Kapitel 7

»Wow, das wird toll.« Kristy steckte behutsam und geschickt den nächsten Lockenwickler in mein Haar, das sie gerade Strähne um Strähne einrollte. »Wart’s ab, die Frisur steht dir bestimmt super. Du wirst umwerfend aussehen.«

Wovon ich persönlich nicht so überzeugt war. Wenn ich gewusst hätte, dass Kristy mich komplett umstylen würde, bevor sie mit mir loszog, hätte ich es mir möglicherweise zweimal überlegt, bevor ich mich auf die Aktion einließ. Doch jetzt kam ich aus der Sache nicht mehr raus.

Die ersten Zweifel waren mir gekommen, als sie darauf bestand, dass ich meine Arbeitsklamotten aus- und stattdessen ein Paar ihrer Jeans anzog, von denen sie sich sicher war, dass sie mir passten (was stimmte). Und dazu ein Top, von dem sie behauptete, der Ausschnitt sei auf keinen Fall zu tief (was nicht stimmte). Wobei ich mich weder vom einen noch vom anderen so richtig überzeugen konnte, weil der einzig neutrale Zeuge der Spiegel an Kristys Kleiderschrank gewesen wäre; doch Kristy hatte die Tür absichtlich geöffnet, so dass der Spiegel zur Wand zeigte, damit ich mich selbst nicht mehr sehen konnte, bis ich fertig war. Mein einziger Anhaltspunkt, wie ich in dem Outfit aussah, war derzeit Monica (und das half mir auch nicht viel weiter). Sie saß am Fenster auf einem Stuhl, hielt lässig ihre Zigarette nach draußen und gab jedes Mal, wenn Kristy eine zweite Expertenmeinung brauchte, irgendwelche Mmm-Laute von sich.

Dieser Freitagabend war ganz klar anders als die Freitagabende, die ich gewohnt war. Wobei das nicht nur für den Abend, sondern auch für alles andere hier galt. Hier hieß: bei Kristy und Monica.

Sie wohnten nämlich nicht in einem normalen, fest stehenden Haus, sondern in einem Trailer, wobei Kristy, als wir darauf zuliefen, mir erklärte, sie spreche lieber von einem »Doppeldecker« als von einem Trailer, weil das nicht so prollig klänge. Ich hingegen taufte es im Stillen sofort Hexenhäuschen, denn es sah aus wie etwas aus einem Märchen: ein kobaltblau gestrichenes kleines Haus mit einem riesigen, üppig wuchernden Garten, wo Kristys und Monicas Großmutter – die ältere Frau, die mir an dem Abend weiterhalf, als ich mich verfahren hatte – Blumen und Gemüse anpflanzte, um sie an ihrem Stand oder direkt an die umliegenden Restaurants zu verkaufen. Ich hatte schon viele Gärten gesehen, auch sehr exklusive oder raffinierte, gerade in unserem Viertel. Aber dieser Garten war wirklich etwas sehr Besonderes.

Das kobaltblaue Häuschen mit der roten Tür sah in dem satten, fruchtbaren Grün des Gartens aus, als wäre es »nur« eine weitere der vielen exotischen Blüten, die in diesem kleinen Paradies wuchsen. Vor dem Haus wiegten sich Sonnenblumen in der leichten Brise, streiften träge die niedrigen Fenster. Sie ragten aus einer anmutigen Reihe von Rosenbüschen heraus, deren Duft die Abendluft erfüllte. Von dort erstreckte sich das Grün zu beiden Seiten. Zwischen zwei Birnbäumen entdeckte ich eine Reihe eingetopfter Kakteen in allen möglichen Formen und Farben. Blaubeerbüsche wuchsen zwischen Zinnien, Margeriten und Sonnenhut, silbergrauer Wollziest hob sich von leuchtenden Feuerlilien und violetten Gladiolen ab. Die Beete waren nicht in Reih und Glied angelegt, sondern in Kreisen und Spiralen, die von schmalen Pfaden umsäumt wurden. Am Ende einer kleinen Allee aus blühenden, von Bambus umstandenen Bäumen lag ein Minifeld mit Minisalatköpfen, die knapp aus der Erde lugten. Haselsträucher wuchsen zwischen Geranien und daneben – eine wahre Explosion strahlend blauer Iris. Nicht zu vergessen der Geruch, der über diesem Wundergarten schwebte: Früchte und Blumen, frisch aufgeworfene Erde und Regenwürmer. Dieser Geruch warf einen fast um, so irrsinnig schön war er, und ich ertappte mich dabei, wie ich einfach nur den Duft einatmete. Selbst als wir schon längst im Hexenhäuschen waren, hatte ich ihn noch deutlich in der Nase.

Kristy befestigte den nächsten Lockenwickler mit einer Haarklammer und strich mir mit der Hand eine Strähne aus dem Gesicht.

»Ich bin eigentlich gar nicht der Typ, dem toupiertes Haar oder eine wilde Mähne so gut stehen«, sagte ich skeptisch.

»Ich auch nicht.« Kristy schnappte sich den nächsten Lockenwickler. »Aber dein Haar wird nicht toupiert, bloß ein bisschen wellig. Vertrau mir einfach, okay? Was Haare angeht, bin ich echt Expertin. Ich war mal kahl, musst du wissen, und in der Zeit war ich von Haaren und Frisuren geradezu besessen.«

Weil sie hinter mir stand und mit den Lockenwicklern rumfummelte, konnte ich sie nicht sehen und wusste deshalb nicht, ob sie ein ernstes Gesicht machte oder ein lässiges oder was. Ich warf einen Blick zu Monica rüber, die allerdings durch eine Zeitschrift blätterte und nicht mal zuhörte. Schließlich nahm ich meinen Mut zusammen: »Du warst mal kahl?«

»Ja, mit zwölf. Ich musste ein paar Mal operiert werden, unter anderem am Hinterkopf, deshalb haben sie mir den Schädel rasiert.« Wieder strich sie einige lose Strähnen weg, die in meinem Gesicht herumflogen. »Ich hatte einen Autounfall, daher auch die Narben.«

»Ach so.« Plötzlich hatte ich Angst, ich hätte ihre Narben vielleicht mal wieder zu offensichtlich angestarrt und sie dadurch erst auf das Thema gebracht. »Ich wollte nicht . . .«

»Ich weiß,« meinte sie in lockerem Ton, als würde es ihr wirklich nichts ausmachen, darüber zu sprechen. »Trotzdem ist es schwer, nicht hinzuschauen, was? Normalerweise werde ich sofort gefragt, woher ich die Narben habe, aber du hast nie einen Ton gesagt. Allerdings dachte ich mir, dass du dich schon gewundert hast, wie ich zu den Dingern gekommen bin. Du würdest dich wundern, wie viele Leute mich ganz direkt darauf ansprechen. So als würden sie sich erkundigen, wie spät es ist oder so was.«

»Ich finde das ziemlich dreist«, meinte ich.

»Mmm-hmmm.« Das kam von Monica und klang zustimmend. Wie zur Bestätigung drückte sie ihre Kippe am Fensterbrett aus.

Kristy dagegen zuckte die Schultern. »Irgendwie ist es mir sogar lieber so. Ich meine, es ist auf jeden Fall besser, als wenn mich jemand anstarrt, dabei aber so tut, als würde er gar nicht hingucken. Kinder sind in der Beziehung am besten drauf. Sie schauen mich an und fragen: ›Was ist mit deinem Gesicht los?‹ Das gefällt mir. Raus damit. Karten auf den Tisch. Ich kann die Narben ja sowieso nicht verstecken. Deswegen stehe ich auch auf auffällige Klamotten. Die Leute starren mich so oder so an, da kann ich ihnen auch gleich was bieten, verstehst du?«

Ich nickte. Aber so ganz verstand ich es noch nicht.

»Jedenfalls ist es passiert, als ich zwölf war.« Kristy applizierte den nächsten Lockenwickler. »Meine Mutter fuhr mich mal wieder sturzbesoffen zur Schule. Sie kam von der Straße ab, stieß erst mit einem Zaun und danach noch mit einem Baum zusammen. Die mussten mich aus dem Auto rausschneiden. Monica hatte an dem Tag schlauerweise Windpocken, so dass sie erst gar nicht mitgefahren war.«

»Hör bloß auf«, sagte Monica.

»Sie hat Schuldgefühle«, erklärte Kristy. »Schwesterndynamik nennt man so was.«

Ich warf einen Blick zu Monica rüber. Sie musterte ihre Fingernägel mit demselben gleichmütigen Gesichtsausdruck, den sie eigentlich immer draufhatte. Für mein Gefühl hatte sie kein besonders schlechtes Gewissen oder so was; aber im Grunde kannte ich sie gar nicht anders als mit diesem einen Gesichtsausdruck. So sah sie eigentlich immer aus – eine Mischung aus gleichgültig und müde. Möglicherweise war es wie bei einem Rorschach-Test, bei dem man Tintenkleckse vorgelegt bekommt und deuten soll: In Monicas Gesicht sah man genau das, was man gerade sehen wollte.

»Außer den Narben in meinem Gesicht habe ich auch noch eine an der Wirbelsäule von meiner Rücken-OP und eine ziemlich fiese am Hintern; von da haben sie mir nämlich Haut transplantiert. Auf meinem Kopf sind auch noch ein paar Narben, aber die kann man nicht mehr sehen, seit das Haar nachgewachsen ist.«

»Klingt, als wäre es der reinste Horror gewesen«, meinte ich.

Sie nahm sich den nächsten Lockenwickler. »Kahl zu sein fand ich ätzend, das auf jeden Fall. Ich meine, selbst mit Hüten oder Tüchern gibt es nur begrenzte Variationsmöglichkeiten. Ich habe alles versucht, ich schwör’s, trotzdem habe ich vor lauter Freude geweint, als meine Haare endlich, endlich wieder nachwuchsen. Deshalb bringe ich es auch nicht mehr übers Herz, mehr als nur die Spitzen nachschneiden zu lassen. Und das auch möglichst nur alle paar Monate. Ich liebe meine Haare.«

»Du hast auch allen Grund dazu«, sagte ich. »Schließlich hast du echt schöne Haare.«

»Danke. Und ich glaube, ich weiß so was wirklich mehr zu schätzen als die meisten anderen Leute. Anders als alle anderen Mädchen oder Frauen beschwere ich mich nie über meine Haare, egal wie sie aussehen. Nie!«

Kristy krabbelte vom Bett, steckte sich die Haarbürste in die hintere Jeanstasche und hockte sich vor mich, um die letzten losen Strähnen mit einer Haarklammer festzustecken. »Okay«, sagte sie, »mit dir wäre ich so gut wie fertig. Die Nächste bitte . . . Miss Monoton?«

»N-nnnö.« Dieser Monica-Laut klang überraschend klar, fest und eindeutig.

»Nun lass mich wenigstens mal was ausprobieren. Dann würdest du sehen, dass –«

»Lass stecken.«

»Monica!«

Monica schüttelte langsam den Kopf. »Hör bloß auf«, sagte sie mahnend.

Kristy schüttelte seufzend den Kopf. »Wenn es um Outfits und Styling geht, weigert sie sich strikt, sich auf Experimente einzulassen«, sagte sie mit Grabesstimme, als gäbe es auf der Welt nichts Schlimmeres, bevor sie sich erneut ihrer Schwester zuwandte und mit den Händen an ihrem eigenen Kopf demonstrierte, was ihr vorschwebte. »Schau mal, so. Ich gebe dir sogar ein Stichwort.« Kristy legte eine kleine dramatische Kunstpause ein. »Im Perückenstil – was hältst du davon?«

Statt einer Antwort schüttelte Monica bloß den Kopf, stand auf und ging Richtung Tür.

»Tja, wer nicht will, der hat schon.« Kristy zuckte die Schultern. Monica schnappte sich ihre Handtasche, die auf dem Boden neben der Tür stand, und verließ das Zimmer. »Dann siehst du eben aus wie immer. Aber peppig ist was anderes, das kann ich dir flüstern.«

Als Antwort darauf ließ Monica die Haustür geräuschvoll hinter sich zufallen. Kristy schien das nichts weiter auszumachen. Sie baute sich, die Hände in die Hüften gestemmt, vor ihrem Kleiderschrank auf. Ich warf einen Blick durchs Fenster. Monica ging den Gartenweg entlang, ganz und gar nicht peppig, sondern – wie immer – unendlich langsam.

Kristy bückte sich, zog ein paar ausgelatschte Mokassins mit neckischen Troddeln unter ihren Klamotten hervor und warf sie mir zu. Ich betrachtete die Treter zweifelnd.

»Ich weiß genau, was du jetzt denkst«, sagte Kristy. »Aber Mokassins werden schwer unterschätzt, also zieh sie an. Und dein Dekolleté bearbeiten wir jetzt noch ein bisschen mit dem fabelhaften Selbstbräuner, den ich neulich besorgt habe. Ist im Bad, glaube ich.«

Sie huschte durch den Flur Richtung Bad. Und dann war sie weg. Man hörte sie nur noch leise vor sich hin murmeln.

Die Lockenwickler drückten schwer auf meinen Kopf. Bei dem Versuch, an mir selbst runterzuschauen, weil ich das Top noch mal genauer ansehen wollte, das Kristy mir verpasst hatte, verrenkte ich mir fast den Hals. In die dünnen Träger waren Glitzerfäden eingewoben, und der Ausschnitt war tiefer als bei sämtlichen meiner Kleidungsstücke zusammen. Außerdem war ich in dem Teil völlig overstylt, denn es sah aus wie etwas, das man auf einem Ball tragen würde, und passte für mein Gefühl überhaupt nicht zu den bereits ziemlich fadenscheinigen Jeans, die Kristy auch noch hochgekrempelt hatte. Auf dem einen Knie prangte ein mit Kuli aufgemaltes Herz. Während ich es so betrachtete – innen pechschwarz, links ein bisschen schief und nicht ganz symmetrisch –, dachte ich plötzlich: Dies sind nicht meine Sachen, das bin nicht ich. Und dieser Gedanke setzte sich gebetsmühlenartig in meinem Kopf fest. Okay, wahrscheinlich wollte ich mich mit dieser Aktion gegen Bethany und Amanda auflehnen, zumindest innerlich. Aber falls sie schief lief, würde ich dafür bezahlen müssen, und zwar ich ganz allein.

Ich muss weg hier, dachte ich. Stand auf, zog einen der Lockenwickler aus meinem Haar und ließ ihn auf die Bettdecke fallen. Was zur Folge hatte, dass plötzlich eine Korkenzieherlocke in meinem Blickfeld auftauchte und leicht vor sich hin wippte. Verblüfft starrte ich sie an: Ich hatte mich bereits verändert, minimal zwar, aber diese Spirallocke war ein untrügliches Zeichen dafür.

Trotzdem würde ich von hier verschwinden. Auf jeden Fall.

Ein Blick auf die Uhr: Viertel nach sechs. Wenn ich jetzt sofort losfuhr, war ich so rechtzeitig wieder zu Hause, als hätte ich gar nicht erst versucht von meinem gewohnten Tagesablauf abzuweichen. Ich würde Kristy einfach erzählen, meine Mutter habe in der Zwischenzeit auf meinem Handy angerufen, weil sie irgendwas von mir wollte, tut mir Leid, ehrlich, vielleicht ein andermal, aber ich muss los.

Ich stand auf, zog noch einen Lockenwickler raus, dann noch einen und noch einen, ließ sie nacheinander aufs Bett fallen, schnappte mir meine Tasche und war schon fast zur Tür raus, als Kristy mit einer kleinen Dose zurückkam.

»Das Zeug ist Spitze«, verkündete sie. »Man sieht im Handumdrehen so aus, als hätte man sich schön lang in der Sonne geaalt, und –«

»Mir ist gerade eingefallen . . .« Ich begann sofort mit meinen Ausreden. »Also, ich glaube wirklich –«

Sie sah mich an, ihre Augen wurden immer größer. Schließlich unterbrach sie mich: »Ja, du hast vollkommen Recht.« Ein bekräftigendes Nicken. »Mir war es gar nicht so klar, aber doch, ja, ich finde es so auch viel besser.«

»Was?«

»Na, deine Haare.« Sie betrat das Zimmer. Ich ging unwillkürlich rückwärts vor ihr her, bis ich mit den Kniekehlen an die Bettkante stieß. An mir vorbei angelte Kristy sich ein weißes Hemd, das auf den Kissen lag, und streifte es mir über, bevor ich auch nur den Mund aufmachen konnte, um sie zu bremsen. Aber ich hätte ohnehin nicht protestieren können, dazu war ich zu abgelenkt, denn:

»Meine Haare?«

Kristy verknotete die beiden Zipfel des Hemdes lose vor meinem Bauch.

»Was ist mit meinen Haaren?«

Sie hob beide Arme und kämmte mit gespreizten Fingern durch meine wild gelockte Mähne. »Ich wollte alles ausbürsten, für einen welligen Look, aber du hast Recht, so sieht es viel besser aus, so zerzaust und wuschelig. Eins a, wirklich. Aber schau’s dir selbst an!«

Sie lief zum Kleiderschrank, schloss die Tür. Und ich sah – mich.

Ja, die Jeans waren verwaschen und zerschlissen, das Herz auf dem Knie hingekleckst und viel zu schwarz. Aber sie passten mir super, es hätten wirklich meine sein können. Das Spaghettiträgertop, das im Licht der Deckenlampe funkelte und glitzerte, war eindeutig zu schrill; aber mit dem weißen Hemd darüber trotzdem okay, weil Funkeln und Glitzern durch das Hemd abgemildert wurden. Die Schuhe, die mir vor dem Anziehen total daneben vorgekommen waren, sahen zusammen mit der Jeans richtig klasse aus; zwischen beidem war der Abstand gerade so groß, dass man ein schmales Stück Knöchel sah. Und meine Haare? Verschwunden war der schnurgerade Scheitel, den ich jeden Morgen mit großer Mühe und geradezu mathematischer Präzision exakt in der Mitte meines Kopfes platzierte. Stattdessen fielen meine Haare locker über die Schultern, machten mein Gesicht viel weicher. Eigentlich hätte nichts zusammenpassen sollen. Aber irgendwie stimmte jedes Detail.

»Hab ich’s dir nicht gleich gesagt?« Lächelnd und voller Stolz auf ihr Werk stand Kristy hinter mir, während ich mein Spiegelbild anstarrte und das Vertraute in den Veränderungen suchte. Lauter einzelne Komponenten und Teile, ein Stückchen hier, ein Eckchen da – und doch ergab sich am Ende ein großes Ganzes, eine abgerundete Erscheinung. Dass aus all diesen Fragmenten etwas entstehen konnte, das tausend Möglichkeiten in sich barg – es war schon komisch. »Perfekt!«

 

Für ihr eigenes Styling brauchte Kristy wesentlich mehr Zeit: Retrolook im Stil der Sechziger mit weißen Gogo-Stiefeln, Minirock, pinkfarbener Bluse. Als wir endlich fertig waren und aus der Tür des Hexenhäuschens traten, wartete Bert schon seit fast einer halben Stunde auf uns.

»Endlich«, meinte er missmutig, als wir uns seinem Krankenwagen näherten. »Ich warte schon seit einer Ewigkeit.«

»Seit wann sind zwanzig Minuten eine Ewigkeit?«, fragte Kristy unschuldig.

»Seit man hier festsitzt und auf eine Person warten muss, die egoistisch und undankbar ist und denkt, die ganze Welt dreht sich nur um sie.« Bert drehte die Musik lauter – eine laute, dramatisch wehklagende Frauenstimme –, um sicherzugehen, dass jede Replik auf diese Bemerkung von dem Gesülze aus dem Autoradio übertönt wurde.

Kristy ließ ihre Handtasche elegant durch die offene Wagentür segeln, hielt sich an der hinteren Tür fest und schwang sich ins Innere der ehemaligen Ambulanz. Die Musik steuerte unaufhaltsam auf einen Höhepunkt zu, wurde noch intensiver. Vor allem hörte man jetzt sehr laut kreischende Gitarren. »Bert, drehst du das bitte mal leiser«, brüllte Kristy.

»Nein«, brüllte er zurück.

»Pink Floyd. Meine Strafe. Er weiß nämlich, wie sehr ich die Gruppe hasse«, sagte sie zu mir. Und zu Bert: »Dann mach wenigstens einen Moment das Licht an hier hinten. Macy kann nichts sehen.«

Prompt flackerte die Neonröhre über Kristys Kopf auf und erwachte summend zum Leben. Sie tauchte das Wageninnere in ein graues, fahles Licht. Was so stark an Krankenhaus erinnerte, dass ich zunehmend nervös wurde. Ich war nervös gewesen von dem Moment an, da wir aus dem Haus gekommen waren – klarer Fall von Krankenwagenphobie –, aber jetzt wurde das Gefühl fast übermächtig. »Für dich tut er’s wenigstens«, sagte Kristy und streckte die Hand aus. »Hier, nimm und zieh dich hoch. Sieht schlimmer aus, als es ist. Du schaffst es, garantiert.«

Ich nahm ihre Hand, ließ mich von ihr hochziehen – ich war überrascht, wie viel Kraft sie hatte – und im nächsten Augenblick stand ich drin. Um nicht oben anzustoßen, musste ich den Kopf leicht gesenkt halten. In meinen Ohren schwirrte das Neonsummen. An der einen Wand stand ein mit schwerem braunen Stoff bezogenes Sofa; zwischen dem Sofaende und der Rückenlehne des Fahrersitzes klemmte ein kleiner Tisch. Wie ein fahrbares Wohnzimmer, dachte ich. Kristy schnappte sich ihre Tasche, hangelte sich nach vorn und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Ich setzte mich aufs Sofa.

»Bert, bitte mach das leiser.« Kristy versuchte die Musik zu übertönen, die in meinen Ohren hämmerte. Doch er beachtete sie gar nicht, sondern drehte den Kopf, um betont gleichgültig aus dem Fenster zu blicken. »Bert. Bert!«

Und da, endlich – gerade als die Musik und mein Kopf zu explodieren drohten –, streckte Bert die Hand aus, drehte am Lautstärkeregler. Plötzlich war es bis auf ein langsames Klopfgeräusch still. Poch poch poch.

Endlich dämmerte mir, dass das Geräusch von der hinteren Tür hereindrang. Ich stand auf, öffnete sie. Monica, eine Zigarette im Mundwinkel, blickte zu mir hoch.

»Hand«, sagte sie.

»Erst ausmachen.« Bert beobachtete sie im Rückspiegel. »Im Bertmobil wird nicht geraucht, das weißt du genau.«

Monica nahm einen letzten, tiefen Zug, ließ die Kippe fallen, trat drauf, streckte erneut die Hand aus und ich zog sie hoch in den Wagen, so wie Kristy es mit mir gemacht hatte. Kaum war sie drinnen, sackte sie aufs Sofa, als hätte schon diese Minianstrengung sie völlig ausgepowert.

»Können wir jetzt endlich fahren?«, fragte Bert. Ich zog die Türen von innen wieder zu. Kristy fummelte vorne am Radio herum; statt der wehklagenden Frau war nun ein munterer, rhythmischer Popsong zu hören. »Oder braucht ihr noch ein paar Minuten, um mich endgültig in den Wahnsinn zu treiben?«

Kristy verdrehte die Augen. »Wo ist Wes?«

»Er will sich dort mit uns treffen. Falls wir jemals dort ankommen.« Genervt deutete er auf die Digitaluhr am Armaturenbrett: neunzehn Uhr siebenunddreißig. »Siehst du das? Der Abend ist schon halb vorbei. Vorbei, sage ich.«

»Stell dich nicht so an, es ist noch total früh«, meinte Kristy. »Wir haben jede Menge Zeit.«

Was gut war. Denn mit Bert am Steuer brauchten wir auch jede Menge Zeit.

Er fuhr nämlich langsam. Sehr langsam. Und nicht nur das – er war extrem vorsichtig und korrekt. Der Traum jedes Fahrlehrers. Selbst wenn Grün war, blieb er vorsichtshalber kurz stehen, bevor er weiterfuhr; er bremste an Bahnübergängen, wo seit Jahren kein Zug vorbeigekommen war, und hielt sich sklavisch an die Geschwindigkeitsbegrenzungen, wenn er nicht sogar langsamer fuhr als erlaubt. Seine Hände lagen vorschriftsmäßig am Lenkrad, also immer schön »auf zehn und zwei Uhr«, wie es in der Fahrtheorie gelehrt wird. Wie ein Luchs beobachtete er die Fahrbahn, um jederzeit auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.

Deshalb kam es mir vor, als wären wir Ewigkeiten unterwegs. Schließlich bogen wir von der Hauptstraße auf einen Schotterweg ab. Irgendwann fuhren wir dann nur noch über einen Grasstreifen durch ein Wäldchen, bis wir eine Lichtung erreichten. In der Mitte standen ein paar Picknicktischen aus Holz, drum herum mehrere Autos. Auf den Tischen lagen Taschenlampen, deren Strahlen in alle Richtungen wiesen. Dazwischen hockten jede Menge Leute. Bert fuhr rückwärts zwischen die anderen geparkten Wagen und machte den Motor aus.

»Endlich.« Kristy schnallte sich schwungvoll ab.

»Du hättest auch laufen können«, meinte Bert.

»Kommt mir auch so vor, als wären wir gelaufen«, antwortete sie und öffnete die Beifahrertür. Stimmen drangen zu uns herein, jemand lachte. »Ich brauche dringend ein Bier. Möchte noch wer eins?«

»Ich.« Monica erhob sich und schob die hinteren Türen auf. Mit gequältem Gesicht ließ sie sich vorsichtig von der Laderaumkante ins Gras herunter und trottete von dannen.

»Macy?«, fragte Kristy.

»Nein, danke«, sagte ich.

»Wie du willst.« Kristy kletterte aus dem Führerhaus und warf die Tür hinter sich zu. »Bin gleich wieder da.«

Sie überquerten die Lichtung und gingen an den Tischen vorbei zu ein paar Bäumen, wo jemand ein Bierfass aufgestellt hatte. Zwei Typen machten den Ausschank. Einer von beiden, ein großer Rothaariger, musterte Kristy mit anerkennender Miene und fing sofort an, ihr ein Bier zu zapfen, während Monica gelangweilt daneben stand. Der Kumpel des Rothaarigen blickte sie unauffällig von der Seite an und sah aus, als sammelte er Mut, um sie anzuquatschen.

Bert hockte auf der hinteren Stoßstange des Krankenwagens und checkte, wer alles da war. Ich setzte mich neben ihn, ließ die Füße baumeln. Ich kannte kaum jemanden, was mich nicht weiter überraschte, weil die meisten auf eine andere Highschool gingen als ich, und zwar auf eine, die exakt am anderen Ende der Stadt lag. Trotzdem entdeckte ich schließlich ein paar Leute von meiner Schule, fragte mich allerdings, ob sie mich in meinem jetzigen Aufzug überhaupt erkennen würden.

Während mein Blick über die Lichtung wanderte, sah ich plötzlich Wes. Er stand mit ein paar anderen Jungen um einen alten Ford Mustang herum und redete. Sofort machte irgendwas in meinem Bauch einen kleinen Hopser, genau wie an dem allerersten Abend vor unserem Haus, als ich ihn zum allerersten Mal gesehen hatte. Und dann wieder an dem Abend, als er mich aus dem Schlagloch abgeschleppt hatte. Und seitdem eigentlich jedes Mal, wenn wir uns begegneten. Ein Gefühl, das ich nicht kannte und nicht verstand, ein Gefühl, über das ich absolut keine Kontrolle hatte. So was Bescheuertes, dachte ich, und glotzte trotzdem zu ihm hinüber.

Kurze Zeit später löste er sich aus der Gruppe und überquerte die Lichtung. Ich bemühte mich angestrengt ihn nicht ununterbrochen anzustarren, und dabei fiel mir etwas auf: Ich war nicht die Einzige, die hinter ihm herschaute. Es gab außer mir mindestens noch drei Mädchen, deren Blicke genauso an ihm hingen wie meine. Ob sie sich wohl genauso dämlich vorkamen wie ich? Wahrscheinlich nicht.

»Hallo«, sagte Wes, als er uns erreicht hatte. »Wo wart ihr denn so lang?«

Bert verdrehte die Augen und deutete mit dem Kinn auf Kristy, die gerade mit Monica im Schlepptau zu uns zurückkam. »Was glaubst du denn?«

»Das habe ich gehört«, sagte Kristy. »Aber es dauert, bis man so aussieht. Dieses Outfit, dieses Styling, alles passt zu allem – das ist nichts, was man mal eben so mit links hinkriegt.«

Bert sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Ach nein?«

Sie achtete gar nicht auf ihn, sondern fuhr fort: »Aber ich glaube, ich habe mir völlig umsonst solche Mühe gegeben. Die Aussichten hier sind nicht gerade glänzend.«

»Was ist mit dem Kerl am Bierfass?«, fragte Bert.

»Ich bitte dich.« Sie seufzte tief. »So nötig habe ich es nun auch wieder nicht. Ich will doch keinen 08 / 15-Typen

Aus dem Jeep, der neben uns parkte, ertönte lautes Gelächter. Im nächsten Moment kam ein blondes Mädchen in einem Tanktop auf uns zu. Anscheinend hatte sie bereits ziemlich viel getrunken, denn sie schwankte leicht. »He, kennen wir uns nicht?« Sie deutete auf mich. »Dich kenne ich doch, oder?«

»Äh . . . ich weiß nicht«, antwortete ich, dabei wusste ich genau, wer sie war. Sie hieß Rachel Newcomb und in der Mittelstufe hatten wir zusammen trainiert, uns allerdings seit Jahren nicht mehr gesehen.

»Doch, doch.« Sie schnippte mehrmals mit den Fingern, als könnte sie ihrem Gedächtnis dadurch auf die Sprünge helfen. Die anderen standen daneben und sahen uns zu wie bestellt und nicht abgeholt, aber das schien Rachel nicht mal aufzufallen. Kristy zog leicht pikiert die Augenbrauen hoch.

»Du kennst mich, Rachel«, mischte Bert sich ein. »Ich heiße Bert, weißt du nicht mehr? In den letzten Sommerferien war ich dein Tutor im College-Vorbereitungskurs. In Mathe, daran erinnerst du dich doch bestimmt.«

Rachel warf ihm einen flüchtigen Blick zu, richtete ihre Aufmerksamkeit jedoch sofort wieder auf mich. »Ja, Shit, jetzt weiß ich es wieder. Wir haben zusammen trainiert, im Laufteam der Mittelschule. Und jetzt bist du mit dem Typen zusammen, der uns immer damit nervt, wir sollten wiederverwerten . . . äh . . . wertschätzen . . . du weißt schon, das mit der Umwelt.«

Ich brauchte eine Sekunde, bis der Groschen fiel. »Du meinst das Recycling-Projekt?«

»Genau!« Sie klatschte in die Hände. »Das meine ich.«

Aus dem Jeep drang Gelächter und jemand sagte: »Mann, Rachel, bist du blöd!«

Was Rachel gar nicht weiter zu stören schien. Sie pflanzte sich ungeniert zwischen Bert und mich. »Weißt du noch, wie viel Spaß wir beim Training hatten?« Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Und du, du warst schnell. Scheiße, warst du schnell.«

»Ach was«, sagte ich und hob intuitiv die Hand, um mein Haar rechts und links vom Scheitel zu glätten, bis ich merkte, dass es gar nicht gescheitelt war. Kristy hörte aufmerksam zu, wobei sie mich nicht aus den Augen ließ.

»Natürlich warst du schnell.« Wie um ihre Worte zu unterstreichen, bohrte Rachel einen Finger in Berts Arm. »Ihr hättet sie mal sehen sollen. Sie war so schnell, es sah aus, als würde sie . . .«

Eine betretene Pause entstand, in der wir alle gemeinsam auf das Verb warteten.

». . . fliegen«, sagte Rachel schließlich. Kristy schnaubte auf. »Als hätte sie Flügel, verflucht noch mal. Sie hat alles gewonnen, jedes Rennen. Weißt du nicht mehr? Wenn du antratst, hatte kein anderer eine Chance. Da hättest du schon auf den Start verzichten müssen.«

»Na ja«, sagte ich und beschwor sie lautlos, endlich zu verschwinden. Bevor sie noch was ausplaudern konnte, das sie nicht ausplaudern sollte. Ich jobbte nämlich auch deshalb so gern für Wish Catering, weil mich dort niemand kannte. Keiner von Wish ging auf dieselbe Schule wie ich und sie wussten über mich nur das, was ich sie freiwillig wissen ließ. Ich hatte diese Anonymität genossen, mehr noch, sie war bisher meine einzige Erholung in diesen Sommerferien. Ich hatte mich gefühlt wie eine sauber abgewischte Tafel. Und jetzt tauchte auf einmal diese Rachel Newcomb auf und schmierte meine Geheimnisse auf die Tafel, so dass sie für alle deutlich sichtbar wurden.

»Unser Team hieß Das Rasende Rudel.« Rachel hatte sich mittlerweile Monica zugewandt. Sie lallte unüberhörbar. »Bescheuerter Name, was? Möchte mal wissen, wer sich so was ausdenkt. Als wären wir Hunde, die man losjagt, um ein Rennen zu gewinnen. Lauf, Bello, lauf. Wuff wuff!«

»Worum geht’s hier eigentlich?«, fragte Kristy betont beiläufig in die Runde. Ich spürte, dass mein Gesicht wie Feuer brannte, und zwar noch bevor ich aufblickte und merkte, dass Wes mich beobachtete.

Rachel schien das alles überhaupt nicht mitzubekommen. Sie klatschte mir mit der flachen Hand aufs Knie. »Hör zu, ich muss dir was sagen. Du sollst nämlich wissen . . .«

Ich wusste, was jetzt kam. Woher? Keine Ahnung. Jedenfalls wusste ich es, aber nicht, wie ich sie hätte aufhalten können. Ich konnte nur noch aus dem Weg gehen, mich an den Rand stellen und zuschauen, wie alles zusammenbrach.

»Es ist mir echt wichtig, dass du eines weißt«, wiederholte sie, ernst und eindringlich – als wären wir allein, als stünden keine Zuschauer um uns herum. »Egal was die anderen sagen, ich finde nicht, dass du total komisch geworden bist, seit das mit deinem Vater passiert ist. Ich meine, das war doch echt der Horror. Du warst dabei, Mensch. Wer kann schon mit so was umgehen? Ich meine: zusehen, wie jemand stirbt, vor deinen Augen.«

Ich starrte sie einfach bloß an, stumm, wie gelähmt: ihr gerötetes Gesicht, den Plastikbecher mit Bier in ihrer Hand, die weißen Linien, die ihre Bikiniträger auf ihrer gebräunten Haut hinterlassen hatten und die neben den Trägern ihres Tops hervorblitzten. Denn den anderen konnte ich nicht mehr ins Gesicht sehen, es ging nicht. Das war’s also mit meinen Märchen über mich selbst, mit dem Luxus unsichtbarer Narben. Sie hatte nicht lang gedauert, diese Phase, und jetzt war sie vorbei. Ich war mir fast sicher, dass ich irgendwo eine Uhr schlagen hörte.

»Rachel!«, brüllte jemand aus dem Jeep. »Komm endlich wieder her oder wir fahren ohne dich.«

»Ich muss los.« Rachel stand auf, warf die langen Haare über die Schultern und wiederholte, als hätten wir sie beim ersten Mal nicht laut und deutlich gehört: »Ich muss jetzt los. Aber ich hab’s ernst gemeint. Das, was ich gerade gesagt habe, meine ich. Vergiss das nicht. Denk immer an das, was ich dir gesagt habe. Und dass ich es ernst gemeint habe, okay?«

Ich war unfähig zu nicken, geschweige denn einen Ton von mir zu geben. Rachel stolperte Richtung Jeep, wo sie mit lautem Gelächter und ein paar spöttischen Sprüchen von wegen Wertschätzung und Wiederverwertung empfangen wurde. Dann stellte jemand das Radio an. Ein Song von Van Morrison ertönte, bei dem die ganze Truppe in dem Jeep sofort laut und schief mitsang.

Es war einer dieser Momente, in denen man sich wünscht, man könnte sich in Luft auflösen. Zusammenschrumpfen, jedes einzelne Körpermolekül winzig klein werden lassen, bis man nicht mehr da ist. Aber ich wusste, so was war unmöglich. Es gab immer ein Danach. Deshalb hob ich den Kopf. Sah Kristy an. Merkte, dass Bert mich beobachtete. Nahm Wes’ und Monicas Gesichter aus den Augenwinkeln wahr. Ich atmete einmal tief durch, um – ja, was sollte ich sagen? Keine Ahnung. Doch ich kam ohnehin nicht dazu, den Mund aufzumachen, denn plötzlich saß Kristy neben mir. Und nahm meine Hand: »Das war ja wohl die größte Idiotin, die mir je untergekommen ist.«

»Allerdings«, meinte Bert leise, doch als ich endlich wagte, ihn direkt anzuschauen, sah ich nicht das verhasste Oh-das-arme-Mädchen-Gesicht. Nein, er schnitt eine belustigte Grimasse, die wohl ausdrücken sollte, dass er Rachels Auftritt mehr als daneben fand. Rachel, nicht mich!

Kristy beugte sich über mich hinweg zu ihm vor und fragte: »War das nicht die – ich meine, aus dem Mathekurs –, der du erklären musstest, was eine ungerade Zahl ist?«

Bert nickte: »Zweimal.«

»Die Frau ist echt dümmer, als die Polizei erlaubt!«, sagte Kristy. Was Monica durch ein entschiedenes »Mmmhmmm« bekräftigte.

Kristy verdrehte noch nachträglich die Augen und trank einen Schluck Bier. Ich spürte die Wärme ihrer Handfläche in meiner. Plötzlich fiel mir auf, wie lange es her war, seit jemand meine Hand gehalten hatte, und ich musste an Wes’ Skulptur denken, das Herz in der Hand. Ich sah ihn an. Er erwiderte meinen Blick. Und wie bei Bert war Wes’ Blick anders, als ich erwartet hätte. Weder Mitleid noch Trauer lagen darin. Nein, der Blick drückte aus: An unserem Verhältnis hat sich nichts geändert, ich sehe dich noch genauso wie vorher. Außerdem weiß ich, wie du dich fühlst. Mir wurde auf einmal bewusst, dass die Gesichter der Menschen, die mich in den letzten Monaten angestarrt hatten, trotz allen vermeintlichen Mitgefühls undurchdringliche Flächen gewesen waren und keine Spiegel, in denen ich mich oder meine Trauer hätte wiedererkennen können. Meine Trauer, meine Gefühle, die musste ich ganz allein ertragen. Das hatte ich jedenfalls geglaubt. Bis zu diesem Augenblick, in dem sich unsere Blicke trafen. Doch als ich Wes jetzt ins Gesicht schaute, hatte ich das Gefühl, etwas wiederzuerkennen – wie man etwas wiedererkennt, das man zwar noch nie gesehen hat, wovon man jedoch weiß. Es existiert. Denn endlich, endlich schien tatsächlich mal jemand zu begreifen, wie es mir ging.

»Aber ihr Top hat mir gefallen«, stellte Kristy fest. »Ich habe einen Rock, zu dem es perfekt passen würde.«

Danach herrschte wieder Schweigen. Wir standen einfach zusammen und sagten nichts. Auf der Lichtung spielte jemand mit einer Taschenlampe rum, ließ ihre Strahlen über die Baumkronen wandern, so dass mal hier ein Ast, mal dort ein paar Blätter aufleuchteten und dann wieder im Dunkeln versanken. Ich wusste, in den letzten paar Minuten hatte sich mein Leben um hundertachtzig Grad gedreht. Ich hatte versucht mich rauszuhalten, den anderen nur das von mir zu zeigen, was ich wollte. Als wäre es möglich, nur Schnipsel und Teilstücke von mir preiszugeben, und zwar gerade so viel und genau so, wie ich es wollte. Doch so etwas funktioniert nur eine gewisse Zeit lang und dann eben nicht mehr. Irgendwann entsteht auch aus den winzigsten Fragmenten unweigerlich ein Ganzes.

 

Eine Stunde später hockten wir drei Mädchen auf dem Sofa im Bertmobil und unterhielten uns ohne noch irgendetwas zu verschweigen oder zurückzuhalten. Ein wahrer Anfall von Offenheit und Ehrlichkeit. Vielleicht lag’s am Bier.

Ich trank normalerweise so gut wie keinen Alkohol. Aber nach der Szene mit Rachel war ich so durcheinander gewesen, dass ich Kristys Angebot angenommen hatte, mir ein kleines – aber bitte wirklich nur ein ganz kleines – Bier zu holen. Und ich bräuchte es selbstverständlich nicht zu trinken, wenn ich nicht wolle, meinte sie noch. Doch nach ein paar Schlucken fingen wir an, über Jungs zu reden, und von da an gab’s kein Halten mehr.

»Also, mein letzter Freund hat mich einfach irgendwo mitten in der Pampa stehen lassen. Und das meine ich wörtlich.« Kristy schlug ein weißes Stiefelbein übers andere. »Das heißt, von jetzt an kann es nur noch besser werden, denn das ist wohl kaum zu toppen. Im Negativen, meine ich. Auf jeden Fall möchte ich endlich mal wen kennen lernen, der nett ist.«

Merkwürdig war es schon: Da hockte ich mit den beiden zusammen und quatschte, als wäre das mit Rachel nie passiert. Wes war fast unmittelbar nach unserem intensiven Blickwechsel losgezogen, weil er jemanden suchen wollte, der ihm ein paar ausrangierte Stahlrohre versprochen hatte. Bert war mitgegangen, Kristy, Monica und ich verzogen uns aufs Sofa. Mein frisch enthülltes Geheimnis schien gar keine Rolle mehr zu spielen. Im Gegenteil, es löste sich auf wie eine dunkle Wolke, die immer heller wird und schließlich ganz verblasst. Als hätten die anderen es schon wieder vergessen oder zumindest erst mal weggelegt, wie irgendeine Sache, die man gerade nicht braucht.

»Wisst ihr, was ich mir wünsche? Endlich mal einen intelligenten Freund.« Kristys Stimme holte mich zum Thema unserer Unterhaltung zurück. »Ich habe die Schnauze voll von den Typen, die sich kaum meinen Namen merken, geschweige denn ihn richtig buchstabieren können. Ich möchte jemanden, der was auf dem Kasten hat, nicht so eine Dumpfbacke. Echt, am liebsten wäre ich mal mit einem echten Superhirn liiert.«

»Nein, das willst du nicht wirklich, es würde dir nämlich nicht gefallen.« Ich nahm noch einen Schluck Bier und merkte erst hinterher, dass mich die beiden aufmerksam ansahen und auf eine Erklärung warteten. »So einen Freund hatte ich nämlich mal«, fuhr ich deshalb fort. »Vielleicht habe ich ihn auch noch. Keine Ahnung, wo wir miteinander stehen.«

»Das sind die Schlimmsten.« Kristy nickte zustimmend.

Die Bemerkung verwirrte mich. »Was sind die Schlimmsten?«

»Die Freunde, bei denen man nicht weiß, woran man ist. Ob man nun noch eine Beziehung hat oder nicht.« Kristy seufzte. »Eigentlich stehen sie auf dich, aber irgendwie auch nicht. Mal wollen sie mit dir zusammen sein, dann wieder nicht. Das Einzige, was sie definitiv wissen, ist, dass sie dir an die Wäsche wollen.«

»Mmm-hmmm.« Vehemente Zustimmung von Miss Monoton.

»So ist es auch wieder nicht«, sagte ich. »Eher so eine Art Trennung auf Probe. Wir sind nicht richtig zusammen, aber auch nicht richtig auseinander.«

»Trennung auf Probe«, wiederholte Kristy. Aus ihrem Mund klang das wie ein Fremdwort. »Und das heißt . . .?« Die Geste, die diese Frage begleitete, sollte wohl ausdrücken: Pünktchen Pünktchen Pünktchen – bitte ergänzen.

»Das heißt, dass er anscheinend das Gefühl hat, wir wollen nicht das Gleiche, wir hätten nicht dieselben Ziele oder Erwartungen. Deshalb haben wir uns geeinigt, dass wir uns bis zum Ende der Sommerferien nicht sehen und danach entscheiden, wie’s weitergehen soll.«

Darüber mussten Kristy und Monica erst einmal nachdenken.

»Klingt grauenhaft erwachsen«, meinte Kristy schließlich.

»Jasons Idee, nicht meine.«

»Und wie lange dauert diese so genannte Trennung auf Probe schon?«

Ich musste einen Moment überlegen, dann antwortete ich: »Seit dem Abend, an dem ich den Job bei euch angenommen habe.«

Kristy machte vor Überraschung ganz große Augen, während ich fortfuhr: »Ich hatte die E-Mail, in der er mir das geschrieben hat, gerade erst bekommen, vielleicht eine Stunde vorher oder so.«

»Witzig, das habe ich wohl irgendwie gespürt.« Kristy wandte sich an ihre Schwester. »Weißt du noch? Ich habe dir gleich gesagt, dieses Mädchen hat einen Freund oder ist sonst wie liiert. Stimmt’s, Monica?«

»Mmm-hmmm« lautete deren Kommentar.

»Du sahst einfach . . .« Kristy unterbrach sich, suchte nach dem richtigen Wort. ». . . vergeben aus. Außerdem hast du kaum auf Wes reagiert. Ich meine, schon, ein bisschen, aber nicht so heftig wie der Rest der weiblichen Welt normalerweise. Dir ist etwas schwindelig geworden, aber du bist nicht in Ohnmacht gefallen. Bäng!«

»Wie . . . bäng?«

Kristy schüttelte den Kopf, als traute sie ihren Ohren nicht. »Komm, du weißt genau, was ich meine. Dass er absolut umwerfend aussieht, könnte dir selbst ’ne Blinde sagen.«

Monica seufzte zustimmend.

»Und warum machst du dich dann nicht an ihn ran?«, fragte ich ziemlich unverblümt.

»Geht nicht«, antwortete sie trocken. »Inzwischen sind wir praktisch wie Bruder und Schwester. Aber als ich ihn kennen lernte, war ich natürlich total in ihn verknallt, also damals, als wir zu Stella zogen, weil meine Mutter endgültig abhob und sich auf ihren Selbstfindungstrip verpisste. Monica ging’s übrigens genauso.«

»Hör bloß auf«, meinte Monica düster.

»Sie hat’s immer noch nicht ganz überwunden«, sagte Kristy. Monica wandte sich ab und atmete entnervt aus.

»Ich habe mich auf den Kopf gestellt und mit den Beinen gewackelt, damit er mich beachtet«, fuhr Kristy fort. »Aber er war gerade erst aus Myers wiedergekommen und auch der Tod seiner Mutter lag noch nicht lange zurück. Das war alles echt hart für ihn, es gab also ein paar Sachen, an denen er schwer zu knacken hatte. Mit solchen blöden Argumenten habe ich jedenfalls versucht mich zu beruhigen, sonst hätte ich es überhaupt nicht ausgehalten, dass er mir widerstehen konnte.«

»Myers?«

Kristy nickte. »So ’ne Art Jugendknast. Aber sie nennen es Resozialisierungseinrichtung für straffällige Jugendliche.«

Doch deswegen hatte ich gar nicht nachgefragt, denn das wusste ich. Jason hatte nämlich schon als ehrenamtlicher Tutor in Myers gearbeitet. Ich war öfter mit ihm hingefahren und hatte im Auto gelernt, während er reinging, um seine Nachhilfestunden zu geben. Delia hatte erzählt, Wes sei verhaftet worden. Zur Strafe hatte man ihn also nach Myers geschickt. Vielleicht waren wir sogar gleichzeitig dort gewesen, er hinter dem Zaun mit Stacheldrahtverstärkung, ich draußen davor in Jasons Wagen, während im Hintergrund auf der Schnellstraße die Autos vorbeirasten.

»Erzähl uns doch mal ein bisschen von deinem Freund, der gar nicht dein Freund ist, jedenfalls nicht so richtig.« Kristy klopfte im Takt zur Musik mit dem Fuß auf den Boden.

»Wir sind . . . waren . . . was auch immer seit anderthalb Jahren zusammen.«

In der Hoffnung, die Auskunft würde genügen, nahm ich einen Schluck Bier. Aber die beiden blickten mich erwartungsvoll an. Na gut, dachte ich, was soll’s? Wenn sie unbedingt in die Banalitäten meines Alltags eingeweiht werden wollten, bitte.

»Er ist gleich am Anfang der Sommerferien weggefahren und nach zwei Wochen hat er beschlossen, es wäre wohl besser, wenn wir uns vorläufig trennen. Ich war ziemlich fertig deswegen. Bin ich im Prinzip immer noch.«

»Er hat sich also für wen anders entschieden.« Keine Frage, sondern eine Klarstellung. Von Kristy, natürlich.

»Ich glaube, darum geht’s nicht. Er ist im Schlaumeiercamp.«

»Häh?«, fragte Monica.

»Schlaumeiercamp«, wiederholte ich. »Ein Ferienlager für Hochbegabte.«

»Also hat er im Schlaumeiercamp wen anders kennen gelernt«, meinte Kristy.

»Ich habe doch gesagt, daran liegt es nicht, es geht nicht um wen anders.«

»Sondern?«

Auf einmal kam es mir falsch vor, darüber zu reden. Außerdem war es mir peinlich: Was geschehen war, was ich getan hatte . . . was ja so schlimm gewesen war, dass Jason sich daraufhin von mir getrennt hatte. Die ganze Sache war mir so peinlich, dass ich bisher nicht mal meiner Mutter davon erzählt hatte, meiner Mutter, der ich doch eigentlich alles hätte erzählen können, oder? Und dann sollte ich es vor diesen beiden Mädchen ausplaudern, einfach mal so? Ihre Reaktion konnte ich mir lebhaft vorstellen.

»Es gibt mehrere Gründe«, antwortete ich schließlich.

Wieder dieses erwartungsvolle Schweigen.

Ich holte tief Luft. »Im Prinzip fing es damit an, dass ich am Ende einer E-Mail Ich liebe dich geschrieben habe. Ihr wisst, das geht schon ganz schön weit; ihm jedenfalls ging es offenbar zu weit. Es hat ihn nervös gemacht. Außerdem hatte er das Gefühl, ich würde mich nicht genug auf meinen Job in der Bibliothek konzentrieren. Wahrscheinlich gibt es noch ein paar Gründe, aber das sind die wichtigsten, denke ich.«

Die beiden starrten mich an. Ausnahmsweise brach Monica das Schweigen als Erste: »Hör bloß auf.«

»Moment mal.« Kristy richtete sich kerzengerade auf, so als bräuchte sie ihre ganze Höhe, Länge, Größe – dabei war sie ja eher klein –, um zu sagen, was sie als Nächstes sagte: »Du bist seit anderthalb Jahren mit dem Typen zusammen und darfst ihm nicht sagen, dass du ihn liebst?«

»Es ist kompliziert.« Ich nahm noch einen Schluck Bier.

»Und er hat sich von dir getrennt, weil er findet, du konzentrierst dich nicht genug auf deine Arbeit?«, fügte sie hinzu.

»Die Bibliothek ist ihm sehr wichtig.«

»Ist er neunzig oder was?«

Ich starrte in mein Bier. »Du verstehst das nicht. Er war mein Leben, seit anderthalb Jahren. Er hat einen besseren Menschen aus mir gemacht.«

Daraufhin verschlug es Kristy erst einmal die Sprache. Ich fuhr mit dem Finger am Rand meines Bechers entlang.

»Inwiefern?«, fragte sie schließlich.

»Er ist eben in jeder Beziehung vollkommen«, erwiderte ich. »Superzensuren, superintelligent, superengagiert, superfleißig. Er kann einfach alles. Mit ihm zusammen zu sein tat mir gut. Dadurch wurde ich auch besser, in jeder Beziehung. Nicht super, aber besser.«

»Bis . . .?«

»Bis ich ihn enttäuscht habe«, sagte ich. »Ich habe meine Erwartungen zu hoch geschraubt, ich habe geklammert. Er hat eben hohe Maßstäbe.«

»Und du nicht«, sagte Kristy.

»Doch, natürlich.«

Monica atmete hörbar aus und schüttelte missbilligend den Kopf. »Nn-nööö.«

Kristy pflichtete ihr bei ohne mich eine Sekunde aus den Augen zu lassen: »Sehe ich ganz genauso.«

»Wie meint ihr das?«, fragte ich.

»Merkst du eigentlich, wie du klingst?«, entgegnete Kristy. »Willst du wirklich behaupten, er hat das Recht, dich abzuservieren, weil du gewagt hast, was für ihn zu empfinden? An ihm zu hängen? Nach anderthalb Jahren!? Oder weil du irgendeinen blöden Büchereijob nicht ganz so ernst genommen hast, wie du seiner Meinung nach hättest tun sollen?«

So was Ähnliches hatte ich tatsächlich gerade gesagt, das war mir auch klar. Doch aus Kristys Mund klang es plötzlich vollkommen anders.

Während ich noch versuchte zu begreifen, woran das lag, redete sie bereits weiter: »Ich gebe zu, ich kenne dich noch nicht sehr gut. Aber was ich kenne und sehe, ist ein Mädchen, bei dem jeder Junge, vor allem irgend so ein Eierkopf, der es nötig hat, in irgendwelche Hirnilager zu fahren . . .«

»Es ist ein Feriencamp für ganz normale Hochbegabte«, murmelte ich dazwischen.

». . . jeder Junge würde sich freuen, von dir zu hören, dass du ihn liebst. Und so einer sollte sich geradezu glücklich schätzen. Du hast unheimlich was drauf, siehst super aus, bist total nett. Und er? Was ist an ihm eigentlich so besonders? Woher nimmt er die Frechheit, über dich zu urteilen?«

»Er ist eben Jason.« Ein besseres Argument fiel mir nicht ein.

»Er ist ein Idiot.« Kristy kippte ihr restliches Bier in einem Zug. »An deiner Stelle wäre ich froh, ihn los zu sein. Leute, die es schaffen, dass man sich mies und minderwertig vorkommt, sind nämlich das reinste Gift.«

»Es ist nicht seine Schuld, wenn ich mir mies und minderwertig vorkomme«, sagte ich, wusste aber schon in dem Moment, als meine Lippen die Worte noch formten, dass er genau das tat. Beziehungsweise ich es zuließ. Schwer zu sagen, wie rum.

»Was du brauchst, nein – was du verdienst, ist jemand, der dich auf Knien anbetet und auf Händen trägt«, sagte Kristy. »Und zwar, weil du bist, wie du bist. Der in dir kein Projekt sieht, sondern den Hauptgewinn, verstehst du?«

»Ich bin kein Hauptgewinn.«

»Doch, natürlich!«, sagte sie im Brustton der Überzeugung. Innerlich erschrak ich beinahe: Wie konnte sie sich dessen so sicher sein? Sie kannte mich doch kaum.

»Aber weißt du, was mich so aufregt? Dass du es nicht mal selber weißt. Das mit dem Hauptgewinn, meine ich.«

Ich wandte den Kopf, blickte hinaus auf die Lichtung. Egal wo ich war – immer und überall schien es jemanden zu geben, der wollte, dass ich mich änderte.

Kristy streckte die Hand aus, legte sie auf meine und ließ sie eisern da, bis ich ihren Blick einfach erwidern musste. »Ich will nicht an dir rummeckern«, sagte sie.

»Nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir wissen beide, dass das Leben kurz ist, Macy. Zu kurz, um auch nur eine Minute mit jemandem zu verschwenden, der deine Qualitäten nicht zu schätzen weiß. Einfach nicht schnallt, was für ein wunderbarer Mensch du bist.«

»Neulich hast du gesagt, das Leben sei lang«, konterte ich. »Was stimmt denn nun?«

»Beides.« Kristy zuckte unbekümmert die Schultern. »Hängt davon ab, wie man es lebt. Alles ist im Fluss, ändert sich ständig. Das gilt übrigens sowohl fürs Jetzt als auch für alles, von dem man denkt, es wäre für immer und ewig.«

»Nichts kann gleichzeitig so und so sein, wenn so und so sich diametral widersprechen«, entgegnete ich. »Das ist unmöglich.«

»Nein.« Sie drückte meine Hand. »Weißt du, was unmöglich ist? Dass wir denken, es müsste immer alles entweder so oder so sein. Ohne Zwischenstufen, ohne Widersprüche. Als ich nach meinem Unfall im Krankenhaus lag, dachten alle, ich würde sterben. Mir ging’s nicht nur schlecht, ich war am Ende, ehrlich.«

»Mmm-hmmm«, meinte Monica zustimmend und schaute ihre Schwester an.

Kristy nickte ihr liebevoll zu, bevor sie fortfuhr: »Damals war das Leben echt kurz. Aber jetzt, wo es mir wieder besser geht, kommt es mir so lang vor, dass ich das Gefühl habe, ich muss die Augen zusammenkneifen, um bis an den Horizont zu sehen. Es kommt auf den Blickwinkel an, Macy. Dasselbe habe ich vorhin gemeint, als ich gesagt habe, alles ändert sich. Wir denken immer, was ist, ist und bleibt auch so. Dabei kann es jederzeit vorbei sein. Jetzt, gleich, in einer Stunde, in hundert Jahren. Bei dir, bei mir, bei jedem. Deine persönliche Ewigkeit. Aber wie lang sie dauert, kann man nie genau wissen. Deshalb ist es so wichtig, im Augenblick zu leben und darauf zu achten, dass jede Stunde es wert ist, gelebt zu werden.«

»Mmm-hmmm.« Monica nickte und zündete sich eine weitere Zigarette an.

»Du musst dich entscheiden.« Kristy beugte sich näher zu mir. »Wie soll dein Leben aussehen? Es ist deine Entscheidung. Wenn deine persönliche Ewigkeit morgen vorbei wäre – wären das Bisher und das Heute dann so, wie du sie gern gehabt hättest?«

Eigentlich hatte ich bisher geglaubt diese Entscheidung längst getroffen zu haben. Schließlich hatte ich in den letzten anderthalb Jahren mit Jason alles getan, was ich konnte, um mein Leben dem seinen anzupassen, um sicherzustellen, dass ich in seiner perfekten Welt, wo alles einen Sinn ergab, ein Plätzchen fand. Aber es hatte nicht funktioniert.

»Weißt du, womit wir uns abfinden müssen? Dass es keine Garantien gibt«, meinte Kristy. »Nichts ist sicher. Gerade du solltest das besser wissen als jeder andere.« Eindringlich blickte sie mich an, wollte sich offensichtlich davon überzeugen, dass ich auch wirklich verstand, was sie meinte. Und ich verstand es, natürlich verstand ich es. Hatte es im Grunde längst gewusst. »Also, hab keine Angst. Sei lebendig. Leb einfach.«

Doch das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich hatte bereits den Schreck meines Lebens abbekommen. Nach allem, was ich erlebt hatte, fiel es mir schwer, zu glauben, dass man einfach leben konnte, ohne ständig Angst davor zu haben, welche bösen Überraschungen noch auf einen lauerten. »Das ist dasselbe«, sagte ich.

»Was?«

»Angst haben und leben.«

»Nein«, erwiderte Kristy. Und betonte den nächsten Satz so langsam und sorgfältig, als müsste sie mir etwas in einer mir unbekannten Sprache beibringen. Als würde sie Worte benutzen, die ich zuerst einmal überhaupt nicht begreifen würde, weder die Worte selbst, geschweige denn ihren Sinn – so fremd war mir das, was sie mir zu sagen versuchte. Noch. »Nein, Macy, es ist nicht dasselbe.«

Es ist nicht dasselbe, wiederholte ich im Stillen. Und wenn ich jetzt daran zurückdenke, habe ich das Gefühl, dass die eigentliche Kehrtwende genau in diesem Moment stattfand. Von da an war alles anders. Wirklich anders. Auch wenn ich Kristys Worte nicht laut aussprach, sondern bloß innerlich vor mich hin sagte, bekräftigte ich dadurch meinen eigenen, ganz persönlichen Wunsch: dass diese Worte irgendwie irgendwann Realität werden und auch für mich gelten würden.

 

Kurze Zeit später machten Kristy und Monica sich noch einmal Richtung Bierfass auf. Ich stieg zwar ebenfalls aus, blieb allerdings auf der Stoßstange des Bertmobils hocken. Mir war leicht schwindelig, was sowohl an dem bisschen Bier lag, das ich getrunken hatte, als auch an allem, was Kristy zu mir gesagt hatte. Selbst unter günstigeren Umständen hätte es mich vermutlich umgehauen. Im Moment konnte ich nicht mal drüber nachdenken, ohne dass mir sofort anders wurde.

Als ich das erste Mal bewusst wieder aufblickte, sah ich, dass Wes mit ein paar Rohren unter dem Arm über die Lichtung auf mich zukam. Ich blieb hocken, wo ich war, beobachtete unauffällig, wie er langsam auf mich zuschlenderte, und fragte mich plötzlich, wie es wohl wäre, wenn er meinetwegen käme. Wenn er auf mich zuliefe, um mich zu sehen, um mit mir zusammen zu sein. Es war ganz anders als bei Jason; wenn Jason auf mich zugekommen war, stieg in mir jedes Mal so was wie ein Gefühl von Sicherheit auf. Sein Anblick half mir mich zusammenzureißen. Bei Wes passierte exakt das Gegenteil. Ein Blick, und ich hatte keine Ahnung mehr, wer oder wo ich war oder was ich tat.

»Hallo«, sagte er, als er schon ziemlich dicht bei mir war. Ich tat so, als wäre ich überrascht, ihn plötzlich vor mir zu sehen, um mich innerlich vor dem größten Chaos zu bewahren, was zunächst auch ganz gut klappte. Bis er sich neben mich setzte. Prompt fühlte ich mich wieder, als würde irgendetwas in mir gelöst, gelockert, in Unordnung gebracht. Er stellte die Rohre ab. »Wo sind die anderen?«

»Bierfass.« Ich deutete mit dem Kinn in die betreffende Richtung.

»Alles klar.«

Apropos Ewigkeit: Die Minute des Schweigens, die nun verging, dehnte sich endlos. Vielleicht sogar noch etwas länger. Vor meinem inneren Auge sah ich plötzlich die Wanduhren in meiner Schule, sah die allerletzten Sekunden der Stunde vor sich hin ticken, den Moment, in dem der Minutenzeiger zittert, als hielte er es kaum noch aus, nicht endlich auf die Zwölf zu springen. Sag was, dachte ich und warf Wes einen verstohlenen Seitenblick zu. Anders als ich schien er die Lücke in der Zeit kaum als solche wahrzunehmen, sondern beobachtete seelenruhig die Leute auf der Lichtung. Seine Arme hingen locker seitlich am Körper herab. Nicht zum ersten Mal fiel mir die Tätowierung auf seinem Oberarm auf, deren Spitze unter dem Ärmel seines T-Shirts hervorschaute. Kristy hatte gesagt, ich solle leben – was auch immer das bedeutete, schließlich gab es eine gewaltige Bandbreite von Leben. Jedenfalls hallten ihre Worte noch in mir nach. Also gut, dachte ich, warum nicht?

»Was ist das?« Während ich die Worte noch zwang, meinen Mund zu verlassen, merkte ich, dass ich ihn ansah, nicht die Tätowierung. Meine Frage konnte sich also auf alles Mögliche beziehen. Wes hob prompt fragend die Augenbrauen. Meine Güte – wurde ich etwa rot? So schnell ich konnte, fügte ich hinzu: »Ich meine deine Tätowierung. Ich konnte bisher nie richtig erkennen, was sie darstellen soll. Also, was ist das?«

Ein ganzer Satz. Eine vollständige Frage. Wow!

Ich hatte plötzlich das nicht sehr angenehme Gefühl, auf gleicher Stufe zu stehen wie Helen Keller, nachdem sie es endlich geschafft hatte, das Wort W-A-S-S-E-R in Zeichensprache auszudrücken.

Wes schob seinen Ärmel etwas weiter hoch. »Ach, das ist bloß dieses kleine Symbol. Als du das erste Mal zu Delia rausgekommen bist, hast du doch die Skulptur gesehen?«

Ich muss wohl genickt haben, aber ehrlich gesagt sah ich jetzt nichts anderes mehr als die schwarzen Linien der Tätowierung. Das Herz in der Handfläche. Dieses Herz war natürlich kleiner und von einem kreisförmigen Muster eingerahmt, das an die Zeichen auf Totempfählen erinnerte. Aber ansonsten war es genau das gleiche Symbol: offene Handfläche, ausgestreckte Finger, rotes Herz in der Mitte.

»Ja«, antwortete ich. Und wie schon beim ersten Mal, als ich die Herzhand gesehen hatte, überkam mich das Gefühl, dieses Zeichen zu kennen; als würde etwas leicht drängend an meinem Unterbewusstsein zupfen, was auch immer. Seltsam. »Hat es irgendeine bestimmte Bedeutung?«

»Schon.« Er blickte auf seinen Arm hinunter. »So was in der Art hat meine Mutter immer für mich gezeichnet, als ich klein war.«

»Wirklich?«

»Ja. Für sie waren Herz und Hand eine Einheit. Davon war sie aus irgendeinem Grund fest überzeugt.« Kurz berührte er das rote Herz mit seinem Finger, dann sah er mich an. »Nach dem Motto, Gefühl und Handeln sind miteinander verbunden, das eine kann es ohne das andere nicht geben. An so Zeug haben die Hippies geglaubt und ihr gefiel das. Sie stand auf solche Ideen.«

»Mir gefällt’s auch«, sagte ich. »Ich meine, die Vorstellung dahinter. Klingt sinnvoll, finde ich.«

Wieder senkte er leicht den Kopf, um das Tattoo zu betrachten. »Nach ihrem Tod fing ich an, beim Schweißen zu experimentieren, und habe mir verschiedene Rahmen ausgedacht. Diese Herzhand hat zum Beispiel ein Kreismuster drum rum, die bei uns neben der Straße den Stacheldraht. Alle sind leicht unterschiedlich, haben aber dasselbe Grundkonzept.«

»Eine Art Serie.«

»Wahrscheinlich«, antwortete er. »Aber vor allem versuche ich irgendwie das Richtige zu tun, was immer das bedeutet.«

Als ich meinen Blick über die Lichtung wandern ließ, entdeckte ich plötzlich Kristy. Ihr blonder Kopf hüpfte beim Gehen zwischen den anderen auf und ab wie ein Ball auf den Wellen.

»Ist schwer«, meinte ich.

Wes sah mich an. »Was?«

Ich schluckte. »Das Richtige zu tun.« Keine Ahnung, warum ich das überhaupt sagte.

Bestimmt hält er mich für total bescheuert, dachte ich und schwor mir von jetzt an den Mund zu halten. Doch Wes nahm bloß eins seiner neuen alten Stahlrohre in die Hand, wendete es hin und her. »Ja, das stimmt«, erwiderte er nach kurzem Zögern.

Kristy ging gerade in der Nähe des Bierfasses vorbei. Sie sagte etwas zu Monica, warf den Kopf in den Nacken und lachte.

»Das mit deiner Mutter tut mir Leid«, sagte ich zu Wes. Ohne mir vorher überlegt zu haben, was genau ich damit ausdrückte. Oder eben auch nicht. Ich achtete nicht auf die Bedeutung der Worte, wägte nicht jedes einzelne ab, sondern sprach sie einfach aus. Vielmehr sprachen sie sich fast von selbst. Als hätte ich damit gar nichts zu tun.

»Tut mir Leid, das mit deinem Vater«, entgegnete er mir. Wir sahen beide geradeaus, nicht einander an. »Ich kann mich an ihn erinnern. Er hat das Kinderteam beim Laufen trainiert. War ’n guter Typ, dein Dad.«

Ich spürte plötzlich, wie mein Hals eng wurde. Eine unvermittelte Welle von Traurigkeit stieg in mir auf. Erwischte mich kalt. Ich schnappte förmlich nach Luft. Denn man gewöhnte sich einfach nicht dran. Gewöhnt sich nicht dran, dass jemand weg ist. Immer wenn man glaubt, man hätte sich endlich damit abgefunden, legt irgendwer den Finger auf die Wunde – und es haut dich um. Der Schock zieht dir jedes Mal wieder den Boden unter den Füßen weg.

»Warum hast du aufgehört?«, fragte er abrupt.

»Womit aufgehört?«

»Mit dem Laufen.«

Ich starrte in meinen leeren Becher. »Keine Ahnung«, behauptete ich, obwohl jener Tag nach Weihnachten sofort wieder vor meinem inneren Auge lebendig wurde. »Ich hatte einfach keine Lust mehr.«

Am anderen Ende der Lichtung unterhielt Kristy sich mit einem großen Blonden, der ihr offensichtlich irgendeine lange, umständliche Geschichte erzählte und dabei ausladend gestikulierte. Kristy musste sich förmlich ducken, damit sie nicht aus Versehen eine verpasst bekam.

»Wie schnell warst du?«, fragte Wes.

»Nicht so schnell.«

»Du meinst, du konntest gar nicht . . . fliegen?« Er lächelte mich an.

Blöde Rachel, dachte ich. »Nein.« Und spürte, wie ich schon wieder rot wurde. »Ich konnte nicht fliegen.«

»Was war deine persönliche Bestzeit?«

»Warum fragst du?«

»Einfach so.« Er drehte das Rohr in seiner Hand. »Ich meine bloß . . . ich laufe nämlich auch. Schätze, ich bin einfach neugierig.«

»Ich weiß es nicht mehr«, antwortete ich.

»Ach komm, jetzt verrat’s mir. Ich bin ein großer Junge, ich halte das schon aus.« Er stieß mit seiner Schulter gegen meine. Ich glaub’s nicht, dachte ich. Ich glaube es nicht.

Obwohl der Fuchtelkerl noch auf sie einquatschte, blickte Kristy jetzt zu uns herüber. Selbst auf die Entfernung konnte ich erkennen, dass sie mich ansah und die Augenbrauen hob. Dann wandte sie sich wieder ihm zu, gerade rechtzeitig, um dem nächsten Schwinger auszuweichen.

»Okay, wenn du’s unbedingt wissen musst«, sagte ich. »Meine Bestzeit pro Kilometer waren drei Minuten vier achtunddreißig.«

Er starrte mich an. Und sagte schließlich: »Oh.«

»Was ist? Was war dein Rekord?«

Sich räuspernd wandte er den Kopf ab. »Vergiss es.«

»He, das ist nicht fair«, protestierte ich.

»Auf jeden Fall mehr als drei Minuten vier achtunddreißig.« Wes lehnte sich zurück, stützte sich auf seine Hände. »Können wir es jetzt bitte dabei belassen?«

»Aber das ist Jahre her«, sagte ich. »Heute würde ich in der Zeit vermutlich nicht mal mehr einen halben Kilometer schaffen.«

»Wetten, dass doch.« Er hielt das Stahlrohr hoch, betrachtete es prüfend. »Ich wette, du wärst viel schneller, als du denkst. Vielleicht nicht schnell genug, um zu fliegen, aber immerhin.«

Ich merkte, dass ich lächelte, und hörte sofort wieder damit auf. »Und ich wette, du rennst mir mit Leichtigkeit davon.«

»Tja, vielleicht finden wir eines Tages ja mal zusammen raus, ob das stimmt.«

Wahnsinn, dachte ich und wusste gleichzeitig, ich hätte sofort was darauf erwidern sollen, egal was. Aber Kristy, Bert und Monica näherten sich. Chance verpasst.

»Noch zwanzig Minuten bis zur Sperrstunde«, verkündete Bert, während er auf seine Armbanduhr blickte. »Wir müssen los.«

»Oh nein, Hilfe!«, spottete Kristy. »Vielleicht musst du ausnahmsweise mal vierzig fahren, damit wir rechtzeitig daheim sind.«

Bert schnitt eine Grimasse, lief zur Fahrertür und öffnete sie. Monica kletterte hinten rein und ließ sich aufs Sofa fallen, unmittelbar gefolgt von mir und Kristy.

»Worüber habt ihr zwei denn so geredet?«, flüsterte Kristy mir zu, während Wes die Türen hinter uns zuzog.

»Über gar nichts«, antwortete ich. »Übers Laufen.«

»Du hättest dein Gesicht sehen sollen.« Ihr Atem drang heiß an mein Ohr. »Ich sage nur: bäng!«