrschte jedes Mal eine angespannte Atmosphäre. Deutlich wahrnehmbar lag ein Streit, zumindest ein sich anbahnender Konflikt in der Luft. Genau wie jetzt.
Ich setzte mich aufs Sofa. Ein Fehler, wie ich merkte, denn die Sonne schien schräg, gleißend hell, geradezu stechend durchs Fenster direkt auf mich. Ich kam mir vor wie unter einem Scheinwerfer und hatte das Gefühl, jeder noch so kleine Makel wäre ganz besonders deutlich erkennbar, von meinen leicht zerzausten Haaren bis zu dem abgeplatzten Lack an meinem rechten großen Zehnagel. Am liebsten wäre ich zu einem der Sessel oder zu der anderen Couch gehuscht, die weiter weg vom Fenster standen, hätte damit aber vermutlich erst recht Aufmerksamkeit erregt. Deshalb blieb ich, wo ich war.
»Wie war es gestern bei der Arbeit?«, begann meine Mutter das Verhör.
»Gut.«
Auf ihren fragenden, nein auffordernden Blick hin fuhr ich fort: »Hat Spaß gemacht. Es war das Abendessen vor der eigentlichen Hochzeitsfeier, nach der Probe in der Kirche, das heißt, die Gäste sind alle ziemlich neben der Spur, entweder weil sie einen Kater vom Polterabend haben oder bei der Vorstellung, was alles schief gehen könnte oder was noch fehlt, total ausflippen. Gestern Abend gab’s von beiden Varianten ein bisschen was, deshalb herrschte ziemliches Chaos, aber genau das macht ja auch irgendwie Spaß. Und dann passierte da noch dieser kleine Zwischenfall mit den Crêpes, die plötzlich in Flammen standen, aber das war eigentlich gar nicht unsere Schuld.«
Meine Mutter hörte mir höflich, allerdings nur mäßig interessiert zu. Als würde ich ihr gerade etwas über die Kultur eines exotischen Landes erzählen, wo sie im Leben nicht hinfahren würde. »In letzter Zeit hast du ziemlich häufig für diesen Catering-Service gejobbt, nicht wahr?«
»Eigentlich nicht.« Doch als mir klar wurde, dass ich so klang, als müsste ich mich rechtfertigen (Wirklich? Klang ich so, als müsste ich mich rechtfertigen?), fügte ich hinzu: »Es kommt dir vielleicht so vor, weil Delia in letzter Zeit sehr viele Aufträge angenommen hat. Bis das Baby kommt, möchte sie nämlich noch so viel wie möglich arbeiten. Aber wenn es dann da ist, werde ich vermutlich erst mal nichts mehr zu tun haben.«
Meine Mutter nahm die Zeitschrift von ihrem Schoß und legte sie auf den Beistelltisch neben sich. »Aber die Information in der Bibliothek bleibt dir doch, oder?«
»Ach ja, klar«, erwiderte ich schnell. Zu schnell. »Ich meine, natürlich.«
Pause. Für meinen Geschmack eine viel zu lange Pause.
»Wie geht es dir denn so in der Bibliothek?«, erkundigte meine Mutter sich schließlich. »Du erzählst kaum noch davon.«
»Alles okay. Da gibt es auch nicht viel zu erzählen. Ist im Prinzip jeden Tag dasselbe.« Und das war definitiv nicht gelogen. Außerdem hatte sich meine Situation in der Bibliothek in den letzten Wochen nicht verbessert, im Gegenteil. Neu war lediglich, dass es mich nicht mehr so fertig machte. Ich saß meine Zeit ab, ignorierte Amanda und Bethany, so gut ich konnte, und ging, sobald der Stundenzeiger auf der drei landete. »Es ist Arbeit, da zu arbeiten. Wenn es Spaß machen würde, hieße es nicht Arbeit, sondern Spaß.«
Sie nickte, wobei sie etwas schief lächelte. Oje, dachte ich. Ich wusste, da kam noch was. Und ich hatte Recht.
»Gestern habe ich in einem Restaurant mit einem Geschäftspartner zu Mittag gegessen und dabei zufällig Mrs Talbot getroffen«, sagte meine Mutter. »Sie hat mir erzählt, dass es Jason im Ferienlager dieses Jahr wirklich ausnehmend gut gefällt.«
»Ach, wirklich?«, antwortete ich und fuhr mir unwillkürlich mit der Hand durchs Haar.
Meine Mutter schlug die Beine übereinander. »Außerdem erwähnte Mrs Talbot, Jason habe ihr geschrieben. Er und du hättet beschlossen euch auf Probe zu trennen, zumindest für die Dauer der Sommerferien.«
Na toll, dachte ich. »Äh . . . ja«, sagte ich. »Ich meine, das stimmt«, fügte ich hinzu.
Einen Augenblick lang war es so still, dass ich das Summen des Kühlschranks hören konnte. Diese ungemütlichen Pausen im Gespräch – genauso wie früher bei Caroline. Nur dass ich mich damals gefragt hatte, was in den langen, leeren Pausen zwischen Vorwürfen und Rechtfertigungen wohl geschah. Jetzt dagegen . . .
Meine Mutter beendete das Schweigen. »Ich wundere mich etwas, dass du so gar nichts davon erzählt hast. Mrs Talbot meinte, ihr hättet diese Entscheidung schon vor Wochen getroffen.«
»Es ist ja keine richtige Trennung, sondern bloß vorübergehend«, sagte ich so munter und zuversichtlich wie möglich. »Sobald Jason wieder hier ist, werden wir ausführlich miteinander reden. In dem Moment hielten wir es einfach beide für das Einfachste und Beste, mehr nicht.«
Meine Mutter faltete die Hände im Schoß übereinander und beugte sich ein wenig vor. Ich kannte diese Haltung, kannte sie von einer Million Verkaufsveranstaltungen: Sie rückte vor, bereit zum Angriff. »Ich muss leider zugeben, Macy, dass ich mir zurzeit ein wenig Sorgen um dich mache.«
Ich merkte, wie irgendetwas in mir leicht zusammensackte, wie bei einem Luftballon, aus dem schleichend Luft entweicht.
»Sorgen?«
Sie nickte und sah mich forschend an. »In letzter Zeit bist du oft bis spätabends mit deinen neuen Freunden unterwegs. Du jobbst so häufig für diesen Catering-Service, dass ich fürchte, deine Arbeit in der Bibliothek leidet darunter. Doch auf die solltest du dich konzentrieren, schließlich wird sie als praktische Erfahrung auf deinem Abschlusszeugnis mitbewertet.«
»Ich habe in der Bibliothek bisher keinen einzigen Tag gefehlt«, erwiderte ich.
»Ich weiß. Ich möchte doch bloß . . .« Meine Mutter hielt inne und wandte den Kopf zum Fenster, um hinauszuschauen, wodurch nun sie hell von der Sonne beschienen wurde. Sofort fielen mir die feinen Falten um ihre Augen herum auf. Und wie erschöpft sie wirkte! Nicht zum ersten Mal überkam mich ein Anflug von Panik, ob sie sich vielleicht überanstrengte, zu viel zumutete. Bestimmt reagierte ich über, andererseits hatte ich es bei meinem Vater nicht früh genug bemerkt. Keine von uns. »Im kommenden Jahr stellst du Weichen für dein ganzes Leben, sowohl in puncto College als auch insgesamt, was deine Zukunft betrifft. Wie du bei den Aufnahmeprüfungen abschneidest, ist entscheidend für deine akademische und berufliche Laufbahn. Du solltest dich also unbedingt auf die Schule und deine Vorbereitungskurse konzentrieren. Weißt du noch, wie du mir zu Beginn der Sommerferien selbst gesagt hast, du wolltest dich in diesen Wochen gründlich auf das kommende Schuljahr vorbereiten? Damals hatte ich den Eindruck, dir wäre sehr klar, wie wichtig das ist.«
»Ja«, antwortete ich. »Und daran habe ich mich auch gehalten. Ich habe Vokabeln gelernt, Prüfungsaufgaben durchgearbeitet, Übungstests im Internet gemacht.«
Erneuter Blick durchs Fenster. »Außerdem bist du mittlerweile fast jeden Abend mit deiner Freundin Christine unterwegs . . .«
»Kristy«, warf ich ein.
». . . und nicht nur mit ihr, sondern mit einem ganzen Haufen neuer Freunde, die ich noch nicht einmal kennen gelernt habe, geschweige denn näher kenne.« Sie blickte auf ihre Finger, die sich in ihrem Schoß verschränkten und wieder öffneten, verschränkten und wieder öffneten. »Und dann erfahre ich plötzlich das von dir und Jason und frage mich ernsthaft, warum du es mit keiner Silbe erwähnt hast. Wie bist du bloß auf die Idee gekommen, mir nichts davon erzählen zu können?«
»Es ist bloß eine Beziehungspause«, wiederholte ich wie ein Papagei. »Außerdem hat Jason nichts mit meinen eigenen Plänen und Zielen zu tun, das sind zwei völlig verschiedene Dinge.«
»Wirklich?«, fragte meine Mutter. »Wenn Jason da ist, verbringst du viel mehr Zeit daheim, lernst mehr, arbeitest konzentriert für die Schule. Doch mittlerweile sehe ich dich kaum noch zu Hause. Tut mir Leid, aber ich habe das Gefühl, das eine hängt durchaus mit dem anderen zusammen.«
Dem konnte ich nicht widersprechen. In den letzten Wochen hatte ich mich tatsächlich verändert, wobei ich die Veränderung allerdings als Verbesserung empfand: Endlich, ganz langsam, ließ ich die Vergangenheit hinter mir und befreite mich aus dem Käfig, den ich vor vielen Monaten sorgsam um mich herum aufgebaut hatte. Das war eine positive Entwicklung, oder etwa nicht? Zumindest hatte ich das bis zu diesem Moment geglaubt.
»Macy, ich möchte doch nur eins.« Ihre Stimme klang sanfter als vorher. »Ich möchte sicher sein, dass du weißt, worauf es wirklich ankommt. Wo du deine Prioritäten zu setzen hast. Du hast dich bisher so angestrengt, es täte mir sehr Leid für dich, wenn das alles umsonst gewesen wäre.«
Damit war ich im Prinzip einverstanden. Allerdings meinte meine Mutter etwas ganz anderes als ich. Sie bezog sich darauf, wie sehr ich mich bemüht hatte, perfekt zu werden, gute Zensuren zu bekommen, mir einen intelligenten Freund zu angeln und meine Trauer über den Verlust meines Vaters durch eiserne Disziplin und Selbstbeherrschung zu überwinden, bis zumindest nach außen hin alles in Ordnung schien. Immer hübsch nach dem Motto: Ja, natürlich geht’s mir gut, kein Problem, alles okay. Für mich dagegen war genau das Gegenteil entscheidend. Ich hatte so viel durchgemacht, mir hohe Ziele gesteckt, war immer wieder gescheitert und hatte erst jetzt – endlich – einen Ort gefunden, wo es genügte, dass ich einfach nur ich selbst war.
Plötzlich wurde mir klar, dass dieses Problem zwischen meiner Mutter und mir schon immer bestanden hatte. Wir glaubten, wir würden über dieselben Dinge reden und dasselbe meinen, doch alles hat zwei Bedeutungen. Zumindest kann das so sein. Wie bei einer Münze; am Ende kommt es darauf an, was oben liegt, Kopf oder Zahl.
»Das würde mir auch sehr Leid tun, wirklich«, sagte ich.
»Dann sind wir uns also einig. Das ist schön. Und das war auch schon alles. Ich wollte mir nur sicher sein, dass wir uns einig sind.« Meine Mutter lächelte und drückte im Aufstehen meine Hand – eine typische Geste zwischen uns, wenn eine von uns beiden ihre Zuneigung ausdrücken wollte. Ich stand ebenfalls auf, wollte hoch in mein Zimmer, während meine Mutter in ihr Arbeitszimmer ging. Ich lief bereits die Treppe hoch, da hörte ich, wie sie mich noch einmal rief.
»Schatz?«
Ich wandte mich um. Sie stand an der Tür zum Arbeitszimmer, die Hand am Türgriff.
»Ja?«
»Wirklich, du kannst mit allem zu mir kommen, mit mir über alles reden. Zum Beispiel über so was wie mit Jason. Du kannst mir alles anvertrauen, hörst du? Es ist mir sehr wichtig, dass du das weißt.«
Ich nickte. »Ist gut.«
Ich lief weiter die Treppe hoch. Meine Mutter wandte sich in diesem Moment bereits dem nächsten Problem zu, das ihre Aufmerksamkeit erforderte. Und die Sache mit mir war als erledigt abgehakt. Für mich hingegen war das Ganze nicht so einfach. Natürlich ging sie wie selbstverständlich davon aus, dass ich ihr alles erzählen, alles anvertrauen konnte. Sie war schließlich meine Mutter. Aber um ehrlich zu sein: Ich konnte es eben nicht. Seit über einem Jahr sehnte ich mich danach, offen mit ihr über alles zu reden, was mich quälte. Außerdem hätte ich sie gern in den Arm genommen und ihr gestanden, dass ich mir Sorgen um sie machte. Aber das ging nicht. Deshalb war das, worüber wir gerade gesprochen hatten, nichts als eine Formalität, ein Vertrag, den ich unterschrieben hatte ohne das Kleingedruckte zu lesen. Was ohnehin nicht nötig gewesen wäre, denn ich wusste, was da stand: Bis zu einem gewissen Punkt durfte ich meine – leider allzu menschlichen – Schwächen und Fehler haben, aber eben nur bis zu einem gewissen Punkt. Und Ehrlichkeit – Ehrlichkeit war strengstens verboten. Ehrlich durfte ich weder zu ihr sein noch zu mir selbst.
Ich betrat mein Zimmer. Mitten auf meinem Bett stand eine Einkaufstüte, an der ein Blatt Papier lehnte. Selbst aus der Entfernung erkannte ich die ausladende Schrift mit den großen Schwüngen und Bögen: Caroline.
Hallo kleine Schwester,
schade, dass wir uns verpasst haben. In ein paar Tagen bin ich wieder da, hoffentlich mit guten Neuigkeiten über die Fortschritte bei der Renovierung. Als ich das letzte Mal bei euch war, vergaß ich, das hier für dich dazulassen. Ich habe es beim Ausmisten in einem der Kleiderschränke im Ferienhaus gefunden. Keine Ahnung, was drin ist (ich wollte es nicht ohne dich aufmachen), aber ich wollte auf jeden Fall dafür sorgen, dass du es so rasch wie möglich bekommst. Bis bald.
Statt einer Unterschrift folgten jede Menge Herzen und Blümchen sowie ein Smiley. Ich setzte mich neben die Tüte aufs Bett, öffnete sie einen Spalt, schaute hinein und machte sie sofort wieder zu.
Nein, bitte nicht, bitte bitte nicht, dachte ich.
Denn schon auf den ersten, flüchtigen Blick hatte ich zweierlei gesehen: Golden gemustertes Geschenkpapier. Und ein weißes Kärtchen, auf dem mein Name stand. In einer Schrift, die ich (wie Carolines) überall auf der Welt auf Anhieb identifiziert hätte. Die Schrift meines Vaters.
Da kommt noch was, hatte auf der Karte gestanden, die er mir an jenem Weihnachtstag – unserem letzten Tag zusammen – gegeben hatte. Bald. Das fehlende Geschenk für mich war also, wie ich vermutet hatte, nichts von E.I.N.fach-Produkte, sondern das hier.
Ich wollte die Tüte ein zweites Mal öffnen, hielt jedoch inne. So gern ich das Geschenk auch ausgepackt hätte – jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür, denn gleichgültig was sich unter dem goldenen Papier befand: Es wäre eine Enttäuschung gewesen, zumindest in diesem Augenblick. Ich hatte die ganze Zeit auf ein Zeichen gewartet. Ein Zeichen gewollt, kein Geschenk. Deshalb war es vermutlich besser, ich ließ alle Möglichkeiten offen. Zumindest was das Zeichen betraf.
Ich trug die Tüte zum Kleiderschrank, stieg auf einen Stuhl und schob sie ganz nach hinten zu dem Karton mit den E.I.N.fach-Produkten. Was auch immer in dem Geschenk war – es hatte lange Zeit gebraucht, um es bis zu mir zu schaffen. Ein bisschen länger würde auch keinen Unterschied mehr machen.