Kapitel 12

»Wer ist dran mit Fragen?«

»Du«, antwortete Wes.

»Bist du sicher?«, fragte ich.

Er nickte und ließ den Motor des Lieferwagens an. »Fang an, ich bin bereit.« Damit fuhr er über die Auffahrt von Delias Haus zur Straße und bog in den Sweetbud Drive ein.

Ich lehnte mich an, ein Bein angewinkelt, so dass der rechte Fuß unter dem linken Oberschenkel lag. Wir hatten beim Münzenwerfen gewonnen, durften also den Wagen waschen, während Bert und Kristy dazu verdonnert waren, Krabbenpastetchen vorzubereiten. Viele, viele Krabbenpastetchen.

»Also . . . wovor hast du am meisten Angst?«, fragte ich.

Wie immer überlegte Wes kurz, bevor er antwortete. »Clowns.«

»Clowns.«

»Ja.«

Ich sah ihn bloß stumm an.

Er erwiderte meinen Blick. »Was?«

»Das ist keine richtige Antwort.«

»Wer sagt das?«

»Ich. Ich meinte nämlich echte Angst. Angst, zu versagen, Angst, etwas zu bereuen, Angst vorm Sterben. So was in der Art. Etwas, weswegen man nachts wachliegt und seine eigene Existenz infrage stellt.«

Wieder dachte er einen Moment nach. »Clowns.«

Ich verdrehte die Augen. »We-es!«

»Das ist definitiv die richtige Antwort.« Vor dem Loch bremste er ab und manövrierte vorsichtig darum herum. Ich warf einen Blick auf die Riesenherzhand, die still in der gleißenden Sonne hing.

»Ich kann Clowns nicht ausstehen. Als kleiner Junge war ich mal im Zirkus, da hat einer einen Ballon direkt vor meinem Gesicht platzen lassen. Seitdem sind Clowns für mich der wahre Horror.«

»Kann doch gar nicht sein«, meinte ich lächelnd.

»Ich wünschte, es wäre so.«

In einer Staubwolke erreichten wir die Landstraße, wo der Asphalt begann.

»Clowns«, wiederholte ich. »Echt?«

Er nickte. »Akzeptierst du das jetzt als Antwort oder nicht?«

»Stimmt es denn wirklich?«

»Ja, es ist die Wahrheit.«

»Okay«, meinte ich. »Du bist dran.«

 

Mittlerweile wusste ich so einiges über Wes. Dass er seinen ersten Kuss im sechsten Schuljahr bekommen hatte, von einer gewissen Willa Patrick. Dass er fand, seine Ohren wären zu groß für seinen Kopf. Dass er Jazz, Wasabi sowie den Geruch von Patchouli hasste. Und Clowns.

Seit unserer nächtlichen Wanderung spielten wir das Spiel, mit dem wir damals begonnen hatten, in Schüben immer weiter. Jedes Mal wenn wir allein waren – auf der Fahrt zu einem Job oder wenn wir Besteckkästen einräumten oder auch wenn wir einfach bloß irgendwo abhingen –, machten wir automatisch da weiter, wo wir beim letzten Mal aufgehört hatten. Wenn die anderen von Wish Catering dabei waren, herrschte zu viel Trubel, Lärm, Chaos, wurde gelacht und gestritten und erzählt. Aber in Momenten zu zweit – so wie diesem – gab es nur mich, Wes und die Wahrheit.

Früher hatte ich das Wahrheitsspiel mit meinen Freundinnen gespielt, vor allem wenn wir in großen Rudeln beieinander übernachteten, was wir eine Zeit lang supertoll gefunden hatten. Damals hatte mich das Spiel allerdings nervös gemacht. Mit seiner spontanen Bemerkung, es sei teuflisch, hatte Wes vollkommen Recht gehabt, denn die Fragen waren in der Regel entweder sehr persönlich oder sehr peinlich oder beides. Als ich mit meinen Freundinnen oder meiner Schwester gespielt hatte, war es mir oft lieber gewesen, bei einer Frage zu passen und eine Niederlage in Kauf zu nehmen, statt öffentlich zuzugeben, dass ich wie wahnsinnig in meinen Mathelehrer verknallt war. Je älter wir wurden, umso brutaler wurde auch das Spiel, denn nun drehten sich die Fragen darum, auf welchen Jungen man stand oder auch nicht und ob man ES schon gemacht hatte. Mit Wes dagegen Wahrheit zu spielen, fühlte sich völlig anders an. Die schwierigen Fragen hatte er mir gleich zu Beginn gestellt, deshalb kam mir alles Weitere einfach vor. Zumindest vergleichsweise einfach.

»Was ist das Ekelhafteste, das dir je passiert ist?«, fragte Wes mich beispielsweise eines Tages, als wir auf der Suche nach Küchenpapier durch den Supermarkt stapften.

»Iiih.« Ich warf ihm einen Blick zu. »Muss das sein?«

»Du kannst antworten oder passen. Deine Entscheidung.« Er schob die Hände in die Hosentaschen.

Er wusste, ich würde nicht passen. Und ich wusste es auch. Wir nahmen das Spiel beide ungeheuer ernst, wollten beide gewinnen. Aber es ging inzwischen weit darüber hinaus, zumindest für mich. Mir gefiel es einfach, Wes auf diese Weise kennen zu lernen, lauter unzusammenhängende Informationen und Details über ihn einzusammeln. Für mich waren das einzelne Puzzleteile, die ich mir in aller Ruhe anschauen und überlegen konnte, wie sie ins Gesamtbild passten. Falls einer von uns beiden gewann, war das Spiel vorbei. Deshalb antwortete ich tapfer weiter.

»Es war in der Fünften.« Wir bogen in den Gang mit Papierprodukten ein. »Im Dezember. Barbara Feltons Mutter – Barbara war eine Mitschülerin von mir – kam in unsere Klasse, um uns etwas über das jüdische Chanukka-Fest zu erzählen. Dabei verteilte sie als Beispiel für etwas, das man sich an Chanukka schenkt, Schokoladentaler.«

»Und das war ekelig?«

Ich funkelte ihn an. »Nein, der Teil kommt noch.« Weil Wes sich selbst immer so präzise ausdrückte, kein Wort zu viel oder zu wenig sagte, drängte er mich jedes Mal, auf den Punkt zu kommen. Worauf ich allerdings genau entgegengesetzt reagierte: Ich ließ mir Zeit und schmückte meine Antworten absichtlich aus. Das gehörte alles zum Spiel. »Mrs Felton verteilt also Schokoladentaler und erklärt uns, was eine Menora ist, du weißt schon, der siebenarmige Leuchter. So weit, so gut.«

Wir standen mittlerweile vor dem Küchenpapier. Wes holte eine Achterpackung aus dem Regal, gab sie mir, klemmte sich eine weitere Achterpackung unter den Arm und wir machten uns auf den Weg zur Kasse.

»Aber dann kam unsere Lehrerin, Mrs Whitehead, zu Norma Piskill, die neben mir saß, und fragte, ob alles in Ordnung sei. Norma nickt, aber als ich sie zufällig genauer anschaue, sehe ich, dass sie ein bisschen grün im Gesicht ist.«

»Uh . . .« Wes schnitt eine Grimasse.

»Genau.« Ich seufzte. »Ehe ich überhaupt begreife, was los ist, versucht Norma Piskill aufzustehen, schafft es aber nicht mehr. Stattdessen kotzt sie mich von oben bis unten voll. Das ganze Zeug tropft an mir runter. Und weißt du, was sie dann macht? Sie kotzt gleich noch mal. Wieder auf mich, natürlich.«

»Igitt.«

»Du hast gefragt«, sagte ich lässig.

»Stimmt.« Wir stellten uns an der Kasse an. »Du bist dran mit Fragen.«

»Ja, ich weiß.« Ich musste kurz überlegen. »Worüber machst du dir am meisten Sorgen?«

Wieder dachte Wes gründlich nach, bevor er antwortete. Von Kotze zu tiefen Erkenntnissen über einen selbst – so lief das eben, wenn man Wahrheit spielte. Man ließ sich entweder mittreiben oder es gleich bleiben.

»Bert«, antwortete er schließlich knapp.

»Bert.«

Er blickte mich an. »Ich fühle mich für ihn verantwortlich. Ist wahrscheinlich sowieso typisch für große Brüder. Aber seit meine Mutter nicht mehr da ist . . . sie hat es nie offen ausgesprochen, aber ich weiß, dass sie sich auf mich verlässt. Sie hätte gewollt, dass ich mich um ihn kümmere. Er ist so . . .«

»Wie denn?«

Der Kassierer hielt unser Küchenpapier unter den Scanner.

Wes zuckte die Schultern. »So . . . so Bert eben, du weißt schon. Bert steht immer unter Strom, nimmt alles total ernst. Zum Beispiel diese Sache mit dem Jüngsten Gericht, also dass das Ende der Welt unmittelbar bevorsteht und so Theorien. Gerade Kids in seinem Alter steigen da oft aus; sie kapieren einfach nicht, wie er drauf ist, kommen nicht damit klar, wie leidenschaftlich und emotional er ist. Bei Bert gibt’s keine halben Sachen, keine halben Gefühle. Alles ist entweder schwarz oder weiß. Er ist ein sehr intensiver Mensch. Vielen Leuten wird das zu viel.«

»So schlimm finde ich es gar nicht«, sagte ich, während Wes dem Kassierer einen Zwanzigdollarschein gab und sein Wechselgeld zurückbekam. »Er ist einfach . . .« Ich stockte wie zuvor Wes, fand auch nicht gleich das richtige Wort, um Bert zu beschreiben.

»Bert«, schlug Wes vor.

»Genau.«

Und so ging es weiter. Eine Frage nach der anderen, eine Antwort nach der anderen. Jeder hielt uns für total übergeschnappt. Doch ich fragte mich allmählich, wie ich es sonst – ohne Wahrheitsspiel, meine ich – bisher geschafft hatte, einen Menschen überhaupt näher kennen zu lernen. Denn eins wird mehr als deutlich, wenn man Wahrheit spielt: wie wenig man über andere Menschen weiß. Ich kannte Wes zwar erst ein paar Wochen, dennoch wusste ich bereits, was ihm am peinlichsten war, weswegen er sich die meisten Sorgen machte, wann und wie er seine bisher größte Enttäuschung erlebt hatte. Wenn es dagegen um meine Mutter, Caroline oder Jason gegangen wäre, hätte ich nichts Genaues zu sagen gewusst. Ich wäre mir zu unsicher gewesen. Ihnen ging es umgekehrt mit mir bestimmt genauso.

»Ich finde es trotzdem ziemlich gaga«, sagte Kristy zu mir, nachdem sie ein paar Mal zufällig den Schluss irgendeiner Geschichte mitbekommen hatte, zum Beispiel welches Horrorerlebnis Wes in der Siebten gehabt hatte oder warum ich meinen eigenen Hals komisch fand. »Ich meine, das Konzept von eurem Wahrheitsspiel verstehe ich ja noch so gerade. Aber ihr zwei quatscht doch bloß ununterbrochen. Das Ganze ist nichts als Gelaber.«

»Genau darum geht es aber«, antwortete ich. »Der andere stellt dir eine Frage und du musst antworten, wenn du nicht verlieren willst. Im Prinzip ist das nichts anderes als eine Aufgabe zu erfüllen, die einem jemand aufbrummt wie beim Flaschendrehen. Und das kann jeder, da ist nichts dabei.«

»Da bin ich anderer Meinung«, erwiderte sie mit Grabesstimme. »Wenn man schlau ist, entscheidet man sich grundsätzlich für die Wahrheit. Auf die Weise kann man wenigstens im Notfall lügen.«

Ich sah sie prüfend an.

»Was?« Kristy verdrehte die Augen. »Dich würde ich doch niemals anlügen. Nein, ich rede von den Regeln, die auf jeder anständigen Teenie-Party herrschen. Die haben ihre eigenen Gesetze und nur die Stärksten überleben. Überhaupt sagt niemand immer die Wahrheit.«

»In unserem Spiel schon.«

»Du vielleicht. Aber woher willst du so genau wissen, dass Wes das auch tut?«

»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Ich weiß es einfach.«

Und das stimmte. Es war übrigens auch der Grund, warum ich mich in Wes’ Gegenwart so wohl fühlte: Bei ihm konnte ich mich bedingungslos darauf verlassen, dass er immer exakt das sagte, was er auch meinte. Nicht taktierte, nichts zurückhielt. Er hatte vermutlich keine Ahnung, wie sehr ich diese Eigenschaft an ihm schätzte.

 

»Macy!«

Ich drehte mich um. Bert stand in Unterhemd und Bundfaltenhose in der Auffahrt zu seinem Haus. An Kinn und Schläfe klebte jeweils ein Fetzen Tempotaschentuch – eindeutige Signale für kleine Rasierunfälle. Er wirkte völlig verzweifelt. »Kommst du mal, bitte?«

»Klar.« Ich lief über die Straße auf ihn zu. Je näher ich kam, umso stärker drang mir der Geruch nach Rasierwasser, der Bert wie eine Wolke umhüllte, in die Nase, bis ich schließlich überhaupt nichts anderes mehr roch. Was insofern bemerkenswert war, als dass ich die letzte Stunde damit zugebracht hatte, mit Delia Knoblauch für Hummus zu pellen, und selbst nicht gerade neutral roch.

»Was ist los?«, fragte ich.

Statt zu antworten, machte er auf dem Absatz kehrt und lief so schnell und hektisch aufs Haus zu, dass ich kaum Schritt halten konnte. »Ich habe einen wichtigen Termin«, antwortete er mir über die Schulter hinweg, »und Kristy wollte mir helfen, mich zu stylen. Sie hat es versprochen. Aber sie und Monica mussten mit Stella Blumensträuße ausfahren und sind noch nicht zurück.«

»Termin?«

»Das Jahrestreffen meines Armageddon-Clubs. Ein echtes Mega-Event.« Sein durchdringender Blick bei diesen Worten sollte die Wichtigkeit des Ereignisses wohl noch unterstreichen. »Schließlich findet ein Jahrestreffen bloß einmal im Jahr statt.«

»Da hast du allerdings Recht«, antwortete ich. Als wir die Stufen zur Veranda hochstürmten, löste sich einer der Taschentuchfetzen von seinem Gesicht, wirbelte hoch in die Luft und verschwand irgendwo hinter uns. Ein Gutes hatte das Gehetze zumindest: Die Wolke verflog und ich roch das Rasierwasser nicht mehr so deutlich. Zumindest kam es mir nicht mehr ganz so penetrant vor.

Ich war noch nie bei Wes und Bert gewesen. Von der Straße aus sah man nur ein gemütlich wirkendes Holzhäuschen, daher war ich, als ich hinter Bert durch die Haustür trat, ziemlich überrascht, wie hell und weiträumig das Innere wirkte. In dem großen Wohnzimmer verteilten sich zwischen den Balken an der Decke mehrere Oberlichter, die Einrichtung bestand aus modernen, komfortablen Möbeln. Die Küche erstreckte sich über die gesamte Länge der hinteren Hauswand; über der Spüle befand sich ein riesiges Fenster, dem sich die zahlreichen Pflanzen auf der Küchentheke entgegenneigten, hin zum Licht. Und überall stand oder hing Kunst: abstrakte Gemälde an der Wand, einige Keramikstücke und zwei von Wes’ kleineren Skulpturen zu beiden Seiten des Kamins. Ich hatte fest damit gerechnet, dass es so aussehen würde, wie es in einem Haushalt, in dem zwei Jungen allein wohnen, in der Regel eben aussieht: Pizzaschachteln auf dem Küchentisch, halb leere Gläser auf jedem freien Fleck. Aber es war erstaunlich sauber und aufgeräumt.

Bert eilte bereits den Flur entlang, ich hinterher, wobei wir an einer geschlossenen Tür und einem Schlafzimmer vorbeikamen.

»Die Frage ist: Punkte oder Streifen? Was meinst du?« Beim Sprechen öffnete er die Tür zu seinem Zimmer und sauste hinein. Ich dagegen blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen und starrte – nein, nicht die beiden Oberhemden an, die er mir zur Begutachtung entgegenhielt, sondern das gigantische Poster, das die ganze Wand hinter ihm bedeckte. SEID GEWARNT VOR DEM JÜNGSTEN GERICHT! stand darauf und darunter war eine explodierende Erdkugel abgebildet. Im Zimmer hingen noch mehr Poster dieser Art. Eins verkündete zum Beispiel DAS ENDE DER WELT IST NAH – NÄHER, ALS DU GLAUBST, auf einem anderen stand MEGA-TSUNAMI: EINE WELLE, TOTALE ZERSTÖRUNG. Was an Wandfläche überhaupt noch frei war, war mit Regalbrettern zugepflastert, in denen Unmengen von Büchern mit ähnlich lautenden Titeln standen.

»Streifen« – Bert wedelte mit dem einen Hemd – »oder Punkte. Punkte oder Streifen. Welches soll ich anziehen?«

»Nun«, begann ich, konnte mich allerdings kaum konzentrieren, so überwältigt war ich von der Zimmerdeko, »ich glaube –«

In dem Augenblick öffnete sich die Tür in meinem Rücken. Wes kam mit nassen Haaren, die er sich gerade mit einem Handtuch trockenrieb, aus dem Bad. Er trug Jeans, aber kein T-Shirt, was mich ungefähr so aus der Fassung brachte wie der Mega-Tsunami. Wahrscheinlich sogar etwas mehr. Er hob gerade die Hand, um mir grüßend zuzuwinken, da hielt er plötzlich inne. Und schnüffelte. Einmal. Zweimal.

»Bert!« Er verzog schmerzlich das Gesicht. »Was habe ich versucht dir über Rasierwasser beizubringen?«

»Ich habe doch kaum welches drauf«, antwortete Bert, doch Wes strafte ihn Lügen, indem er sich demonstrativ die Nase zuhielt. Was Bert nicht daran hinderte, die beiden Hemden, die zur Wahl standen, nun Wes auffordernd entgegenzustrecken. Offensichtlich wollte er mehr als nur eine Meinung hören, am liebsten vermutlich so viele wie möglich. »Wes, welches soll ich anziehen? Der erste Eindruck, den die Leute von einem haben, ist der allerwichtigste.«

»Mein Reden.« Wes’ Stimme drang nur gedämpft hinter seiner vorgehaltenen Hand hervor. »Welchen Eindruck willst du denn erwecken? Umwerfend – im wahrsten Sinne des Wortes . . .?«

Bert ignorierte die Spitze und wandte sich erneut an mich: »Macy, bitte. Streifen oder Punkte?«

Er rührte mich. Dieses Gefühl von Zuneigung überkam mich bei Bert des Öfteren, aber in dem Moment ganz besonders: Wie er da mitten in seinem Zimmer mit den aberwitzigen Postern stand, in seinem Feinripp-Unterhemd und einem Tempotaschentuchfetzen im Gesicht . . .

»Streifen«, sagte ich. »Sieht erwachsener aus.«

»Danke.« Bert ließ das Hemd mit den Punkten aufs Bett fallen, zog das andere an, knöpfte es in Windeseile zu und stellte sich vor den Spiegel. »So was Ähnliches hatte ich mir auch schon gedacht.«

»Mit Krawatte oder ohne, was hast du vor?«, fragte Wes und verschwand dabei wieder im Bad, wo er das Handtuch über die Stange des Duschvorhangs warf.

»Soll ich?«

»Wie willst du denn genau rüberkommen?«, fragte ich.

Bert überlegte. »Gut aussehend. Intelligent. Reif«

»Umwerfend«, ertönte es aus dem Bad, worauf Bert endgültig beleidigt das Gesicht verzog.

»In dem Fall solltest du tatsächlich einen Schlips tragen«, meinte ich.

Bert öffnete die Tür seines Kleiderschranks und begann darin herumzuwühlen. Ich drehte mich nach Wes um, der mittlerweile in seinem eigenen Zimmer stand und sich gerade ein graues T-Shirt anzog. Anders als bei Bert hing dort gar nichts an den Wänden, und die sparsame Möblierung bestand aus einem Futon, einer Getränkekiste, auf der sich Bücher stapelten, und einer Spiegelkommode. Im Spiegelrahmen steckte das Foto eines Mädchens, ihr Gesicht konnte ich allerdings nicht genau erkennen.

»Die Jahresversammlung des Armageddon-Clubs ist deshalb so wichtig, weil EDWler aus dem ganzen Land hinkommen«, sagte Bert. Ich wandte mich wieder zu ihm um. Er mühte sich gerade mit einem Schlips ab.

»EDWler?«

Er schlang das eine Ende der Krawatte über das andere und schob den Knoten hoch, allerdings zu fest, so dass er alles wieder auseinander fummeln und von vorn beginnen musste. »EDW steht für ›Ende der Welt‹«, erklärte er mir und fing mit dem nächsten Knoten an. Dieses Mal geriet ihm das vordere Ende viel zu lang, so dass es fast bis zur Gürtelschnalle runterhing. »Ein solches Treffen ist eine Supergelegenheit, neue Theorien kennen zu lernen und Recherche-Ergebnisse mit Gleichgesinnten auszutauschen, die sich genauso für das Thema interessieren wie ich.« Er blickte kläglich an sich runter. »Hilfe, warum ist das bloß so kompliziert? Weißt du, wie das geht?«

»Nicht so richtig.« Mein Vater hatte sich eher leger gekleidet. Und Jason trug zwar häufig Krawatten, konnte sie aber mit geschlossenen Augen binden. Deshalb hatte es für mich nie einen Anlass gegeben, es zu lernen.

»Kristy hat versprochen, sie würde mir helfen«, grummelte Bert und zerrte ungeduldig an dem Schlips, was aber bloß zur Folge hatte, dass er vorne noch länger wurde. Außerdem lief er allmählich puterrot an. »Sie hat’s mir versprochen

»Ganz ruhig bleiben.« Wes kam herein, ging um mich herum, stellte sich vor Bert, entwirrte den Schlips, glättete die Enden. »Still halten!« Und dann – ein Griff, ein Dreh aus dem Handgelenk, ein kräftiges Ziehen. Und der Knoten saß perfekt. Bert und ich konnten bloß staunend zusehen.

»Wahnsinn«, meinte Bert und blickte verdutzt an sich runter, während Wes einen Schritt zurücktrat und sein Werk prüfend musterte. »Wo hast du das denn gelernt?«

»Als ich vor Gericht erscheinen musste«, antwortete Wes. Er streckte die Hand aus, zupfte den Tempofetzen von Berts Gesicht und rückte die Krawatte noch einmal gerade. »Brauchst du Geld?«

Bert lächelte überlegen. »Was denkst du denn? Ich habe mir meine Eintrittskarte schon im März im Vorverkauf geholt, Essen inklusive. Es gibt Hühnchen und sogar Nachtisch. Alles bezahlt.«

Wes zog einen Zwanziger aus dem Portemonnaie und steckte den Schein in Berts Hemdtasche. »Ab jetzt absolutes Rasierwasserverbot, okay?«

»Okay.« Noch einmal bewunderte Bert den Sitz seines Schlipses. Das schnurlose Telefon auf dem Bett klingelte. Bert schnappte es sich und drückte auf den Antwortknopf. »Hallo. Hi, Richard. Ja, ich auch . . . Gestreiftes Hemd, blauer Schlips, normale Hose. Meine guten Schuhe. Und du?«

Wes verließ mit einem amüsierten Kopfschütteln den Raum und lief über den Flur in sein Zimmer. Ich folgte ihm, lehnte mich an den Türstock, ließ meinen Blick noch einmal über die sparsame Einrichtung wandern. »Wie ich sehe, bist du Minimalist«, sagte ich.

»Falls du meine paar Möbel meinst – nö, ich habe bloß was gegen voll gestopfte Räume«, antwortete er, öffnete den Wandschrank und holte etwas heraus. »Was du hier nicht siehst, das brauche ich auch nicht.«

Ich verließ meinen Platz im Türrahmen, ging zur Kommode und beugte mich vor, um das Foto am Spiegel besser sehen zu können. Ich war ein bisschen zu neugierig, schon klar, aber ich konnte mir die Frage einfach nicht verkneifen: »Ist das Becky?«

Wes drehte sich um, sah erst mich und dann das Foto an. »Nein. Becky ist viel dünner, knochiger. Das ist meine Mutter.«

Wish war schön – der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss – und jung, zumindest auf diesem Bild. Um die zwanzig, schätzte ich. Sofort entdeckte ich die Ähnlichkeit zwischen ihr und Bert, die Augen, das runde Gesicht . . . Ich erkannte Delias strahlendes Lächeln wieder, ihre dunklen Locken. Doch vor allem erinnerte sie mich an Wes beziehungsweise umgekehrt. Vielleicht lag es an der Art, wie sie nicht direkt in die Kamera blickte, sondern mit einem halben Lächeln daran vorbei. Ungezwungen, ungekünstelt. Sie posierte nicht, sondern saß einfach da, auf einem Brunnenrand, die Hände im Schoß gefaltet. Hinter ihr glitzerte das Wasser.

»Du siehst ihr sehr ähnlich«, sagte ich.

Wes kam mit einem kleinen Karton in der Hand zu mir herüber und stellte sich so hinter mich, dass unsere Spiegelbilder im Rahmen zu sehen waren. »Findest du?«

»Ja, absolut«, erwiderte ich.

Bert stürzte mit einem Fusselroller in der Hand aus seinem Zimmer und machte kurz Zwischenstation in Wes’ Zimmer. »Ich muss los«, sagte er. »Ich möchte auf jeden Fall vor dem Einlass da sein.«

»Nimmst du etwa den Fusselroller mit?«, fragte Wes perplex.

»Man weiß nie, in einem Auto können immer irgendwelche Fussel rumfliegen.« Bert steckte sich das Teil in die Hemdtasche. »Wie sehe ich aus? Okay?«

»Großartig«, sagte ich. Was ihn aufrichtig zu freuen schien, denn er strahlte über das ganze Gesicht.

»Ich penne heute Nacht bei Richard, damit wir anschließend noch alles bequatschen können.« Beim Reden stürzte Bert bereits wieder Richtung Tür. »Bis morgen, okay?«

Wes nickte. »Viel Spaß!«

Bert verschwand im Flur. Sekunden später krachte die Haustür hinter ihm ins Schloss. Wes schnappte sich sein Portemonnaie sowie seine Schlüssel, die auf der Kommode lagen, und klemmte sich den Karton unter den Arm. Bevor wir sein Zimmer verließen, warf ich einen letzten langen Blick auf das Foto von Wish.

»Ich sollte vermutlich auch mal los«, sagte ich, als wir ins Wohnzimmer traten. Wieder fiel mir auf, wie gemütlich es wirkte, ganz anders als bei mir zu Hause, wo einen in den großen Räumen und unter den hohen Decken immer ein Gefühl von Leere und Kargheit beschlich.

»Sag bloß, du gehst auch auf die Armageddon-Jahresversammlung«, meinte Wes.

»Wie hast du das bloß erraten?«

»Intuition.«

Ich schnitt eine belustigte Grimasse. »Nein, ich werde wahrscheinlich eine Runde lernen, eine Runde waschen und, wer weiß, vielleicht übertreffe ich mich auch selbst und bügele sogar eine Runde. Mit Dampfbügeleisen und Stärkespray.«

»Oha«, frotzelte er. »Meinst du nicht, du übertreibst es ein bisschen?«

Wes hielt mir die Haustür auf. Ich wartete auf den Stufen, während er hinter uns abschloss. »Und du Partylöwe? Was hast du so vor?«

Er hielt den Karton hoch. »Bei einer Party in Lakeview vorbeifahren und einem Freund von mir Ersatzteile für seine Karre bringen, die ich auf dem Schrottplatz entdeckt habe.«

»Eine Party und Ersatzteile!? Übernimm dich bloß nicht.«

»Ich versuche mein Bestes.«

Lächelnd kramte ich meinen Schlüssel aus der Tasche.

»Magst du mitkommen?«

Ich wunderte mich ein wenig, dass er mich überhaupt fragte. Aber noch mehr wunderte ich mich darüber, wie spontan ich antwortete. Ohne jedes Zögern. So als hätte ich die ganze Zeit – nicht nur darauf gewartet, sondern es von vornherein vorgehabt. »Klar, gern.«

 

Als wir zwanzig Minuten später vor dem Haus vorfuhren, wo die Party stattfand, war dort schon der Teufel los. Und es war eine Riesenparty. Wir liefen über den Rasen aufs Haus zu, wobei wir uns im Slalom um ganze Herden von Leuten herumschlängeln mussten, die auf der Auffahrt und im Vorgarten herumstanden oder -saßen. Wie immer nahm ich wahr, dass wir – zumindest Wes – angestarrt wurden.

Ich war kaum durch die Haustür, als mich jemand am Arm packte. Jemand in Minijeansrock, Cowboystiefeln und einem heißen, pinkfarbenen Mieder.

»Das gibt’s nicht!«, zischte Kristy dicht an meinem Ohr und zerrte mich mit sich zur Treppe. »Ich hab’s gewusst! Was tust du hier, Macy? Erzähl mir alles, und zwar sofort.«

Wes war im Eingangsflur stehen geblieben und blickte sich suchend nach mir um. Als er mich zusammen mit Kristy entdeckte, signalisierte er mir, er werde bald zurück sein, und verschwand über den Flur nach hinten, vorbei an einer Truppe Cheerleader, die ihm schmachtend nachsahen. Wobei ich das allerdings nur am Rande wahrnahm, denn Kristy war drauf und dran, mir den Arm zu brechen.

»Hör auf!« Ich entwand mich ihrem Eisengriff. »Du renkst mir noch den Ellbogen aus.«

Sie ignorierte das einfach und meinte stattdessen empört: »Ich fasse es nicht! Du hast ein Date mit Wes und sagst mir nichts davon? Was für eine Freundin bist du eigentlich, Macy? Vertraust du mir etwa nicht oder was?«

Jemand rempelte mich an und ich drehte mich um. Monica, eine Mineralwasserflasche in der Hand, stand neben mir und beobachtete das Gedrängel im Wohnzimmer mit gelangweilter Miene.

»Hast du gesehen, mit wem Macy hier ist?«, fragte Kristy ihre Schwester.

»Mmm-hmmm«, machte Monica.

»Ich bin nicht mit ihm da.« Ich rieb mir den schmerzenden Ellbogen. »Er wollte hier vorbeifahren, um etwas abzugeben, ich war zufällig bei ihm zu Hause, weil ich Bert geholfen habe sich für seine Armageddon-Jahresversammlung fertig zu machen, und –«

»Shit!« Kristy schlug sich erschrocken mit der Hand auf den Mund. »Das hatte ich ja ganz vergessen, verdammt. Bittebitte sag mir, dass er nicht sein gepunktetes Hemd angezogen hat.«

»Nein«, antwortete ich. Sie entspannte sich sichtlich. »Streifen.«

»Schlips?«

Ich nickte. »Den blauen.«

»Gut. Sehr gut.« Kristy trank einen Schluck von ihrem Bier und deutete anklagend mit dem Finger auf mich. »Zurück zu Wes und dir. Es läuft also nichts zwischen euch. Schwörst du es?«

»Meine Güte, jetzt beruhige dich erst mal wieder«, sagte ich, doch sie starrte mich weiterhin auffordernd an. Mit dieser Antwort gab sie sich offensichtlich nicht zufrieden. Deshalb fügte ich notgedrungen hinzu: »Okay, ich schwör’s.«

»Na gut.« Kristy deutete mit dem Kinn Richtung Esszimmer, wo ein paar Typen um den riesigen Tisch herum saßen. »Beweise es.«

»Beweisen?«

Doch sie zog mich bereits mit sich durch Flur und Wohnzimmer ins Esszimmer, drückte mich auf einen Stuhl und setzte sich auf die Armlehne. Monica tauchte schwer atmend etwa dreißig Sekunden später neben uns auf. Was Kristy überhaupt nicht zu bemerken schien. Sie hatte ganz klar etwas anderes im Kopf. Ein Vorhaben, das sie unerbittlich durchziehen würde.

»Das ist Macy«, sagte sie und winkte den drei Jungs am Tisch zu: einem stämmigen Kerl mit Baseballmütze, einem im orangefarbenen T-Shirt sowie einem Hippie-Typen mit blauen Augen und Pferdeschwanz, der am anderen Ende des Tisches hockte. »John, Donald, Philip.«

»Hi«, sagte ich. John, Donald, Philip begrüßten mich ebenfalls.

»Macy befindet sich gerade in einer Art Limbo zwischen zwei Beziehungen«, verkündete Kristy. »Und ich reiße mir ein Bein aus, um ihr zu zeigen, dass es eine ganze Welt voll ungeahnter Möglichkeiten gibt.«

Aller Augen richteten sich auf mich. Ich merkte, wie ich rot wurde, und fragte mich, wann Wes wohl endlich zurückkam.

»Keiner von diesen Kerlen taugt als fester Freund.« Kristy hob den Arm und ließ ihn mit großer Geste über die Runde kreisen. »Trotzdem sind alle drei richtig nett.«

»Die Tatsache, dass keiner von uns als Freund taugt«, sagte der Typ mit der Baseballmütze (John) zu mir, »hat sie allerdings nicht davon abgehalten, mit jedem von uns auszugehen.«

»Genau deshalb weiß ich ja Bescheid. Aus Erfahrung«, konterte Kristy. Allgemeines Gelächter. Donald gab ihr eine Vierteldollarmünze. Kristy zielte, schnippte daneben und trank. »Pass auf, ich drehe jetzt ’ne Runde und leiste ein bisschen Vorarbeit. Sichten, was sich hier so rumtreibt, meine ich«, sagte sie zu mir. »Dann hole ich dich wieder ab und stelle dich ein paar von den aussichtsreicheren Kandidaten vor. Abgemacht?«

»Kristy«, sagte ich noch, doch da war sie auch schon weg, wobei sie John im Vorbeigehen einen leichten Klaps auf den Kopf versetzte.

»Du bist dran.« John nickte mir zu.

Ich nahm die Münze. Ich hatte zwar schon oft zugeschaut, aber selbst noch nie Münzenschnippen gespielt. Also machte ich es Kristy einfach nach: Schnippte die Münze zu der Tasse, die als Ziel diente. Mit einem leisen Klirren landete die Münze in der Tasse. Soweit ich es verstand, hatte ich die Runde damit gewonnen. Nicht schlecht. »Und was passiert jetzt?«, fragte ich Philip.

Er schluckte übertrieben angstvoll. »Du entscheidest, wer trinken muss.«

Ich ließ meinen Blick über die drei Jungs wandern, die am Tisch saßen, und deutete auf John. Er hob sein Glas, prostete mir zu.

»Du bist noch mal dran«, meinte Philip.

»Oh.« Wieder schnippte ich die Münze, wieder landete sie in der Tasse.

»Vorsicht, Leute!«, sagte Donald. »Gleich gibt’s Tote.«

Das blieb zum Glück allen erspart, denn beim dritten Mal verfehlte die Münze das Ziel. Philip signalisierte mir triumphierend, nun müsste ich trinken – was ich auch brav tat –, und schob die Münze zu John rüber.

»Macht Spaß. Zumindest solange man nicht daneben schnippt«, sagte ich.

John schnippte, traf – natürlich – und deutete auf mich – natürlich.

»Auf ex!«, befahl er. Und ich trank.

Und dann trank ich noch mal. Und noch mal. Die folgenden zwanzig Minuten vergingen wie im Flug, zumindest kam es mir so vor, denn ich verfehlte ungefähr bei jedem Mal, das ich an der Reihe war, die Tasse. Und musste natürlich jedes Mal, wenn jemand anderer traf, trinken. Unabhängig davon, ob diese Typen nun als Freunde taugten oder nicht, Skrupel kannten sie auf jeden Fall keine. Was dazu führte, dass alles im Raum um mich her, um es gelinde auszudrücken, allmählich verschwamm.

Irgendwann merkte ich, dass Wes sich auf den Stuhl neben mich setzte. »Hallo. Ich dachte schon, du bist verschollen.«

»Verschollen nicht gerade«, antwortete ich. »Aber gekidnappt. Und die ultimative Versagerin beim Münzenschnippen. Hast du deinen Freund gefunden?«

Er schüttelte den Kopf. »Er ist nicht da. Können wir?«

»Absolut«, sagte ich. »Es wäre sogar sehr gut. Ich glaube nämlich, ich muss –«

»Macy!« Kristy stand wie aus dem Boden gewachsen hinter mir, die Hände in die Hüften gestemmt, und sah sehr entschlossen aus. »Es wird Zeit.«

»Wofür?«, fragte Wes. Ich wusste auch nicht, was sie meinte, hatte komplett verdrängt, was sie vorhin gesagt hatte. Doch Kristy zerrte mich bereits vom Stuhl und mit Bärenkräften Richtung Küche, wobei wir beide schon etwas schwankten. Ach ja, stimmt, dachte ich. Aussichtsreiche Kandidaten.

»Weißt du was?«, meinte ich etwas mühsam. »Ich glaube nicht, dass ich –«

»Fünf Minuten«, sagte Kristy energisch. »Mehr will ich gar nicht von dir, bloß fünf Minuten.«

Fünfzehn Minuten später stand ich noch immer in der Küche und redete mit einem Football-Spieler namens Hank oder Frank (es war zu laut, um seinen Namen zu verstehen). Die Küche war gestopft voll mit Leuten, die alle durcheinander quatschten.

Ich versuchte schon seit geraumer Zeit mich loszueisen, was sich allerdings als gar nicht so einfach herausstellte. Denn erstens war es fast unmöglich, sich durch die Masse um uns rauszudrängeln; zweitens beobachtete Kristy mich mit Argusaugen, während sie sich mit ihrem eigenen aussichtsreichen Kandidaten unterhielt; und drittens war ich sowieso nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Gar nicht mehr sicher, um genau zu sein.

»Bist du nicht mit Jason Talbot zusammen?«, fragte Hank/Frank gerade. Er musste schreien, um die Stimmen und die Musik zu übertönen, die gleich neben uns aus der Anlage dröhnte.

Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und versuchte zu antworten. »Das ist so . . .«

»Was?«, schrie er.

»Also, wir sind gerade –«

Er schüttelte den Kopf, legte die Hand ans Ohr. »Was?«

»Nein«, antwortete ich, so laut ich konnte, beugte mich näher zu ihm und verlor dabei fast das Gleichgewicht. »Nein, bin ich nicht!«

In dem Moment rempelte mich jemand von hinten an, so dass ich gegen Hank/Frank stolperte. »Entschuldige«, sagte ich und wollte einen Schritt zurücktreten, da spürte ich, wie er die Hände um meine Taille legte. Mir war komisch und schwindelig und heiß. Viel zu heiß.

»Vorsicht, fall nicht.« Er lächelte mich an. Ich senkte den Blick. Seine Hände um meine Taille sahen aus wie zwei große Schinken. Würg! »Alles klar?«

»Ja, alles okay.« Wieder wollte ich einen Schritt zurücktreten, aber er ließ nicht los, umschlang meine Taille sogar noch fester. »Ich glaube, ich muss dringend an die frische Luft«, sagte ich.

»Ich komme mit«, sagte er.

Kristy wandte den Kopf, sah mich an. »Macy?«

»Sie ist okay«, brüllte Hank/Frank.

»Weißt du was«, sagte ich zu Kristy, sah sie jedoch auf einmal nicht mehr, weil sich ein ziemlich großes Mädchen mit Nasenring zwischen uns schob. »Ich glaube, wir sollten jetzt besser –«

»Ich auch«, mischte Hank/Frank sich schon wieder ein. Ich spürte, wie seine Finger unter mein T-Shirt wanderten, meine Haut berührten. Ein Schauer lief mir über den Rücken, aber kein angenehmer. Er beugte sich noch näher zu mir und seine Lippen streiften mein Ohr, als er sagte: »Komm, wir verziehen uns.«

Suchend blickte ich mich nach Kristy um, konnte sie allerdings nirgendwo mehr entdecken. Um mich drehte sich alles. Hank/Frank kaute schon wieder an meinem Ohr herum und sagte irgendwas, das ich nicht verstand, denn die Musik war einfach zu laut, hämmerte in meinem Kopf.

»Moment, warte mal.« Ich versuchte, mich von ihm loszumachen.

»Schsch, ganz ruhig.« Seine Hand wanderte über die bloße Haut an meinem Rücken. Ich riss mich so heftig los, dass ich rückwärts stolperte und das Gleichgewicht verlor. Ich merkte, dass ich nach hinten stürzte, obwohl ich noch krampfhaft versuchte mich aufrecht zu halten. Doch plötzlich war jemand hinter mir.

Jemand, der mich auffing, die Hände an meine Ellbogen legte, mich stützte, mir half, wieder auf die Beine zu kommen. Die Hände fühlten sich kühl an auf meiner erhitzten Haut. Und ich nahm seine Gegenwart in meinem Rücken wahr, als stünde dort eine Wand, an die ich mich lehnen konnte. Die stark genug war, damit ich nicht umfiel.

Ich wandte den Kopf. Wes.

»Da bist du ja«, sagte er. Hank/Frank wirkte auf einmal ziemlich angesäuert. »Und, sollen wir jetzt?«

Ich nickte. Wes’ Bauch berührte meinen Rücken und ohne groß drüber nachzudenken, lehnte ich mich einfach noch weiter zurück. Seine Hände lagen nach wie vor unter meinen Ellbogen. Und obwohl ich wusste, dass ich mich merkwürdig benahm, obwohl ich es unter anderen Umständen nie getan hätte, blieb ich, wo ich war, presste mich sogar noch fester an ihn.

»He du«, sagte Hank/Frank zu mir, aber Wes marschierte bereits los und ich mit ihm. Es wimmelte vor Leuten, so dass es schwierig war, beieinander zu bleiben. Nach einiger Zeit ließ Wes meine Ellbogen los, doch seine Hand glitt an meinem Arm runter und seine Finger schlossen sich um mein Handgelenk.

Vielleicht würde er in dem Geschiebe und Gedränge irgendwann ganz loslassen, aber ich wusste plötzlich nur noch eins: Wenn nichts mehr einen Sinn ergibt, wenn überhaupt seit Ewigkeiten nichts mehr einen Sinn ergeben hat, muss man sich unbedingt an etwas festhalten, auf das man sich verlassen kann. Von dem man sicher sein kann, dass es sich nicht gleich wieder in Luft auflöst. Und deshalb ergriff ich, als ich spürte, wie sich Wes’ Finger allmählich von meinem Handgelenk lösten, von mir aus seine Hand und umklammerte sie fest.

 

Kaum waren wir durch die Haustür, brüllte jemand Wes’ Namen, und zwar so laut, dass wir beide zusammenzuckten. Rasch ließ ich seine Hand los.

»Wo hast du gesteckt, Baker?«, krakeelte ein Typ mit Baseballmütze, der an einem Landrover lehnte. »Hast du meinen Vergaser dabei?«

»Ja«, rief Wes zurück. »Moment.« Dann wandte er sich um, sah mich an.

»Tut mir Leid«, sagte ich. »Da drinnen war es so heiß, und er –«

Er unterbrach mich mitten im Satz, indem er mir die Hände auf die Schultern legte und mich sanft nach unten drückte, bis ich auf den Stufen vor der Haustür hockte. »Wartest du hier? Bin gleich wieder da, okay?«

Ich nickte. Wes lief über die Wiese auf den Landrover zu. Ich atmete tief durch, wodurch mir allerdings noch schwindeliger wurde, und vergrub mein Gesicht in den Händen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Als ich aufblickte, sah ich, dass Monica rechts neben den Stufen stand.

Sie hatte ihre Wasserflasche unter den Arm geklemmt und rauchte. Da ich wusste, dass sie sicher nicht der Typ war, der sich überfallsartig an Leute anschlich, war mir sofort klar, dass sie gesehen hatte, wie wir aus dem Haus gekommen waren, Händchen haltend und alles.

Monica führte die Zigarette zu den Lippen und nahm einen tiefen Zug, wobei sie mich unverwandt ansah. Geradezu vorwurfsvoll.

»Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte ich. »Es war bloß wegen dieses unverschämten Kerls da drinnen . . . Wes hat mich gerettet. Ich habe mich an seiner Hand festgehalten, nicht umgekehrt, um überhaupt heil rauszukommen.«

Sie atmete langsam aus; kräuselnd stieg der Rauch zwischen uns hoch.

»Es war der totale Zufall«, sagte ich. »Du weißt doch, wie es ist, so was passiert einfach, ohne dass man es will oder geplant hat. Man tut es einfach.«

Ich wartete darauf, dass sie mir widersprach, mit einem »Lass stecken« oder einem »Mmm-hmmm«, ironisch gemeint natürlich. Aber sie gab keinen Mucks von sich, sondern sah mich nur so unergründlich an wie eh und je.

Wes kam zurück. »Okay, lass uns fahren.« Erst dann bemerkte er Monica und nickte ihr zu. »Hi, alles klar?«

Monicas Reaktion bestand darin, dass sie noch einmal an ihrer Zigarette zog, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder voll und ganz auf mich richtete.

Ich stand auf, wobei ich aufpassen musste, nicht umzufallen, was mir mit gewisser Mühe auch gelang. »Und bei dir? Auch alles klar?«, erkundigte sich Wes.

»Ja, einigermaßen.« Wes lief über den Gartenweg auf seinen Truck zu. Ich folgte ihm, drehte mich aber nach ein, zwei Schritten noch einmal zu Monica um. »Tschüs. Bis morgen, okay?«

»Mmm-hmmm«, antwortete sie. Während ich davonging, spürte ich ihren Blick in meinem Rücken.

 

»Wenn du etwas an dir verändern könntest, irgendetwas«, fragte Wes, »was wäre das?«

»Zum Beispiel alles, was heute Abend geschehen ist, und zwar von dem Moment an, als wir bei dir zu Hause losgefahren sind.«

Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich habe dir doch schon gesagt, so furchtbar war das gar nicht.«

»Dich hat aber auch kein Football-Spieler angetatscht.« Darauf musste ich ihn nun doch mal hinweisen, fand ich.

»Da hast du Recht«, entgegnete er.

Ich lehnte mich auf der Ladeklappe des Trucks, die Wes runtergeklappt hatte, damit wir uns draufsetzen konnten, zurück und streckte die Beine aus. Von der Party aus waren wir zur Tankstelle gefahren, wo ich eine große Flasche Mineralwasser sowie eine Packung Aspirin gekauft hatte. Anschließend hatte Wes mich nach Hause gebracht. Meine halbherzigen Proteste, das sei doch nicht nötig und überhaupt, ich müsste doch noch zu meinem Auto, fing er damit ab, dass er mir versprach mich am nächsten Tag persönlich zu meinem Wagen zurückzukutschieren, der ja noch bei Delia stand. Als wir vor unserem Haus ankamen, dachte ich, er würde mich absetzen und gleich weiterfahren. Aber Pustekuchen. Seitdem hockten wir in der Auffahrt, sahen den Glühwürmchen beim Tanzen zu und erzählten uns gegenseitig die Wahrheit.

Allerdings fragte keiner von uns nach dem Moment, in dem ich seine Hand genommen hatte. Im Gegenteil, zwischendurch überlegte ich ernsthaft, ob ich mir das nicht eingebildet hatte. Schließlich war es so heiß gewesen, so chaotisch und verwirrend, dass mir alles, was auf der Party passiert war, völlig unwirklich erschien. Aber dann fiel mir Monicas argwöhnischer, vorwurfsvoller Blick wieder ein und ich wusste, ich hatte es mir nicht eingebildet. Außerdem dachte ich aus irgendeinem Grund des Öfteren an Jason: wie sehr er vor Berührungen zurückscheute, wie eigenartig er in dieser Beziehung war, so dass jede liebevolle Geste, jedes Mal, das ich ihn anzufassen versuchte, ein Risiko mit ungewissem Ausgang dargestellt hatte. Mit Wes dagegen war es vollkommen anders gewesen. Es hatte sich ganz natürlich ergeben.

»Ich hätte nicht mehr so viel Angst«, sagte ich. Wes, der einem fröhlich herumflatternden Glühwürmchen nachgeblickt hatte, wandte den Kopf, um mich anzuschauen. »Ich meine, wenn ich irgendetwas an mir selbst verändern könnte. Das wäre es.«

»Keine Angst mehr haben«, sagte er. Nicht zum ersten Mal ging mir durch den Kopf, was ich an Wes bei diesem Spiel so besonders mochte: dass er meine Antworten nie bewertete. Seine Stimme und sein Gesicht blieben neutral, was mir immer Raum gab weiterzusprechen, wenn ich wollte, zu erklären, was ich meinte. »Wovor denn?«, fügte Wes hinzu.

»Ungeplante Dinge tun. Spontan sein. Wenn ich keine Angst mehr hätte, würde ich nicht dauernd an sämtliche Konsequenzen denken, sondern einfach machen, was mir in den Sinn kommt.«

Er brauchte wie so oft einen Moment, um darüber nachzudenken. »Zum Beispiel?«

Ich nahm einen Schluck aus meiner Wasserflasche, stellte sie wieder neben mir ab. »Zum Beispiel bei meiner Mutter. Es gibt so vieles, das ich ihr gern sagen würde, aber weil ich nicht weiß, wie sie reagiert, lasse ich es lieber.«

»Was denn?«, fragte er. »Was würdest du ihr gern sagen?«

Ich fuhr mit meinem Finger an der Kante der Ladeklappe entlang. »Ich glaube, es geht weniger darum, was ich genau sagen, als darum, was ich tun würde . . .« Ich unterbrach mich, machte eine abwehrende Geste. »Ach, vergiss es. Ich bin dran.«

»Gibst du etwa auf?«, fragte er.

»Natürlich nicht, ich habe die Frage beantwortet!«

Wes schüttelte den Kopf. »Nur den ersten Teil.«

»Das war aber keine zweiteilige Frage.«

»Jetzt ist es eine.«

»So was kannst du nicht bringen, das weißt du genau«, konterte ich. Im Anfang hatte es nur eine einzige Regel gegeben, nämlich dass wir auf jeden Fall die Wahrheit sagen mussten. Doch schon bald hatten wir angefangen, uns ständig wegen irgendwelcher Zusatzregeln und Variationen des Spiels zu kabbeln. Ein paar Mal stritten wir uns über den konkreten Inhalt einer Frage, ein- oder zweimal darüber, ob die Antwort auch vollständig gewesen war, und unzählige Male darüber, wer an der Reihe war. Doch das gehörte alles zum Spiel mit dazu. Wenn allerdings jemand plötzlich anfing, die Regeln während einer Frage zu ändern, also mittendrin, wurde das Ganze natürlich noch komplizierter.

Wes schüttelte erneut den Kopf. »Komm, antworte einfach«, sagte er und stieß mich mit dem Ellbogen an.

Ich atmete angespannt durch, stützte mich auf meinen Händen ab und lehnte mich etwas zurück. »Na gut, wenn du es unbedingt wissen willst . . . also, wenn ich könnte, würde ich am liebsten zu meiner Mutter gehen und ihr sagen, was ich ihr in dem Moment eben gerade sagen will, egal was das ist. Vielleicht würde ich ihr erzählen, wie sehr ich meinen Vater vermisse. Oder dass ich mir Sorgen um sie mache. Keine Ahnung, es könnte alles Mögliche sein. So bescheuert es klingen mag, ich würde sie auf jeden Fall erst einmal wissen lassen, wie ich mich fühle. Ohne erst groß drüber nachzudenken. Reicht das als Erklärung?«

Nicht zum ersten Mal machte mich eine meiner eigenen Antworten verlegen, aber so hatte es sich noch nie angefühlt, so real, so . . . als könnte mich das, was ich sagte, verletzen. Als würde ich dadurch total bloßgestellt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich in dem Moment aussah, war aber froh, dass mein Gesichtsausdruck im Halbdunkel wahrscheinlich sowieso kaum zu erkennen war. Eine Zeit lang schwiegen wir beide.

»Das ist überhaupt nicht bescheuert«, meinte Wes schließlich. Mit gesenktem Kopf knibbelte ich am Rand der Ladeklappe rum. »Ganz und gar nicht bescheuert«, wiederholte er.

Ich fühlte dieses seltsame Kitzeln und Schaben im Hals und schluckte es mühsam weg. »Kann schon sein. Aber ihr fällt es einfach ungeheuer schwer, über Gefühle zu reden. Und damit wird es für uns alle schwer. Als wäre es ihr lieber, wenn wir überhaupt nicht mehr über unsere Gefühle sprächen, keiner von uns. Als würde es ihr sonst zu viel.«

Wieder musste ich schlucken. Atmete dann tief durch. Spürte, dass sein Blick auf mir ruhte.

»Glaubst du wirklich, dass es für sie so ist?«

»Woher soll ich das wissen? Genau weiß ich es letztlich natürlich nicht, denn wir reden ja nicht darüber. Wir reden über gar nichts. Das ist ja das Problem.« Ich fuhr mit dem Finger am Hals meiner Wasserflasche entlang. »Genau das ist mein Problem. Ich rede mit niemandem über das, was in meinem Inneren vor sich geht, weil ich Angst habe, dass es dem anderen zu viel werden könnte.«

»Und was ist das hier?« Er wedelte mit der Hand zwischen uns auf und ab. »Nennt man das etwa nicht reden?«

Ich lächelte. »Wir spielen bloß Wahrheit. Das ist etwas anderes.«

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich weiß nicht . . . Die Kotzgeschichte war schon der Hammer.«

»Hör mir auf mit der Kotzgeschichte«, sagte ich gespielt entnervt. »Bittebittebitte, sei so lieb.«

Worauf er jedoch überhaupt nicht reagierte, sondern stattdessen fortfuhr: »Seit wir dieses Spiel spielen, hast du mir echt viel von dir erzählt. Und wenn auch manches davon vielleicht schräg war oder schwierig oder richtiggehend ekelhaft . . .«

»Wes!«

». . . war nichts dabei, das mir zu viel geworden wäre.« Mit ernstem Gesicht sah er mich an. »Vergiss das nicht, wenn du dich das nächste Mal fragst, was andere Menschen verkraften können oder auch nicht, was du ihnen zumuten kannst oder nicht. Es ist vielleicht mehr, als du denkst.«

»Kann sein«, antwortete ich. »Aber vielleicht bist du in der Beziehung auch einfach eine Ausnahme. Eben jemand, der nicht so ist wie alle anderen.«

Ich kam mir vor, als redete ich gar nicht selber. Ich hörte die Worte, als wäre nicht ich die Sprecherin, war vollkommen einverstanden mit dem, was gesagt wurde – und realisierte erst mit leichter Verzögerung, dass es meine Stimme war. Hilfe, dachte ich. Das kommt also dabei raus, wenn man nicht denkt, sondern aus dem Bauch heraus redet. Und handelt.

Wir blickten einander in die Augen. Die Glühwürmchen leuchteten, funkelten, glitzerten in der warmen Nacht. Wes war mir nah, so nah, dass sich unsere Knie beinahe berührten. Plötzlich überkam mich dasselbe überwältigende Gefühl wie auf der Party, als ich seine Hand ergriffen, als seine Finger sich um meine geschlossen hatten. Und für eine Sekunde – eine völlig abgehobene, verrückte, wahnsinnige Sekunde – dachte ich: Wenn ich es nur zulassen könnte, würde sich alles ändern. Alles. In genau diesem Augenblick. Wenn ich ein anderes Mädchen gewesen wäre und das hier eine andere Welt, hätte ich ihn geküsst. Und nichts hätte mich mehr aufgehalten.

»Okay«, sagte ich zu schnell, fast atemlos. »Ich bin dran.«

Wes blinzelte mich an, als hätte er vergessen, dass wir spielten. Also hatte er es ebenfalls gespürt.

»Klar.« Er nickte. »Schieß los. Stell deine Frage.«

Ich holte tief Luft. »Wenn du absolut alles tun könntest, was du wolltest – was wäre das?«

Ich hatte keine Ahnung, was er antworten würde, aber im Grunde wusste ich das vorher nie. Vielleicht würde er sagen, dass er seine Mutter gern noch einmal wiedersähe, oder sich Frieden auf der ganzen Welt oder einen Röntgenblick wünschen, mit dem er durch alles hindurchblicken konnte. Keine Ahnung, was genau ich für eine Antwort erwartete. Doch bestimmt nicht die, die ich bekam.

»Passe.«

Zunächst glaubte ich, mich verhört zu haben. »Wie bitte?«

Wes räusperte sich. »Ich sagte, ich passe.«

»Warum?«

Er wandte den Kopf, sah mich an. »Darum.«

»Was bedeutet darum?«

»Darum ist darum, weiter nichts. Ich will einfach nicht.«

»Du weißt, was das bedeutet?«

Er nickte.

»Du kennst die Regeln?«

»Wenn du meine nächste Frage beantwortest – egal, wie sie lautet –, hast du gewonnen«, sagte er.

»Genau.« Ich setzte mich aufrecht hin und wappnete mich für das, was jetzt kam. »Okay, mach.«

Er atmete einmal tief durch. Ich wartete gespannt. Aber dann sagte er: »Nein.«

»Nein?«, fragte ich ungläubig. »Was meinst du mit nein?«

»Mit nein meine ich nein.« Er redete in einem Ton, als wäre ich vollkommen begriffsstutzig.

»Du musst eine Frage stellen.«

»Aber nicht sofort«, erwiderte er und schnippte ein Insekt von seinem Arm. »Bei einer derart wichtigen Frage, einer Frage, die für das Gesamtergebnis des Spiels entscheidend ist, kann man sich so lange Zeit lassen, wie man möchte.«

Ich traute meinen Ohren kaum. »Wer sagt das?«

»So lauten die Regeln.«

»Wir haben diese Regeln diskutiert, bis sie uns zu den Ohren rauskamen«, antwortete ich. »Das ist keine offizielle Regel.«

»Dann ist es eben jetzt eine«, erwiderte er lapidar.

Ich war völlig platt. Nicht nur wegen seiner Weigerung, die nächste, die entscheidende Frage zu stellen. Alles, was in den letzten fünf Minuten passiert war – dass ich gesagt hatte, er sei nicht wie alle anderen, dass ich gespürt hatte, wie sich von einer Sekunde auf die andere alles verändern konnte, alles veränderte, bis hin zu dem, was gerade geschah –, fühlte sich an wie nicht von dieser Welt. So als befände ich mich gar nicht mehr in meinem eigenen Körper.

»Also gut«, meinte ich. »Aber du darfst dir keine Ewigkeit Zeit damit lassen.«

»So lange werde ich nicht brauchen.«

»Wie lange denn?«

»Auf jeden Fall bedeutend weniger als eine Ewigkeit«, antwortete Wes. Ich schwieg. Wartete, dass er weitersprach. Was er schließlich auch tat. »Vielleicht eine Woche, vielleicht ein bisschen mehr oder weniger. Aber fang auf keinen Fall an, mich deswegen zu drängen. Damit würde das ganze Spiel ungültig. Die Frage kommt, wann sie kommen soll.«

»Noch eine neue Regel«, sagte ich. Nur damit das auch klar war.

Wes nickte. »Ja.«

Während ich ihn noch ansah und versuchte zu verarbeiten, was eigentlich genau zwischen uns vorging, kam plötzlich ein Wagen über den Hügel gefahren. Geblendet blinzelten wir ins Scheinwerferlicht. Ich schirmte die Augen mit der Hand ab, um zu erkennen, wessen Auto sich näherte. Meine Mutter. Natürlich hing sie am Telefon und schien uns nicht zu sehen, selbst dann nicht, als sie an uns vorbei über die Auffahrt bis zur Garage fuhr. Erst als sie – Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt – ausgestiegen war, fiel ihr Blick auf uns. Sie kniff die Augen zusammen.

»Macy, bist du das?«

»Ja«, antwortete ich. »Ich komme gleich. Eine Minute noch.«

Meine Mutter konzentrierte sich wieder auf ihr Telefonat und lief Richtung Haus, allerdings nicht ohne sich im Gehen nach mir und Wes’ Truck umzudrehen. Sie stieg die Stufen zur Haustür hoch, kramte ihren Schlüssel aus der Handtasche, schloss auf, ging hinein. Kurze Zeit später gingen nacheinander die Lichter im Haus an – Eingangsbereich, Küche, hinterer Flur – und markierten so ihren Gang zum Arbeitszimmer.

Ich hüpfte von der Ladeklappe runter. »Danke für den aufregenden Abend. Auch wenn du mich echt in der Luft hängen lässt.«

»Du wirst es überleben.« Wes lief zur Fahrertür, stieg ein, setzte sich ans Steuer.

»Aber lass dir eins gesagt sein: Wenn es vorbei ist, beantrage ich etwa zwanzig Zusatzregeln. Und wenn ich damit fertig bin, wirst du das Spiel nicht mehr wiedererkennen.«

Er schüttelte erst amüsiert den Kopf, lachte dann laut auf. Und ich merkte, dass ich lächelte. Im Grunde war es mir ganz recht, auf die nächste Frage ein wenig warten zu müssen. Was ich ihm gegenüber natürlich nicht zugegeben hätte, in dem Moment nicht und vielleicht überhaupt nie. Das Spiel war mir mittlerweile sehr wichtig geworden. Ich wollte nicht, dass es aufhörte, vor allem nicht so bald. Nicht jetzt. Aber das musste er ja nicht unbedingt wissen. Zumal er nicht danach gefragt hatte.

»Und noch eins lass dir gesagt sein: Ich hoffe, deine Frage – wenn du sie denn endlich stellst – ist wenigstens gut. Wo du schon so einen Aufstand machst deswegen.«

»Keine Bange«, meinte er. Seine Stimme klang so selbstbewusst und ruhig wie immer. »Meine nächste Frage wird der Hammer.«