Kapitel 22

»Macy. Wach auf.«

Ich drehte mich auf die andere Seite und zog mir das Kopfkissen übers Gesicht, so dass meine Stimme nur gedämpft darunter hervordrang. »Noch eine Stunde schlafen, bitte.«

»Kommt nicht infrage.« Jemand zwickte mich in die Füße. »Beeil dich, ich warte draußen.«

Obwohl ich noch gar nicht richtig wach war, hörte ich natürlich, wie er das Zimmer verließ und kurze Zeit später die Fliegengittertür zur Terrasse zufiel. Einen Moment lang blieb ich noch liegen, war schwer versucht mich dem Schlaf zu überlassen und weiterzuträumen. Aber dann schob ich das Kissen von meinem Gesicht, setzte mich im Bett auf und blickte aus dem Fenster. Der Himmel war strahlend blau, die Wellen brachen sich ganz in meiner Nähe. Es würde wieder ein wunderschöner Tag werden.

Ich stand auf, streifte Shorts, Jogging-BH und T-Shirt über und das Gummiband von meinem Handgelenk ab, um mein Haar zusammenzubinden. Gähnend durchquerte ich mein Schlafzimmer und trat in den Hauptraum des Hauses, wo meine Schwester am Tisch saß und durch eine Zeitschrift blätterte.

»Weißt du was?«, meinte sie unvermittelt und blickte dabei nicht einmal auf. Als befänden wir uns mitten in einem Gespräch und würden nach einer winzigen Unterbrechung da weitermachen, wo wir kurz vorher aufgehört hatten. »Wir könnten auf der Terrasse echt mal so was wie einen Aztekenofen gebrauchen.«

»Einen was?« Ich bückte mich nach meinen Joggingschuhen.

»Einen Aztekenofen.« Caroline stützte das Kinn mit dem Ellbogen ab und blätterte um. »Ein Kamin, aber für draußen, ganz simpel, beinahe primitiv. Eine Feuerstelle in einer Art rundem Terrakotta-Behälter mit langem Hals. Hat fast so was wie eine eigene Aussagekraft, wie ein Kunstwerk. Was meinst du?«

Mit einem belustigten Lächeln öffnete ich die Schiebetür. »Klingt toll. Echt super.«

Ich trat auf die Veranda, atmete – zusammen mit dem neuen Tag – tief die frische, salzige Luft ein. Meine Mutter saß in ihrem geliebten alten Holzstuhl, ihr Kaffeebecher stand auf dem Tisch neben ihr. Als sie mich hörte, wandte sie sich zu mir um und sah mich an.

»Guten Morgen«, sagte sie.

Ich beugte mich zu ihr und küsste sie auf die Wange.

»Du bist aber eifrig«, fuhr sie fort.

»Nicht meine Idee«, antwortete ich. »Ich hätte lieber weitergeschlafen.«

Lächelnd hob sie den Kaffeebecher an, zog die Mappe hervor, die darunter lag, und klappte sie auf ihren Knien auf. »Viel Spaß!«

»Dir auch.«

Während ich die Treppe zum Strand runterlief, dehnte und streckte ich mich mit erhobenen Armen. Die Sonne schien bereits so hell, dass ich blinzeln musste. Seit das Haus fertig renoviert war, verbrachten wir beinahe jedes Wochenende hier. Im Anfang war es schon schwer gewesen, das Haus auch nur zu betreten; ich hatte ziemlich oft und viel geweint, weil ich meinen Vater (plötzlich wieder) so vermisste. Doch inzwischen fiel es mir etwas leichter, herzukommen. Obwohl Fußböden, Vorhänge, Polsterbezüge anders waren als vorher, hatte man trotzdem noch das Gefühl, er wäre anwesend. Denn vieles von dem, was er an dem Haus so geliebt hatte, war geblieben: der Elchkopf über dem Kamin, die Angelruten neben der Tür, der Grill.

Doch nicht nur an der Inneneinrichtung hatte sich im Vergleich zu früher einiges geändert. Meine Mutter kam zwar mit, hatte aber jede Menge Arbeit und ihren Laptop dabei, und ihr Handy klingelte praktisch ununterbrochen (wenigstens hatten wir ihr beigebracht, ab und zu die Mailbox drangehen zu lassen). Und ich hatte wieder angefangen zu laufen, wobei ich jedoch nicht mehr drauf achtete, wie weit oder wie schnell ich lief. Stattdessen konzentrierte ich mich darauf, wie sich das Laufen selbst anfühlte, die Bewegung. Schließlich hatte ich mittlerweile die Erfahrung gemacht, dass es nicht aufs Überqueren der Ziellinie ankommt, sondern auf den Weg bis dorthin.

Außerdem redeten meine Mutter und ich mehr miteinander. Auch das war uns zu Beginn nicht leicht gefallen; doch die Wochenenden am Meer halfen, vor allem die gemeinsamen Fahrten. Manchmal war zwar Wes dabei oder Kristy, doch ziemlich häufig saßen wir auch allein im Auto. Aus irgendeinem Grund scheint es leichter zu sein, gewisse Dinge auszusprechen, wenn man sich zusammen auf einer einsamen, zweispurigen Landstraße befindet, während in der Ferne allmählich die Sonne untergeht. Denn egal was gesagt wurde – wir bewegten uns auf jeden Fall weiter. Richtung Horizont.

Caroline kam ebenfalls fast jedes Wochenende, zusammen mit Wally. Dann wuselte sie im Haus herum, schaute sich an, was sich bisher alles getan hatte, und überlegte, was sie noch verändern könnte. Darüber hinaus beschäftigte sie sich seit kurzem intensiv mit einem Haus, das zwei Grundstücke weiter den Strand entlang lag und zum Verkauf stand. Natürlich hatte sie es sofort von allen Seiten fotografiert und erklärte uns, als sie die Bilder vor uns ausbreitete, dass es zwar renovierungsbedürftig sei, aber nur ein bisschen Arbeit und ein paar gute Ideen brauche. Und dass Wally und sie schon seit längerem darüber nachdächten, sich ein Haus am Meer zuzulegen. Alles noch im Planungsstadium, doch kannte ich meine Schwester gut genug, um zu wissen, dass bei ihr auf viele Vorhers auch immer ein Nachher folgte. Sie sah das Pozential, lange bevor etwas fertig war. Das konnte sie von uns allen eindeutig am besten.

Ich ging über die Dünen, spürte, wie der Wind an mir zog, mich schob. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Caroline inzwischen auf der neuen Bank saß, die auf der Veranda stand; vermutlich stellte sie sich gerade diesen Aztekenofen vor. Caroline und meine Mutter winkten mir zu, ich winkte zurück. Dann blickte ich den Strand entlang und schätzte die Strecke ein, die ich zurücklegen musste, um Wes einzuholen. Denn er war bereits vorgelaufen. Ich setzte mich in Trab, spürte meine Füße unter mir im Sand und vernahm die mir unendlich vertraute Stimme in meinem Kopf, die ich jedes Mal hörte, wenn ich anfing zu laufen.

Weiter so, Macy! Du machst das ganz toll! Und keine Angst, du weißt doch, die ersten paar Schritte sind die schwersten.

Das stimmte. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich würde meinen Rhythmus nie finden, und hätte nach den ersten Schritten am liebsten wieder aufgegeben. Aber dann lief ich doch weiter. So wie jetzt. Ich wusste ja: Nur dann würde es weitergehen. Wie jetzt. Der Moment, in dem ich Wes einholte. Jedes Mal rannte ich schließlich doch bis zu diesem Punkt. Dem Punkt, an dem unsere Schatten plötzlich nebeneinander herliefen, er sich mir zuwandte und sich die Haare aus dem Gesicht strich.

»Du bist echt super in Form«, meinte er.

»Du doch auch.«

Ein paar Schritte lang liefen wir schweigend nebeneinanderher, vor uns nichts als Strand und Himmel.

»Fertig?«, fragte er.

Ich nickte. »Schieß los, du bist dran.«

»Okay, dann lass mal sehen . . .«

Wie immer schlichen wir uns langsam rein, weil sowohl das Laufen als auch das Spiel ganz schön lang dauern konnten. Vielleicht sogar ewig. Zwischen jetzt und immer.

Ja, man wusste es vorher nicht. Unmöglich. Für immer konnte so viele verschiedene Sachen bedeuten. Und für immer veränderte sich ständig, doch genau darum ging es. Für immer, das konnten zwanzig Minuten sein oder hundert Jahre oder bloß dieser eine einzige Moment. Oder jeder Moment, von dem ich mir wünschte, er würde für immer andauern. Doch es gibt über die Ewigkeit nur eine einzige Wahrheit, die wirklich zählt, und das ist: Sie existiert. Die Ewigkeit. Für immer. In diesem Moment, als ich mit Wes der strahlenden Sonne entgegenlief. Und in allen Momenten, die darauf folgten. Ja, sieh genau hin. Jetzt. Jetzt. Jetzt.