Ich konnte nicht schlafen.
Am nächsten Tag würde ich mit der Arbeit in der Bibliothek anfangen. Mir ging’s so wie jedes Mal vor dem ersten Schultag nach den Ferien – Nervosität, Anspannung, Lampenfieber. Andererseits hatte ich mit dem Schlafen schon immer Schwierigkeiten gehabt und wachte bei jeder Kleinigkeit auf. Wodurch das, was am Todestag meines Vaters geschehen war – als er in mein Zimmer kam und vergeblich versuchte mich zu wecken –, noch merkwürdiger wurde, als es ohnehin schon war. Denn ausgerechnet an dem Morgen hatte ich tief und fest, ja fast bewusstlos geschlafen.
Seitdem fürchtete ich mich geradezu vorm Schlafen. Ich war mir sicher, dass wieder etwas Furchtbares geschehen würde, wenn ich mir auch nur für einen Moment gestattete, nicht wenigstens unterschwellig wach zu sein. Deshalb ließ ich in der Regel nur noch so eine Art Wegdämmern zu. Und wenn ich mal fest genug schlief, um zu träumen, drehten sich meine Träume unweigerlich ums Laufen.
Mein Vater war ein begeisterter Läufer gewesen. Schon früh hatte er meine Schwester und mich in eine Laufgruppe für Kinder mit dem schönen Namen Lakeview-Blitze gesteckt; und wenn er selbst zu seinen 5000-Meter-Läufen startete, was er regelmäßig tat, meldete er uns beide mit an, natürlich bei den Junioren. Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Wettrennen: Ich war sechs und stand mehrere Reihen hinter der Startlinie zwischen lauter Schultern und Rücken eingezwängt, weil ich für mein Alter ziemlich klein war. Caroline hatte sich natürlich nach vorne durchgedrängelt, wodurch sie mir und dem Rest der Welt demonstrieren wollte, dass sie mit ihren zehn, beinahe elf Jahren nicht mehr nach hinten zu den Babys gehörte. Die Startpistole ging los. Mit einem Mal stürmten alle gleichzeitig vorwärts. Das Geräusch von Turnschuhen auf Asphalt war nahezu ohrenbetäubend und ich hatte im ersten Moment das Gefühl, davongetragen zu werden, denn meine Füße berührten kaum den Boden. Die Zuschauer rechts und links der Straße glitten verschwommen an mir vorbei, ihre Gesichter lösten sich in der Geschwindigkeit auf. Mein Blick hielt sich am Pferdeschwanz des Mädchens vor mir fest. Denn das war alles, was ich noch sehen konnte: Pferdeschwanz, geripptes blaues Haargummi. Irgendein Junge, der viel größer war als ich, stieß von hinten gegen mich, und während der zweiten Runde bekam ich Seitenstechen, doch plötzlich hörte ich die Stimme meines Vaters.
»Macy! Du machst das ganz toll! Weiter so, du schaffst es!« Mit acht war mir bewusst, dass ich eine gute Läuferin war, schneller als all die anderen Kinder, mit denen ich um die Wette rannte. Ich wusste es, noch bevor es mir das erste Mal gelang, schon in der ersten Runde die Kinder zu überholen, die älter waren als ich. Wusste es sogar, bevor ich mein erstes und von da an jedes Rennen gewann. Wenn ich erst einmal richtig in Fahrt war und der Wind in meinen Ohren pfiff . . . eines Tages würde ich einfach abheben und fliegen. Noch einmal tief durchatmen, noch ein entschlossener Schritt – und ich würde fliegen. So fühlte es sich an.
Zu dem Zeitpunkt fuhr ich längst allein mit meinem Vater zu den Wettkämpfen. Meine Schwester hatte das Interesse am Laufen ungefähr im siebten Schuljahr verloren, nämlich als sie entdeckte, dass der Höhepunkt für sie bei einem Rennen nicht die Ziellinie nach hundert Metern war. Nicht? Was denn dann? Na, nach dem Rennen mit den Typen aus der Jungenmannschaft flirten, was sonst? Laufen machte ihr nach wie vor Spaß, aber nur wenn ihr jemand – nachlief. Ansonsten fand sie es ziemlich überflüssig.
Deshalb bildeten mein Vater und ich das Wettkampfteam der Familie. Wir standen früh auf, um unsere Standardlaufstrecke von acht Kilometern zurückzulegen; saßen samstagmorgens in der Küche, mümmelten Energieriegel, versorgten einander mit Eisbeuteln zur Kühlung unserer geschundenen Gelenke, tauschten Leidensgeschichten über schmerzende Knie und Wadenkrämpfe aus. Wir hatten viel gemeinsam, aber das Laufen war das Beste. Es war der Teil von ihm, der mir ganz allein gehörte. Auch deswegen hätte ich an jenem Morgen bei ihm sein sollen.
Doch ab da änderte sich alles. Auch das Laufen. Noch wenige Tage zuvor hatte ich mir vorgenommen, meine ohnehin guten Zeiten zu toppen, aber plötzlich zählte das alles nichts mehr. Es gab eine Zeit, einen Rekord, der war nicht zu brechen . . . Deshalb ließ ich das Laufen von da an bleiben.
Und nicht nur das. Ich ging oder fuhr nie mehr an der Kreuzung von Willow Street und McKinley Road vorbei, wo es passiert war, nahm den Umweg jedoch gern in Kauf – Hauptsache, ich musste nicht mehr an jener Stelle vorbei. Das mit dem Umweg war kein Problem. Meine Freunde vom Laufteam dagegen schon. Sie kümmerten sich rührend um mich – vor, während, nach der Beerdigung – und waren ziemlich enttäuscht, als unser Trainer ihnen erzählte, ich sei freiwillig aus der Schulmannschaft ausgeschieden. Aber als ich ihnen dann auch noch im Unterricht oder auf dem Flur offen aus dem Weg ging, waren sie nicht nur enttäuscht, sondern gekränkt. Niemand schien zu begreifen, dass es außer mir – und meiner Mutter – keinen Menschen mehr gab, auf den ich mich verlassen konnte. Verlassen insoweit, als dass er mich eben nicht nach meinem Vater fragte, mich bemitleidete oder den Das-arme-Mädchen-Gesichtsausdruck aufsetzte. Denn das ertrug ich einfach nicht, machte meine Welt daher immer kleiner und enger, schloss jeden aus, der mich kannte oder sich mit mir anfreunden wollte. Und hatte keine Ahnung wie ich sonst damit hätte umgehen sollen.
Also sammelte ich sämtliche Pokale, Trophäen, Plaketten ein und verpackte sie ordentlich in Kartons. Als hätte sich jener Teil meines Lebens – mein Läuferleben – in Luft aufgelöst. Wenn man bedenkt, wie viel mir dieses Leben einmal bedeutet hatte, ging es fast zu leicht.
Mittlerweile lief ich nur noch in meinen Träumen. Doch dabei bahnte sich jedes Mal eine Katastrophe an oder ich hatte etwas Wichtiges vergessen und meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding, waren nicht stark genug, um mich zu tragen. Egal was sonst passierte (und es gab die Träume in zahlreichen Variationen): Am Ende sah ich jedes Mal in der Ferne eine Ziellinie vor mir, die ich nicht erreichen konnte, wie viele Kilometer ich auch rannte.
»Ach ja, richtig.« Bethany musterte mich durch ihre schmale, randlose Brille. »Du fängst ja heute bei uns an.«
Ich stand vor ihr, hielt meine Tasche umklammert und konnte plötzlich an nichts anderes mehr denken als an den Fingernagel, den ich mir gerade auf dem Parkplatz vor der Bibliothek beim Abschnallen des Sicherheitsgurts abgebrochen hatte. Dabei hatte ich mir mit dem Styling für diesen ersten Arbeitstag solche Mühe gegeben: T-Shirt gebügelt, Scheitel schnurgerade gezogen, Lippenstift aufgetragen, weggewischt, wieder aufgetragen. Doch dieser abgebrochene, zerstörte Fingernagel ruinierte alles; er fiel bestimmt sofort auf, da konnte ich ihn noch so verschämt in meiner Handfläche verstecken.
Bethany rutschte auf ihrem Stuhl zurück und stand auf. »Du kannst dich da hinten hinsetzen.« Sie öffnete die halbe Tür, die auf Kniehöhe zwischen uns angebracht war, damit ich hinter die Theke treten konnte. »Aber nicht auf den roten Drehstuhl, da sitzt Amanda. Auf dem daneben, am anderen Ende, würde ich vorschlagen.«
»Danke.« Ich ging zu dem Stuhl, zog ihn ein Stück von der Theke weg, damit ich mich setzen konnte, und verstaute meine Tasche neben meinen Füßen. Einen Augenblick später kündigte das Quietschen der Tür an, dass jemand hereinkam: Amanda, Bethanys beste Freundin und stellvertretende Schulsprecherin. Sie war groß und hatte lange, immer zu einem ordentlichen Zopf geflochtene Haare. Dieser Zopf, der ihr weit den Rücken hinunterhing, saß immer so perfekt, dass ich mir während unserer endlosen Schülermitverwaltungs-Besprechungen manchmal die Zeit damit vertrieb, darüber nachzudenken, ob der Zopf gar nicht echt, sondern angesteckt war wie diese komischen Klemmschlipse. Oder ob sie ihn vielleicht gar nicht entflocht, sondern damit schlief.
»Hallo, Macy«, sagte Amanda kühl und setzte sich kerzengerade auf ihren roten Stuhl. Sie sah aus wie ein Modell für vorbildliche Sitzhaltung: Schultern leicht zurück, Kinn leicht erhoben. Vielleicht half ja der Zopf dabei. »Ich hatte vergessen, dass du heute anfängst.«
»Äh . . . mmm.« Ich nickte etwas lahm. Die beiden schauten mich indigniert an. Das Äh und das Mmm schwebten vernuschelt zwischen uns in der Luft, als wären sie mit einem nassen Schwamm hingewischt worden. Deshalb sagte ich noch einmal klar und deutlich »Ja«.
Ich arbeitete hart, um perfekt zu werden – Betonung auf Arbeit –, während diese Mädchen längst perfekt waren. Bethany hatte kurze rote Haare, die sie sich immer hinter die Ohren kämmte, und kleine, sommersprossige Hände mit gerade abgefeilten Nägeln. Als ich in Englisch ein Schuljahr lang mal neben ihr saß, hatte ich ihr immer ganz fasziniert beim Schreiben zugeschaut, denn ihre Buchstaben sahen aus wie gedruckt. Sie war ein eher ruhiger Typ, während Amanda gern und viel redete, allerdings mit einem kultivierten, europäischen Akzent. Den hatte sie sich in Paris zugelegt; ihr Vater hatte nämlich an der Sorbonne promoviert, weswegen ihre Familie ein paar Jahre dort gewohnt hatte. Keine der beiden hatte ich je in einem Kleidungsstück mit Falten an der falschen Stelle oder gar einem Fleck gesehen. Sie benutzten keine umgangssprachlichen Ausdrücke. Sie waren Jason in weiblich.
»Seit Sommerferien sind, ist nicht mehr viel los.« Amanda strich den Rock über ihren langen, weißen Beinen glatt. »Hoffentlich gibt es genug für dich zu tun.«
Da ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte, lächelte ich mein schönstes Alles-okay-Lächeln, drehte mich um und starrte die Wand gegenüber der Infotheke an. In meinem Rücken begannen Amanda und Bethany sich über irgendeine Ausstellung zu unterhalten, selbstverständlich in gedämpftem, kultiviertem Ton. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Fünf nach neun. Noch fünf Stunden und fünfundfünfzig Minuten.
Ungefähr drei Stunden später, gegen Mittag, hatte ich eine einzige Frage beantwortet: Wo die Toilette sei. (Das passierte mir also nicht nur daheim: Anscheinend sehe ich einfach so aus, als wüsste ich, wo die Toilette ist; immerhin besser als gar nichts.) Dabei war durchaus was los gewesen bei uns an der Infotheke: ein Problem mit einem der Kopierer, eine etwas kniffelige Frage wegen einer obskuren Fachzeitschrift, sogar jemand, der sich nach dem Online-Lexikon erkundigte, das eigentlich Jasons Domäne war und in dessen Benutzung er mich extra eingearbeitet hatte. Doch selbst wenn Amanda und/oder Bethany gerade beschäftigt waren und die Besucher der Bibliothek sich mit ihren Anliegen direkt an mich wandten, sprang eine der beiden auf und sagte eifrig: »Einen kleinen Moment bitte, ich helfe Ihnen gleich.« Und zwar in einem Ton, der mehr als deutlich machte, dass mich zu fragen reine Zeitverschwendung wäre. Beim ersten, zweiten, dritten Mal dachte ich noch, sie wollten mir netterweise Zeit geben, um mich einzugewöhnen. Doch allmählich wurde mir klar, dass ich in ihren Augen schlicht und einfach nicht hierher gehörte.
Punkt zwölf stellte Amanda ein Schild vor sich auf die Theke – AB EINS WIEDER BESETZT – und holte eine wiederverschließbare Frischhaltetüte mit einem Bagel darin aus ihrer Handtasche. Synchron dazu zog Bethany die Schublade neben sich auf und entnahm ihr einen Apfel sowie einen Ginkgo-Müsliriegel.
»Wir würden ja gern mit dir zusammen Pause machen«, sagte Amanda. »Aber wir müssen noch für den College-Vorbereitungskurs lernen. Bald sind Aufnahmeprüfungen. Sei bitte in einer Stunde wieder hier.«
»Ich kann auch hier bleiben«, schlug ich vor, »und um eins Pause machen, dann wäre der Infoschalter durchgehend besetzt.«
Sie starrten mich an, als hätte ich soeben verkündet, ich könne das Grundprinzip der Quantenphysik erklären und gleichzeitig mit mehreren Kegeln auf einmal jonglieren.
»Nein, danke.« Amanda wandte sich bereits ab, um durch die halbe Tür auf die andere Seite der Theke zu gehen. »So ist es besser.«
Sie verschwanden in einem angrenzenden Raum. Ich ging nach draußen, über den Parkplatz, zu einer der Bänke am Brunnen. Nahm das Erdnussbutter-Marmeladen-Brot, das ich mir mitgebracht hatte, aus meiner Tasche, legte es auf meinen Schoß und atmete ein paar Mal tief durch. Aus irgendeinem Grund hatte ich plötzlich das Gefühl, ich müsste jeden Moment losheulen.
Eine knappe Stunde lang saß ich auf der Bank. Warf mein Butterbrot weg. Ging wieder hinein. Obwohl es erst fünf vor eins war, saßen Bethany und Amanda bereits wieder hinter der Infotheke, wodurch natürlich sofort der Eindruck entstand, ich hätte mich verspätet. Während ich mich zwischen ihren Stühlen durchmanövrierte, um zu meinem Platz zu gelangen, merkte ich, wie ihre Blicke auf mir ruhten.
Der Nachmittag schleppte sich endlos dahin. Nach wie vor herrschte wenig Publikumsverkehr und mich beschlich das Gefühl, mein Gehör wäre plötzlich schärfer als sonst, denn ich hörte auch noch das leiseste Geräusch: das Summen der Neonröhren über mir an der Decke, das Quietschen von Bethanys Stuhl, wenn sie sich bewegte, das Geklapper der Tasten, wenn jemand den PC mit der Online-Kartei um die Ecke benutzte. An Stille war ich gewöhnt, aber diese Stille fühlte sich anders an als normal, leer und einsam. Statt hier in der Bibliothek hätte ich im Büro meiner Mutter jobben oder mit einem Pfannenwender Krabbenpastetchen von Blech zu Tablett zu Servierplatte bugsieren können. Vielleicht hatte ich die falsche Entscheidung getroffen. Aber was sollte ich machen – ich hatte mich nun mal auf diesen Job eingelassen.
Um drei schob ich meinen Stuhl zurück, stand auf und öffnete zum ersten Mal seit mehr als zwei Stunden den Mund: »Also dann, bis morgen.«
Als Amanda den Kopf wandte, glitt ihr Zopf über ihre Schulter. Sie las schon die ganze Zeit in einem dicken Wälzer über italienische Geschichte. Jedes Mal wenn sie umblätterte, befeuchtete sie vorher kurz den Finger mit ihrer Zunge. Woher ich das wusste? Ich hatte es gehört. Jedes geschlagene Mal.
»Oh . . . ja, natürlich«, sagte sie. »Bis morgen.«
Und Bethany schenkte mir ein gezwungenes Lächeln.
Während ich den Lesesaal in Richtung der gläsernen Eingangstür durchquerte, spürte ich ihre Blicke zwischen meinen Schulterblättern. Und dann, unvermittelt, die Geräusche der Welt: ein vorbeifahrendes Auto, Gelächter im Park auf der anderen Straßenseite, fernes Flugzeugbrummen. Einen Tag geschafft, dachte ich. Und nur noch einen Sommer vor mir.
»Wenn es Spaß machen würde, hieße es nicht Arbeit.« Mit diesen Worten reichte meine Mutter mir die Salatschüssel.
»Du hast bestimmt Recht«, antwortete ich.
»Wart’s ab, irgendwann wird es leichter«, meinte sie im Brustton der Überzeugung. Sie hatte keine Ahnung, absolut und überhaupt gar keine. »In jedem Fall ist es eine gute Erfahrung und darauf kommt es wohl am meisten an.«
Mittlerweile arbeitete ich seit drei Tagen in der Bibliothek und die Situation hatte sich kein bisschen entspannt. Ich klammerte mich an den Gedanken, dass ich es für Jason tat, weil es ihm so wichtig war, hatte allerdings das dumpfe Gefühl, Bethany und Amanda richteten mit vereinten Kräften ihre nicht gerade geringen IQs einzig und allein darauf, mich zu demoralisieren.
Am ersten Tag hatte ich mich noch darum bemüht, in meiner E-Mail an Jason einen möglichst gelassenen, munteren Eindruck zu vermitteln. Doch am zweiten Tag, also gestern, konnte ich es mir nicht verkneifen, mich ein bisschen über Bethanys und Amandas Verhalten mir gegenüber auszulassen. Und dabei war gestern die Sache mit dem schlecht gelaunten Typen noch gar nicht passiert. Heute kam nämlich jemand vorbei, der offenbar eher widerwillig einen Sommersprachkurs in Französisch belegt hatte. Er fragte mich nach der Sektion »Französische Literatur«, was schlussendlich dazu führte, dass Bethany mich vor ihm zur Schnecke machte, weil ich ihrer Meinung nach den Namen Albert Camus falsch ausgesprochen hatte. Prompt hatte sie – mit ihrem perfekt geschulten Gehör – das Gefühl, mich korrigieren zu müssen, und zwar gleich zweimal.
»Camüü«, sagte sie mit französisch gespitzten Lippen.
»Camüü«, wiederholte ich, obwohl ich wusste, dass ich es richtig ausgesprochen hatte. Was ich nicht wusste, war, warum ich überhaupt zuließ, dass sie mich belehrte. Aber da saß ich. Und ließ es zu.
»Nein, nicht so.« Sie reckte das Kinn ein wenig höher und ließ die Finger vor ihren Lippen flattern. »Camüüü.«
Ich warf ihr einen stummen Blick zu. Egal wie oft ich es wiederholte – es würde sie nicht überzeugen. Da hätte ich den guten alten Albert persönlich bitten können, seinen Namen für uns auszusprechen. Deshalb sagte ich nur: »Okay, danke.«
»Gern geschehen.« Sie drehte sich auf ihrem blöden Stuhl weg von mir, zu Amanda hin, die sie nur mit einem milden Kopfschütteln anlächelte, bevor sie mit dem weitermachte, was sie eben gerade tat.
Kein Wunder also, dass ich mich an jenem Tag besonders freute, als ich beim Checken meiner E-Mails eine von Jason entdeckte. Er wusste, wie unmöglich die beiden waren, er würde mich verstehen. Ja, ein bisschen Verständnis, eine kleine Bestätigung, das ist alles, was ich jetzt brauche, dachte ich, während ich die E-Mail mit dem gewohnten Doppelklick öffnete.
Doch schon beim Überfliegen der ersten Zeilen wurde mir klar, dass mein Selbstbewusstsein oder die Tatsache, wie es mir ging, wie ich mich fühlte, zweitrangig waren – zumindest für Jason, denn er schrieb: Als ich deine letzte Mail las, war ich plötzlich etwas besorgt, dass du dich möglicherweise nicht ausreichend auf deine Aufgaben konzentrierst. Zwei volle Absätze lang beschreibst du die Arbeitsatmosphäre, aber die Fragen aus meiner letzten E-Mail beantwortest du nicht: Sind die neuen Ausgaben der Wissenschaftlichen Monatsanthologie eingetroffen? Bist du mit meinem Passwort in die überregionale Datenbank reingekommen? Es folgten ein paar Hinweise auf Dinge, die ich unbedingt noch erledigen sollte. Und schließlich: Falls du Schwierigkeiten mit Bethany und Amanda hast, sprich sie einfach offen darauf an. Persönliche Befindlichkeiten gehören nicht an den Arbeitsplatz. Als schriebe mir nicht mein Freund, sondern ein Vorgesetzter. Ich war auf mich allein gestellt, zumindest das stand jetzt fest.
Ich blickte auf. Meine Mutter, die mir gegenübersaß, betrachtete mich mit leicht besorgtem Gesicht. Ihre Gabel schwebte reglos über dem Teller. Obwohl wir nur noch zu zweit im Haus wohnten, aßen wir immer am großen Tisch im Esszimmer. Das gehörte zu unseren Ritualen, genauso wie: Sie war fürs Hauptgericht, ich für Salat oder Gemüse zuständig und wir zündeten zu jeder Mahlzeit Kerzen an. Des Weiteren aßen wir jeden Tag pünktlich um sechs; danach stellte sie das Geschirr in die Spülmaschine – nicht ohne es vorher kurz unter den Wasserhahn zu halten –, während ich Tisch plus Arbeitsflächen abwischte und die Reste vom Essen wegräumte. Zumindest in dem Punkt hatte sich nicht viel geändert. Denn da sowohl mein Vater als auch Caroline zu den Menschen gehörten, die das Thema Ordnung und Sauberkeit ziemlich entspannt sahen, waren meine Mutter und ich schon immer die Aufräumer der Familie gewesen. Jetzt, ohne die beiden, war es höchstens noch sauberer und ordentlicher als vorher. Ich kann einen Krümel aus einem Kilometer Entfernung erspähen. Meine Mutter ebenfalls.
»Ja?«, sagte ich.
»Alles in Ordnung?«
Am liebsten hätte ich die Frage wahrheitsgemäß beantwortet. Das wünschte ich mir übrigens jedes Mal, wenn sie mir die Frage stellte, denn ich hätte meiner Mutter so gern so viel erzählt; zum Beispiel, wie sehr ich meinen Vater nach wie vor vermisste, wie oft ich immer noch an ihn dachte . . . Aber ich hielt mich – zumindest in den Augen meiner Umwelt – schon seit so langer Zeit so tapfer, dass es mir wie Scheitern vorgekommen wäre, zuzugeben, wie anders es in meinem Inneren aussah. Diese Chance hatte ich verpasst, wie so viele andere auch.
Ich hatte mir nie wirklich gestattet zu trauern, war übergangslos von einem reinen Schockzustand zu meinem Alles-in-Ordnung-Lächeln gewechselt, hatte alles dazwischen einfach ausgelassen. Doch mittlerweile wünschte ich mir, ich hätte um meinen Vater ebenso herzzerreißend und bitterlich geweint wie Caroline. In den Tagen nach der Beerdigung herrschte bei uns ein ständiges Kommen und Gehen; Verwandte und andere Leute tummelten sich im Haus, brachten Essen vorbei, hockten in unterschiedlichen Konstellationen um den Küchentisch, aßen, tranken und erzählten sich Geschichten über meinen Vater und was für ein großartiger Mensch er gewesen war. Ich stand dann fast immer reglos im Türrahmen und schüttelte jedes Mal den Kopf, wenn mich jemand ansah und signalisierte: Hier ist noch ein Stuhl frei, setz dich doch zu uns. Ich beherrschte mich, hielt mich zurück, blieb reserviert. Mittlerweile wünschte ich mir jedoch, ich hätte damals anders reagiert. Vor allem wünschte ich mir, ich hätte mich in die ausgebreiteten Arme meiner Mutter – die wenigen Male, die sie ihre Arme ausgebreitet hatte – geworfen, mein Gesicht an ihrer Schulter vergraben und versucht Trost für mein trauriges Herz zu finden. Aber ich war nie darauf eingegangen. Ich wollte ihr helfen statt sie noch mehr zu belasten, deshalb hielt ich mich zurück. Bis sie aufhörte mir ihren Trost, ihre Umarmungen anzubieten. Während sie dachte, ich wäre drüber weg, bräuchte ihre Unterstützung nicht mehr, hätte ich ihrer jetzt, im Hier und Heute, mehr bedurft denn je.
Mein Vater war immer der Liebevollere, Wärmere von den beiden gewesen, zumindest in der Art, wie er es zeigte, wie er zum Beispiel im Vorbeigehen mein Haar verwuschelte. Und er war geradezu berühmt für seine liebevollen Umarmungen, vielmehr Zerquetschungen. Er drückte einen mit seinen großen Händen so fest an sich wie ein Bär. Weil er diese kraftvolle, positive Ausstrahlung hatte, konnte mein Vater einen ganzen Raum mit seiner Anwesenheit füllen, so dass ich immer das Gefühl hatte, ganz dicht bei ihm zu sein, selbst wenn wir nicht direkt nebeneinander standen. Meine Mutter hingegen war wie ich ein Mensch, der seine Gefühle nicht so deutlich zeigte. Trotzdem wusste ich, genau wie bei Jason, dass sie mich liebte, erkannte es an den kleinen, subtilen Zeichen: Wie sie kurz im Vorbeigehen meine Schulter drückte; wie ihre Hand glättend über mein Haar strich; wie sie mit einer Art siebtem Sinn erkannte, ob ich müde war oder Hunger hatte. Dennoch sehnte ich mich manchmal danach, dass mich jemand fest an sich drückte, wollte spüren, wie ein anderes Herz neben meinem schlug; dabei hatte ich früher oft gezappelt, um mich zu befreien, wenn mein Vater seine Arme um mich schlang und mich festhielt, bis ich Angst bekam, dass mir die Luft wegblieb. Ich hätte nie geglaubt, dass mir diese überschwänglichen, bärentapsigen Umarmungen mal fehlen würden. Aber so war es.
»Ich bin wahrscheinlich bloß müde«, antwortete ich. Meine Mutter nickte mir beruhigt zu: Dieses Gefühl war ihr vertraut. »Morgen läuft es bestimmt schon besser.«
»Ja.« Ihre Stimme klang vollkommen überzeugt von dem, was sie sagte. Aber glaubte sie ihren eigenen Worten oder tat sie vielleicht einfach nur so? Schwer zu sagen, wirklich schwer. »Natürlich, morgen geht bestimmt alles besser.«
Nach dem Essen ging ich auf mein Zimmer und schaffte es, nach mehreren Anläufen und ziemlich häufigem Löschen von viel Text eine – wie ich fand – nette, liebevolle, aufrichtige und trotzdem nicht zu gefühlsduselige E-Mail an Jason zu formulieren. Ich beantwortete all seine Fragen wegen des Jobs und hängte eine von ihm erbetene Datei an: eine Liste aller Recycling-Aktionen und -Maßnahmen, die er an unserer Schule eingeführt hatte und jetzt jemandem, den er im Schlaumeiercamp kennen gelernt hatte, zeigen wollte. Erst dann erteilte ich mir selbst die Erlaubnis, vom Organisatorischen zum Persönlichen überzuwechseln.
Ich vermute, dir kommt das, was sich zwischen uns in der Bibliothek abspielt, kleinlich, melodramatisch und übertrieben vor, schrieb ich. Aber ich denke, es liegt vor allem daran, dass du mir fehlst und ich mich einsam fühle; außerdem ist es nicht gerade leicht, jeden Tag wohin zu gehen, wo man so offensichtlich nicht willkommen ist. Ich freue mich jedenfalls schon sehr auf deine Rückkehr.
Ich bildete mir ein, diese Sätze würden meine Gefühle etwa auf dem gleichen zurückhaltenden Level ausdrücken wie meine unaufdringlichen Berührungen sonst, zum Beispiel, wenn ich ihn kurz liebevoll am Arm fasste oder beim Fernsehen mein Knie an seins lehnte. Wenn man nichts anderes zur Verfügung hat als Worte, muss man Ersatz finden für Gesten und aussprechen, was man sonst gar nicht aussprechen müsste. Davon war ich so überzeugt, dass ich sogar noch einen Schritt weiterging, die E-Mail mit Ich liebe dich. Macy beendete und dann auf das Icon SENDEN drückte, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
Fertig. Ich ging zum Fenster, schob es hoch und kletterte nach draußen. Es hatte geregnet, ein kurzes Sommergewitter; die Luft war immer noch leicht abgekühlt, die Welt tropfend nass. Ich setzte mich auf die Fensterbank und stellte meine bloßen Füße auf die Dachziegel. Von meinem Vordach aus hat man den besten Blick, den unser jetziges Haus zu bieten hat, sieht über Wildflower Ridge hinweg zu den Lichtern des Einkaufszentrums von Lakeview und sogar bis zum Glockenturm der Universität im Hintergrund. Auch in unserem alten Haus hatte mein Zimmer eine besondere Eigenschaft gehabt, und zwar wegen des einzigen Fensters, das auf die Straße hinausging – und dem Baum davor, an dem man gut runterklettern konnte, weil seine Zweige bis an die Hauswand reichten. Deswegen eignete sich mein damaliges Schlafzimmerfenster hervorragend als alternative »Haustür« und wurde als solche häufig genutzt. Allerdings nicht von mir, sondern von Caroline.
Ab der siebten Klasse war Caroline, wie meine Mutter immer sagte, ganz »versessen auf Jungs« und deshalb bloß schwer unter Kontrolle zu halten – was ununterbrochenen Kampf und drastische Maßnahmen meiner Eltern bedeutete, die dann doch nichts nützten. Hausarrest, eingeschränkte Telefonierzeiten, Taschengeldkürzungen, Autofahrverbot, Schlösser am Wohnzimmerschrank, in dem der Alkohol stand, Riechtests an der Haustür, wenn sie heimkam . . . Großes Melodram. Türen wurden geknallt, mit Füßen gestampft, Stimmen erhoben, beim Frühstück, beim Abendessen, im Wohnzimmer, in der Küche. Doch nicht immer ging es so laut und leidenschaftlich zu; vieles, das verboten war, spielte sich unter dem Mantel des Schweigens und der Dunkelheit ab. Heimlich. Mit mir als einzigem Publikum, alleiniger Zeugin, die gemütlich im Bett lag und alles mitbekam.
Oft war ich gerade eingeschlafen, da hörte ich, wie sich meine Zimmertür mit einem leisen Knarren erst öffnete und dann blitzschnell wieder schloss. Jemand schlich taptaptap barfuß durchs Zimmer, Schuhe landeten dumpf auf dem Teppich, und als Nächstes spürte ich, wie dieser Jemand auf mein Bett stieg und die Matratze unter dem zusätzlichen Gewicht nachgab.
»Macy!« Ein sanftes und zugleich entschlossenes Flüstern. »Pscht! Sei bloß still, okay?«
Sie drückte langsam das Fenster hoch, stieg über meinen Kopf hinweg und schwang sich auf das Fensterbrett, unter dem mein Bett stand.
Und ich flüsterte vermutlich jedes Mal so was wie: »Du kriegst echt noch gewaltigen Ärger.«
Sie ließ die Füße über die Fensterbank baumeln. »Gib mir meine Schuhe.« Was ich natürlich folgsam tat. Und wenn sie die Schuhe hinausgeworfen hatte, ertönte von unten ein gedämpftes Patsch.
»Caroline!«
Sie drehte sich noch einmal kurz zu mir um. »Mach das Fenster zu, aber nicht verriegeln. Ich bin in einer Stunde wieder da. Träum was Schönes. Ich habe dich lieb.« Und dann beugte sie sich nach links – immer nach links –, bevor sie endgültig verschwand. Von dem Moment an konnte ich sie nur noch hören. Geschickt kletterte sie an der Eiche nach unten, Ast um Ast. Wenn ich mich aufsetzte, um das Fenster zu schließen, lief sie, Schuhe unterm Arm, meist schon über den Rasen. Ihre bloßen Füße hinterließen dunkle Spuren im feuchten Gras. Und jedes Mal wartete neben dem Stoppschild an der nächsten Kreuzung ein Auto auf sie.
Es dauerte immer länger als eine Stunde, manchmal sogar viel länger, bevor sie wieder auf der Außenseite des Fensters auftauchte, es hochschob und auf mich purzelte. Beim Abhauen war meine Schwester klar, nüchtern, präzise, als ginge sie zur Arbeit; doch wenn sie zurückkam, roch sie nach Bier und süßem Rauch, schwankte leicht, war sentimental, chaotisch und oft so müde, dass sie es nicht mehr zurück in ihr eigenes Bett schaffte, es wohl auch gar nicht wollte. Lieber kroch sie zu mir unter die Decke. Da lag sie dann, die Schuhe noch an den Füßen, und ihr Make-up verschmierte meinen Kopfkissenbezug. Manchmal weinte sie, erzählte mir allerdings nie, warum, sondern schlief irgendwann ein, während ich die ganze Nacht vor mich hin döste. Bei Sonnenaufgang schreckte ich dann hoch, rüttelte sie wach und brachte sie in ihr eigenes Zimmer, damit ihre nächtlichen Eskapaden nicht aufflogen. Dann ging ich selbst noch mal in mein Bett, wo alles nach ihr roch, und schwor, dass ich mein Fenster beim nächsten Mal von innen verriegeln würde. Aber den Schwur brach ich natürlich auch jedes Mal.
Als wir nach Wildflower Ridge zogen, ging Caroline schon aufs College und nach wie vor (fast) jede Nacht aus, manchmal bis zum Morgengrauen. Doch meine Eltern hatten aufgegeben. Sie versuchten nicht mehr Caroline aufzuhalten, sondern trafen lediglich eine Vereinbarung mit ihr: Sie konnte machen, was sie wollte, solange sie es diskret tat und ihr Zensurendurchschnitt konstant bei Zwei lag; dafür durfte sie umsonst daheim wohnen, während sie studierte und im Country Club kellnerte. Zum Glück musste sie also nachts nicht mehr heimlich verschwinden, denn in unserem neuen Haus stand kein Baum in praktischer Nähe irgendeines Schlafzimmerfensters und die Entfernung zum Boden war auch größer.
Nach dem Tod meines Vaters kam sie manchmal überhaupt nicht mehr heim. Ich malte mir dann jedes Mal absolute Horrorszenarien aus, sah sie schon tot auf der Autobahn liegen; die Realität war jedoch wesentlich unspektakulärer, denn zu der Zeit hatte sie sich bereits bis über beide Ohren in Wally, einen geschiedenen, aufstrebenden Anwalt aus Raleigh, verliebt, der zehn Jahre älter war als sie. Wie so vieles andere verheimlichte sie auch das beziehungsweise ihn meinen Eltern, aber nach der Beerdigung wurde die Sache zwischen ihnen immer ernster, bis er ihr schließlich einen Heiratsantrag machte. Wenn man die Ereignisse so zusammenfasst, klingt das Ganze kürzer, als es tatsächlich war, aber auch damals konnte es einem so vorkommen – zumindest erging es mir so –, als geschähe alles Schlag auf Schlag: In der einen Nacht purzelte Caroline noch durch mein Schlafzimmerfenster und schon am nächsten Tag stand ich vorne in einer Kirche und sah in beinahe schmerzlicher Deutlichkeit zu, wie mein Onkel Mike sie durch den Mittelgang zum Traualtar führte, wo Wally sie erwartete.
Natürlich wurde geredet. Die Leute fanden, Caroline sei zu jung, um zu heiraten, so kurz nach ihrem College-Abschluss; und dass sie wahrscheinlich nur einen Vaterersatz bräuchte. Dabei war deutlich zu sehen, wie sehr sie Wally liebte, aufrichtig liebte. Und gerade weil die Hochzeit so spontan, ja geradezu überstürzt geplant wurde, stellte sie für uns alle in jenem traurigen Frühjahr eine heitere Ablenkung dar. Aber das Beste war, dass meine Mutter und Caroline endlich mal etwas gemeinsam hatten, endlich derselben Meinung waren: Carolines Hochzeit sollte nämlich das größte, schönste, beste, rauschendste Fest überhaupt werden. Und seitdem kamen sie nach langer, langer Zeit wieder halbwegs miteinander klar.
Man hätte es während ihrer Pubertät, in der meine Schwester ausschließlich rebelliert hatte, nie für möglich gehalten, doch am Ende gelangen ihr innerhalb eines Monats immerhin gleich zwei erfolgreiche Abschlüsse: College und Ehebund. Tüchtig, tüchtig. Jetzt hieß sie Mrs Wally Thurber und wohnte in einem großen Haus in Atlanta, das zwar am Ende einer Sackgasse stand, doch auf der anderen Seite brauste vierundzwanzig Stunden täglich der Verkehr auf der Stadtautobahn vorbei. Zum Ausgleich verfügte das Haus über eine topmoderne Klimaanlage mit allen Schikanen, was bedeutete, dass sie nie ein Fenster öffnen musste.
Ich dagegen war nie der Typ gewesen, der sich nachts heimlich aus dem Haus schlich. Zum einen lag es daran, dass ich – Sportlerin, die ich nun mal war – früh aufstand, um zu trainieren; und später, mit Jason . . . so was taten wir einfach nicht. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie er reagieren würde, wenn ich ihm vorschlug mich um Mitternacht am Stoppschild abzuholen. Warum?, würde er fragen. Um die Zeit ist nichts geöffnet, morgen früh habe ich Yoga, also wirklich, Macy, was ist das für eine Schnapsidee? Und so weiter und so fort. Und er hätte Recht, natürlich hätte er Recht. Sich rausschleichen, die ganze Nacht Party machen und wer-weiß-was-sonst-noch treiben – das war nicht ich, das war Caroline. Und als sie von daheim auszog, nahm sie diese Eigenschaften und Abenteuer genauso mit wie all ihre anderen Sachen, so dass dafür im Haus nun kein Platz mehr war. Fand ich jedenfalls.
»Warum bist du überhaupt da, Macy?«, fragte sie jedes Mal, wenn sie freitagabends anrief und ich ans Telefon ging. »Warum bist du nicht unterwegs? Unternimmst irgendwas?« Wenn ich dann antwortete, ich müsse lernen oder Hausaufgaben machen, atmete sie so entnervt aus, dass ich den Hörer vom Ohr weghalten musste. »Was soll das? Du bist jung! Geh aus, amüsier dich, mach was Nettes, lebe! Für den ganzen anderen Kram hast du auch später noch Zeit.«
Anders als die übrigen Schickimicki-Frauen aus ihrer Nachbarschaft, die sie im Gartenclub oder Wohltätigkeitsverein kennen lernte, leugnete meine Schwester ihre Sturm-und-Drang-Zeit nie, sondern beharrte darauf, diese ihre wilde Phase wäre für ihre persönliche Entwicklung enorm wichtig gewesen. Aus demselben Grund war sie der Ansicht, ich würde auf diesem Gebiet hinterherhinken, ja sogar stagnieren und mich als Mensch, als Mädchen, als künftige Frau nicht wirklich entfalten.
»Ich find’s gut so, wie es ist«, sagte ich am Telefon zu ihr, auch jedes Mal.
»Ja, weiß ich, aber genau das ist das Problem. Du bist ein Teenager, Macy.« Sie betonte das immer so, als wüsste ich nicht, wie alt ich war. »Als Teenager spinnt man rum und die Hormone auch; man macht verrückte, ausgeflippte, wilde Sachen, das gehört sich einfach so. Jetzt ist die beste Zeit deines Lebens. Du solltest sie genießen und auskosten.«
Deshalb versprach ich ihr dann ganz brav, am nächsten Abend etwas zu unternehmen, bestimmt. Sie sagte, sie habe mich lieb, und verabschiedete sich. Und wenn wir aufgelegt hatten, ging ich wieder auf mein Zimmer und lernte weiter für meinen College-Vorbereitungskurs oder schrieb das Referat, das erst in zwei Wochen fällig war, oder bügelte. Manchmal kletterte ich auch aufs Dach und dachte an meine Schwester, an ihre wilde Zeit, und fragte mich, ob ich tatsächlich etwas verpasste. Vermutlich nicht.
Auf jeden Fall war es schön, auf dem Dach zu sitzen, selbst wenn meine Abenteuer in der großen weiten Welt, meine Und-wer-weiß-was-sonst-noch-Erlebnisse dort nicht nur begannen, sondern auch endeten.
Obwohl meine Mutter etwas anderes behauptet hatte, wurde es in der Bibliothek nicht besser. Im Gegenteil, ich kam allmählich zu der Erkenntnis, dass Bethanys und Amandas Verhalten zu Beginn noch richtig nett gewesen war im Vergleich dazu, wie sie mich mittlerweile behandelten. Sie redeten kaum noch mit mir, sondern sorgten lediglich dafür, dass ich so wenig wie möglich zu tun bekam.
Am Freitag nach dem ersten Montag hatte ich für den Rest meines Lebens genug geschwiegen. Mein Pech, denn das würde sich am Wochenende wohl nicht groß ändern. Meine Mutter war nämlich ans Meer gefahren, zu einem Seminar für Bauunternehmer, wo man neue Kontakte knüpfen und alte pflegen konnte. Ich hatte unser Haus also zwei Tage lang ganz für mich allein, jeden einzelnen stillen, schweigenden Quadratzentimeter.
Sie hatte mir vorgeschlagen mitzukommen, am Pool oder am Strand zu liegen, all die Sachen eben, die im Sommer Spaß machen; uns war jedoch beiden klar gewesen, dass ich ablehnen würde. Denn ein Ausflug ans Meer würde mich – wie so vieles andere – bloß an meinen Vater erinnern.
Wir besaßen nämlich ein Haus am Meer, in Colby, einem Dorf gleich hinter der Brücke über die Bucht. Ein echtes Sommerhäuschen. Die Veranda war grundsätzlich von einer dünnen Sandschicht bedeckt, und wenn es stürmte, quietschten und knarzten die Fensterläden ganz fürchterlich. Die drei langen Wochenenden beziehungsweise Feiertage im Sommer (Memorial Day Ende Mai, vierter Juli und Labour Day Anfang September) verbrachten wir gemeinsam dort, die ganze Familie, doch ansonsten war das Haus das Reich meines Vaters. Es hatte ihm schon gehört, bevor er meine Mutter kennen lernte, und der Junggesellentouch war geblieben. An der Tür zur Speisekammer hing eine Dartscheibe, über dem Kamin ein Elchkopf und in der Schublade des Küchentischs flog alles herum, was mein Vater für überlebensnotwendig hielt: Flaschenöffner, Spachtel, scharfes Messer, um Fisch auszunehmen. Der Herd war fast immer kaputt, was meinem Vater allerdings nur auffiel, wenn meine Mutter zufällig mal da war. Denn solange es genug Brennmaterial für den Grill gab und dieser reibungslos funktionierte, war er schon zufrieden.
Das Haus war seine Basis, um allein oder mit Freunden fischen zu gehen: Rotbarsch im Oktober, Goldmakrele im April, Thunfisch im Dezember. Von diesen Wochenenden kam mein Vater jedes Mal mit einem Kater, trotz Sonnenschutzfaktor 45 (das Sonnenöl hatte ihm natürlich meine Mutter eingepackt) mit einem Sonnenbrand sowie einer Kühlbox voll geschuppter, ausgenommener Fische heim. Er hätte diese Ausflüge zum Fischen nicht missen mögen, keine einzige Sekunde davon. Und sie waren traditionellerweise reine Männersache; deswegen nahm er mich auch nie mit, wenn er mit seinen Kumpels loszog. Dafür durfte ich ihn an anderen Wochenenden begleiten, wenn er zum Beispiel etwas am Haus reparieren oder einfach nur entspannen wollte. Natürlich ging er auch mit mir angeln, entweder vom Strand oder vom Boot aus. Abends saßen wir dann am Kamin und spielten Dame oder gingen im Last Chance essen, einem etwas runtergekommenen, kleinen Imbissrestaurant; aber die Kellnerinnen kannten ihn beim Vornamen und nirgendwo sonst habe ich je wieder so köstliche Hamburger gegessen. Dieses Stranddomizil war mein Vater, viel eher als unser altes Haus, geschweige denn das neue in Wildflower Ridge. Wenn sein Geist irgendwo umging, dann dort. Deshalb hatte ich unser Ferienhaus seit seinem Tod auch nicht mehr betreten.
Das galt allerdings nicht nur für mich, sondern auch für meine Mutter und meine Schwester: Keine von uns dreien war seitdem wieder bei dem Haus gewesen. In der Garage stand nach wie vor sein alter Chevrolet, und den Schlüssel, der unter der großen Muschel neben der Hintertür versteckt lag, hatte seitdem vermutlich auch niemand mehr angefasst. Den Schlüssel unter der Muschel hervorzuholen, das war bei der Ankunft immer meine Aufgabe gewesen.
Irgendwann würde meine Mutter das Haus wahrscheinlich verkaufen und den Truck dazu. Aber bisher hatte sie noch nichts in der Richtung unternommen.
Als ich am Freitagnachmittag heimkam, war es im Haus erwartungsgemäß sehr still. Totenstill. Um so besser, sagte ich mir, denn ich hatte mir fürs Wochenende viel vorgenommen: E-Mails schreiben, Colleges im Internet recherchieren, meinen Kleiderschrank ausmisten. Ein freies, ungestörtes Wochenende bot die ideale Gelegenheit, meine Winterpullover auszusortieren und ein paar Klamotten in den Secondhand-Laden zu tragen. Trotzdem wurden mir Stille und Schweigen dann doch ein wenig zu viel; deshalb schaltete ich den Fernseher im Wohnzimmer ein, ging auf mein Zimmer, machte das Radio an und drehte so lang am Suchknopf, bis ich nach ein paar Musikkanälen einen Sender fand, wo gerade jemand einen endlosen Vortrag über wissenschaftlichen Fortschritt im 21. Jahrhundert hielt. Doch trotz des Stimmengewirrs konnte ich nicht leugnen, dass ich allein war. Mutterseelenallein.
Wobei ich nach einem Blick auf meine E-Mails zunächst dachte, ich hätte mich geirrt und wäre gar nicht so allein. Doch schon beim Lesen der zweiten Zeile wurde mir klar, dass selbst eine Horrorwoche wie die gerade vergangene noch viel, viel schlimmer werden konnte.
ich habe mir mit der Antwort auf deine letzte E-Mail Zeit gelassen, weil ich dir etwas Wichtiges zu sagen habe und mir absolut sicher sein wollte, dass ich es auch klar und deutlich ausdrücken kann. Schon seit längerem habe ich den Eindruck, unsere Beziehung wird ein wenig zu eng; deshalb habe ich in den letzten Tagen gründlich darüber nachgedacht, was wir jeweils brauchen und ob wir es einander überhaupt geben können. Du scheinst zunehmend abhängig von mir zu werden, was ich aus dem letzten Satz deiner letzten Mail schließe. Und obwohl du mir wirklich nicht egal bist, sah ich mich dadurch gezwungen meine Rolle in dieser Beziehung zu überdenken und mir zu überlegen, wie sehr ich mich darauf einlassen kann und will.
Wie gesagt, du bist mir nicht egal, im Gegenteil, ich mag dich. Doch unser letztes Schuljahr liegt vor uns. Eine Zeit, die für mein weiteres Leben entscheidend sein wird, sowohl was mein Studium und meine beruflichen Ziele als auch was mein Engagement auf den diversen anderen Gebieten betrifft. All das steht im Mittelpunkt, darauf muss ich mich konzentrieren und deswegen kann ich mich auf nichts anderes wirklich einlassen, vor allem nicht auf eine intensive Beziehung.
Im Übrigen gilt meiner Meinung nach für dich das Gleiche. Wenn ich all das bedenke, komme ich zu dem Schluss, wir sollten uns gegenseitig eine Pause gönnen und uns vorübergehhend trennen, zumindest bis ich am Ende der Sommerferien wieder da bin. Auf diese Weise haben wir beide genügend Zeit, um darüber nachzudenken, was wir wollen und ob wir das Gleiche wollen. Im August können wir dann gemeinsam beschließen, ob wir wieder zusammenkommen oder ob es für uns beide das Beste ist, wenn wir endgültig auseinander gehen.
Ich bin zuversichtlich, dass du mit diesem Vorschlag einverstanden bist und ihn ebenso vernünftig findest wie ich. Ich glaube fest, es wäre die optimale Lösung für uns beide.
Ich las die E-Mail einmal von Anfang bis Ende durch. Schock. Las sie noch einmal. Immer noch Schock. Das kann gar nicht sein, ich träume, dachte ich.
Aber es war kein Traum, sondern die Wirklichkeit; als hätte ich einen zusätzlichen Beweis dafür gebraucht, dass die Welt sich weiterdrehte, drangen quer durch den Raum aus dem Radio gerade die neuesten Schlagzeilen an mein Ohr. In irgendeinem Balkanstaat war Krieg ausgebrochen. Die Börsenkurse sanken. Verhaftung eines Fernsehstars. Ich saß vor dem PC und starrte auf das Flimmern des Bildschirms, starrte auf die Worte. Nur langsam – genau wie damals, als Jason mir zum ersten Mal aus Macbeth vorgelesen hatte – sickerte ihre Bedeutung in mein Bewusstsein. Ihre grauenvolle Bedeutung.
Pause. Vorläufige Trennung. Ich wusste, was das bedeutete: die unmittelbare Vorstufe zur endgültigen Pause. Zur Pause ohne Ende, zur Trennung ohne Pause. Aus, Schluss, vorbei. Egal was die Worte, was Sprache bedeuteten – ich war raus aus dem Spiel, ganz klar. Und das nur, weil ich ein einziges Mal Ich liebe dich geschrieben hatte. Ich dachte, wir hätten diese drei Worte in den letzten Monaten öfter zueinander gesagt. Vielleicht nicht ausgesprochen, aber gemeint. Doch offensichtlich hatte ich mich geirrt.
Plötzlich überfiel mich die Einsamkeit wie ein Schlag in die Magengrube. Ich lehnte mich auf meinem Schreibtischstuhl zurück, so dass meine Hände wie leblos von der Tastatur rutschten. Noch einmal, noch deutlicher wurde mir bewusst, wie leer mein Zimmer war, unser Haus, die Stadt, die Welt – alles leer. Ich kam mir vor, als stünde ich auf der anderen Seite eines Objektivs und sähe zu, wie die Kamera allmählich zurückfuhr und ich – im Bild – kleiner wurde, immer kleiner, kleiner, kleiner, bis ich nur noch ein Fleck war, ein Staubkorn. Und schließlich ganz weg.
Ich musste dringend raus. Stieg in mein Auto und fuhr los.
Es half. Keine Ahnung, warum, aber es half. Zuerst kurvte ich nur durch Wildflower Ridge, Hügel rauf, Hügel runter, in Spiralen um das Baugelände herum, wo gerade die Grundstücke für die neuesten Häuser planiert wurden; dann wagte ich mich allmählich aus unserem Viertel raus, bog auf die Hauptstraße ab, fuhr Richtung Einkaufszentrum. Zunächst hatte ich zwar automatisch das Autoradio ein-, es allerdings sehr schnell wieder ausgeschaltet, weil beim Singen entweder jemand kreischte (nicht gut für meine Nerven) oder lautstark eine verlorene Liebe betrauerte (ganz allgemein nicht gut). Ich konzentrierte mich aufs Fahren, die Geräusche des Motors und des Getriebes, wenn ich einen neuen Gang einlegte, auf die der Bremsen, wenn ich bremste. Und beruhigte mich allmählich. Wenigstens das – das Fahren, Schalten, Bremsen – funktionierte noch so, wie es sollte. Zumindest vorläufig.
Auf dem Rückweg nach Wildflower Ridge herrschte ziemlich viel Verkehr. Klar, Freitagabend, jeder hatte irgendwas vor. Wenn ich vor Ampeln warten musste, schaute ich zu den anderen Wagen hinüber, beobachtete die Familien mit Kindern auf der Rückbank, die wahrscheinlich gerade essen waren und nun heimfuhren; beobachtete die voll geschminkten Studentinnen auf dem Weg in die Clubs, die Hand mit der qualmenden Zigarette lässig aus dem offenen Fenster baumelnd. Wie ich so dastand, allein in meinem Auto, umgeben von lauter Fremden, erschien mir die Aussicht, in ein leeres Haus zurückzukehren, an einen Computerbildschirm mit Jasons E-Mail, plötzlich noch schrecklicher als vorher. Ich konnte ihn direkt vor mir sehen, wie er an seinem Laptop hockte und mir schrieb, langsam, gründlich, wohl durchdacht – vermutlich nachdem er seine Notizen vom Tag abgetippt hatte und bevor er sich auf einer der Websites einloggte, die er regelmäßig besuchte, um sich über die neuesten Umweltaktivitäten zu informieren oder irgendwelche Petitionen rundzumailen. Von der Beziehung mit mir profitierte er nicht mehr, stattdessen überwog die Belastung. Mehr bedeutete ich nicht für ihn. Und seine Zeit war einfach zu kostbar, um sie mit einer solchen Beziehung zu verschwenden. Ein Problem, das ich nicht hatte, denn eines stand jetzt schon fest: Von nun an würde ich genug Zeit haben. Mehr als genug.
Als ich mich der nächsten Kreuzung näherte, fiel mir plötzlich die Wünschelrute auf. Dieselben kräftigen schwarzen Pinselstriche, derselbe weiße Lieferwagen. Gerade überquerte er vor mir die Kreuzung. Delia saß am Steuer, auf dem Beifahrersitz auch jemand. Ich ließ den Wagen nicht aus den Augen. Genau in der Mitte der Kreuzung war eine leichte Erhebung im Asphalt, und als der Wagen darüber fuhr, hüpfte das Logo einmal leicht auf und ab. Auf den beiden hinteren Türen standen insgesamt vier Buchstaben, zwei auf jeder Tür: WI und SH. WISH.
Ich bin kein spontaner Mensch. Aber wenn man allein ist, absolut und definitiv allein, hat man gar keine andere Wahl als für Anstöße von außen offen zu sein. Diese vier Buchstaben konnten – genau wie meine drei Worte für Jason – viele Bedeutungen haben, und das ohne jede Sicherheit oder Garantie. Doch während der Lieferwagen in eine Querstraße einbog, konnte ich die vier Buchstaben auf der Seitenwand noch einmal deutlich erkennen: WISH. Wünsch dir was. Wann, wenn nicht jetzt? Es wurde Grün, ich konnte losfahren. Und was tat ich? Schaltete, gab Gas, bog ebenfalls ab und folgte dem weißen Lieferwagen.