Kapitel 10

Meine Mutter war im Stress.

Ehrlich gesagt, meine Mutter war eigentlich immer im Stress. Ich konnte mich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann ich sie das letzte Mal entspannt gesehen hatte, wann sie das letzte Mal einfach nur irgendwo gesessen und man ihr nicht an der Nasenspitze angesehen hatte, dass sie bereits an die nächsten sechs Sachen dachte, die sie erledigen musste, und wahrscheinlich gleich auch noch an die übernächsten sechs. Sie hatte das mal gekonnt – sich einfach dem Augenblick zu überlassen, allen Druck von sich abzuwerfen; am liebsten saß sie dann stundenlang in einem der altmodischen, klobigen Holzliegestühle (die so von Wind und Wetter gegerbt waren, dass man höllisch aufpassen musste, sich keine Splitter zu holen) auf der Veranda unseres Ferienhauses und sah aufs Meer hinaus. Ohne Buch, ohne Zeitung, ohne jedwede Ablenkung. Brauchte sie alles nicht. Nur den Horizont. Auf ihn richtete sie ihre gesamte Aufmerksamkeit, ihren völlig ruhigen Blick. Vielleicht liebte sie das Meer ja so, weil es sie dazu brachte, überhaupt nichts mehr denken zu müssen. Vielleicht fuhr sie deshalb so gern hin. Dorthin, wo die Welt sich in sich zusammenzog und auflöste, bis nichts mehr existierte als das gleichmäßige Geräusch des Ozeans, wenn sich die Wellen brechen und das Wasser leise zischend und ziehend wieder hinausströmt.

Das Projekt Wildflower Ridge stand und fiel mit meiner Mutter; letztendlich war alles auf ihr Engagement zurückzuführen. Die ursprüngliche Planung des Projekts, die detaillierten Pläne für jede einzelne Bauphase, die Gestaltung der Grünflächen, die Grundstücks- und Gebäudeverwaltung, sogar wie die Nachbarn sich untereinander organisierten sie traf alle wesentlichen Entscheidungen. Deshalb hatte ich mich daran gewöhnt, dass ihr Handy der Dritte im Bunde war, wenn wir beim Abendessen saßen. Statt eines Tellers lag es auf dem dritten Set – da, wo früher Caroline gesessen hatte – und klingelte vor sich hin. Ununterbrochen. Wenn meine Mutter sogar spätabends noch nicht daheim war, wunderte ich mich nicht weiter darüber, denn ich wusste, sie führte entweder Kunden durch die halb fertigen Häuser oder hielt im Modellhaus Hof. Und wenn sie daheim war, wunderte es mich ebenfalls nicht mehr, dass bei uns im Wohnzimmer ganze Versammlungen mit Handwerkern, Geschäftspartnern, Ladenbesitzern oder potenziellen Hauskäufern stattfanden, denen meine Mutter Ringvorlesungen darüber hielt, was an Wildflower Ridge so einzigartig sei.

Zur Zeit befanden sich die Villen im Bau und die Villen waren meiner Mutter ganz besonders wichtig. Sie war ohnehin ein ziemliches Risiko eingegangen, als sie Luxushäuser für eine wohlhabende, anspruchsvolle Klientel – die bereit und in der Lage war, für aufwändige Extra-Annehmlichkeiten wie beheizbare Garagen, Marmorbäder, Balkone und modernste Innenausstattung, vor allem in der Küche, sehr viel Geld zu bezahlen – in das Projekt integrierte. Prompt verschlechterten sich genau in dem Moment, in dem sie konkret anfing zu bauen, die wirtschaftlichen Verhältnisse. Leute wurden entlassen, die Börse kollabierte und plötzlich hockten alle ängstlich auf ihrem Vermögen, vor allem wenn es um Immobilien ging. Da meine Mutter nun schon einmal losgelegt hatte, blieb ihr gar nichts anderes übrig als tapfer weiterzumachen; doch ihre Nervosität wuchs und entsprechend arbeitete sie immer mehr und immer härter, um ihre Kontakte zu pflegen, neue zu knüpfen und ihre Immobilien an den Mann zu bringen. Weil sie aber ohnehin schon fast jede Stunde, in der sie nicht im Bett lag und schlief, mit Arbeiten verbrachte, schien es eigentlich unmöglich, dass sie noch mehr arbeitete. Aber sie tat es. Und daher war sie im Stress. Im Dauerstress.

Dennoch sagte sie: »Mir geht’s gut«, nachdem Caroline sie danach gefragt hatte. Wir saßen zu dritt (Handy ausnahmsweise nicht mit eingerechnet) beim Frühstück. Seit meiner nächtlichen Wanderung mit Wes waren einige Tage vergangen. Meine Schwester pendelte mittlerweile fast ständig zwischen Atlanta und dem Meer hin und her. Bei sich zu Hause sorgte sie dafür, dass Wally genug Obst und Gemüse aß, während er eine wichtige Klage gegen einen Megakonzern durchzufechten hatte. Dann fuhr sie wieder zu unserem Ferienhaus, um mit dem Schreiner die Renovierungsmaßnahmen zu besprechen, fachsimpelte unverdrossen über Baumaterialien, Dekostoffe, Anstrichfarben und kaufte, den Quittungen nach zu urteilen, die überall von ihr herumflogen, den halben Baumarkt von Colby leer. Auf dem Weg zwischen Wally und dem Haus am Meer schaute sie regelmäßig bei uns vorbei, zeigte uns ihre neuesten Fotos, damit wir mitverfolgen konnten, wie die Renovierung vorankam. Sie wollte unsere Meinung zu ihren diversen Gestaltungsideen hören und erzählte meiner Mutter jedes Mal, sie müsse dringend Urlaub machen. Klar, was sonst?

»Du siehst aber nicht so aus, als ginge es dir gut, Mama«, antwortete meine Schwester.

Ich steckte mir einen Löffel Cornflakes in den Mund.

»Schläfst du genug? Schläfst du überhaupt?«, fragte meine Schwester.

»Natürlich.« Meine Mutter blätterte ein paar Unterlagen durch. »Ich schlafe tief und fest. Wie ein Baby.«

Wenn sie schlief. Ich hatte in letzter Zeit, wenn ich mitten in der Nacht, so um zwei oder drei, aus irgendeinem Grund runtermusste, ein paar Mal mitgekriegt, dass sie, noch im Businesskostüm, in ihrem Arbeitszimmer saß, wie rasend etwas in ihren PC tippte oder Nachrichten auf den Anrufbeantwortern der Lieferanten und Handwerksbetriebe hinterließ, die für sie arbeiteten. Keine Ahnung, wann sie schlafen ging. Oder ob überhaupt? Jedenfalls war sie am nächsten Morgen immer vor mir wach. Wenn ich in die Küche kam, um vor der Arbeit in der Bibliothek zu frühstücken, saß sie garantiert schon da. Frisch geduscht, wie aus dem Ei gepellt, Handy am Ohr.

»Aber du musst mir versprechen, dass du mit ans Meer kommst und Urlaub machst, wenn das Haus fertig renoviert ist.« Meine Schwester öffnete eine der Mappen, in denen sie sämtliche Unterlagen für das Ferienhausprojekt mit sich rumschleppte, und sortierte ein paar Fotos um. »Ich schätze, Anfang August wird es so weit sein. Wahrscheinlich in der zweiten Augustwoche.«

»Solange es nach dem siebten ist, bin ich mit allem einverstanden.« Meine Mutter schob ihren Kaffeebecher zur Seite, um sich mit dem Kuli, den sie in der Hand hielt, neben einem Absatz auf dem Blatt Papier vor ihr etwas zu notieren. »Am siebten werden die Villen mit einer Gala eingeweiht.«

»Du veranstaltest eine Gala?«, fragte ich.

»Eher einen Empfang.« Meine Mutter wollte schon eine Nummer auf ihrem Handy wählen, legte es jedoch noch einmal kurz beiseite. »Aber ich möchte, dass er größer und exklusiver wird als die Verkaufsveranstaltungen, die bisher bei uns stattfanden. Ich werde ein Festzelt anmieten, außerdem habe ich einen fantastischen französischen Caterer entdeckt . . . dabei fällt mir ein, ich muss sofort einen Anruf machen, wenn ich überhaupt noch eine Chance haben will, in den Küchen die hochwertigeren Wasserhähne installieren zu lassen.«

Damit stand sie auf, schob ihren Stuhl zurück und ging aus der Küche, wobei sie irgendwas vor sich hin murmelte. Wie sie von Caterern auf Wasserhähne gekommen war, leuchtete mir zwar nicht ganz ein. Aber man kam dieser Tage ohnehin kaum noch mit ihr mit.

»Am achten also?«, rief Caroline ihr nach. »Achter August? Kann ich mir das in den Terminkalender schreiben? Definitiv?«

Meine Mutter war zwar schon halb aus der Tür, drehte sich allerdings tatsächlich noch einmal um. »Der achte August. Einverstanden. Definitiv.« Und bekräftigte das mit einem Nicken.

Caroline lächelte zufrieden, während meine Mutter durch den Flur verschwand. Caroline hob ihre Mappe an, klopfte leicht mit der Unterkante auf die Tischplatte, um die Blätter darin gerade auszurichten, und legte die Mappe anschließend wieder ordentlich vor sich hin. »Abgemacht«, sagte sie. »Vom achten bis zum fünfzehnten August machen wir offiziell zusammen Urlaub.«

Als ich meinen Löffel in mein leeres Cornflakes-Schüsselchen legte, wurde mir bewusst, warum ich bei dem Datum sofort aufgehorcht hatte: Jason kam am Tag davor zurück. Wenn ich mit meiner Mutter und meiner Schwester ans Meer fuhr, würde ich also wissen, ob er und ich endgültig zusammen oder auseinander waren. Aber jetzt hatten wir erst Ende Juni. In den Villen fehlte noch alles Mögliche, von Fensterrahmen über elektrische Leitungen bis hin zu den Beeten im Vorgarten. Im Haus am Meer musste gestrichen, mussten Böden abgeschmirgelt und neue Einrichtungsgegenstände geliefert werden; unter dem wachsamen Blick meiner Schwester würde dort ein ganz neuer Look entstehen. Das Neue würde neu sein, das Alte ebenfalls. Wieder neu. Was würde ich sein? Zusammen, getrennt, in der Warteschleife oder was? Ich wusste es nicht. Zum Glück hatten wir alle miteinander noch ein bisschen Zeit.

 

Wes und ich waren jetzt offiziell Freunde. Worüber sich niemand mehr wunderte als ich.

Zu Beginn hatten wir eigentlich – mal abgesehen davon, dass wir beide ein Elternteil verloren hatten – nur eins gemeinsam, nämlich den Job bei Wish Catering. Zugegeben, das waren im Grunde schon ziemlich viele und vor allem wichtige Gemeinsamkeiten. Aber was uns jetzt verband, ging weit darüber hinaus. Seit jener Nacht, in der uns das Benzin ausging und wir mutterseelenallein durch die dunkle Pampa marschiert waren, fühlte ich mich in Wes’ Gegenwart einfach wohl. Wenn ich mit ihm zusammen war, musste ich weder perfekt sein noch es überhaupt im Ansatz versuchen. Denn er kannte bereits sämtliche meiner Geheimnisse, wusste, was ich anderen gegenüber verschwieg. Deswegen fiel es mir leicht, in seiner Gegenwart ich selbst zu sein. Das hätte eigentlich nichts Besonderes zu sein brauchen. Doch für mich war es etwas Besonderes. Sehr sogar.

»Sag mal, warum glotzen die eigentlich so?«, fragte er mich eines Abends, als wir auf dem Verandageländer eines Hauses in Arbors – dem Viertel neben Wildflower Ridge – hockten, wo gerade eine Party stieg.

Ich folgte seinem Blick durch die offen stehende, gläserne Schiebetür und entdeckte in der Küche drei Mädchen, die ich aus der Schule kannte und die uns – genauer gesagt: mich – unverhohlen anstarrten. Die drei gehörten zu denen, die nach Schulschluss noch ewig auf dem Parkplatz abhingen, grundsätzlich Sonnenbrillen trugen und ihre Kippen hinter vorgehaltener Hand verstecken zu können glaubten.

Ich trank einen Schluck Bier. »Ich glaube, sie sind einfach überrascht, mich hier zu treffen.«

»Ach ja?«

Ich nickte und stellte meinen Plastikbecher mit Bier auf dem Geländer ab. An den Köpfen der Mädchen vorbei konnte ich im Hintergrund Kristy, Bert und Monica sehen; sie saßen an dem langen Eichentisch im Esszimmer und spielten Münzenschnippen, wobei sie geschickt um die Bierdosen herummanövrierten, die sich dort türmten. Das ausladende Gesteck, das wohl sonst in der Mitte des Tisches prangte, war achtlos an den Rand geschoben worden. Wenn wir in letzter Zeit zu Partys gingen, ergab sich eigentlich immer dieselbe Konstellation: Wes und ich taten uns zusammen und hielten uns etwas abseits des Geschehens auf, während Kristy – genau wie alle anderen weiblichen Partygäste – auf Jungsfang ging, mit dem festen Vorsatz, den Supertypen des Abends abzuschleppen. Und Bert versuchte das Gleiche in puncto Mädels, wenn es in der Regel auch nur die sehr verzweifelten Mädchen waren, bei denen er Chancen hatte. Während die anderen also alle ihr Glück versuchten und über das dürftige Angebot klagten, saßen wir zwei »Beziehungspausierer« gemütlich beisammen, quatschten und sahen dem Trubel gelassen zu.

»Und warum sind sie so erstaunt, dich hier zu sehen?«, fragte Wes. Dabei nickte er einem Typen mit Baseballmütze zu, der gerade vorbeistiefelte und ihn grüßte.

»Weil sie denken, ich sei die Perfektion in Person.«

»Du?« Seine Stimme klang so übertrieben verdutzt, dass ich ihm einen ebenso übertrieben entrüsteten Blick zuwarf.

»Ich meine, äh . . . na ja«, lautete Wes’ nächster Kommentar.

»Halt bloß den Mund.« Ich schnappte mir mein Bier und nahm noch einen Schluck.

»Nein, nein, ich finde das sehr interessant«, sagte er.

Die drei Grazien traten auf die Terrasse und verschwanden in einem ganzen Klumpatsch Leute, die sich ums Bierfass drängten.

»Erklär mir, was du mit Perfektion meinst«, insistierte Wes.

»Artig. Lieb. Und zwar schon allein dadurch, mit wem ich sonst meine Zeit verbringe. Jason würde nie auf solche Partys gehen.«

»Nicht?«

»Natürlich nicht.«

Darüber musste Wes erst einmal ausgiebig nachdenken. Mir fielen mindestens sechs Mädchen auf der Terrasse auf, die ihn mehr oder minder offen anstarrten. Mit den Augen förmlich verschlangen. Obwohl ich mich allmählich daran gewöhnte, weil es jedes Mal passierte, wenn ich mit ihm zusammen in der Öffentlichkeit auftauchte, verunsicherte es mich nach wie vor. Und es nervte. Wie oft hatte ich mir schon neidisch-finstere Blicke eingehandelt, nur weil ich neben ihm saß! Ich hatte aufgehört, es zu zählen. Wir sind kein Paar, wollte ich jedem dieser Mädchen zurufen, die mich mit zu Schlitzen verengten Augen beobachteten und nur darauf warteten, dass ich zur Toilette musste oder mal kurz zu Kristy rüberging, um eine Runde mit ihr zu quatschen. Denn in dem Moment, da ich Wes’ Seite verließ, ergriffen sie unter Garantie sofort die Chance, sich an ihn ranzumachen. Inzwischen konnte ich allerdings ziemlich genau, und das aus einem Kilometer Entfernung, einschätzen, wer sein Typ war und wer nicht. Das Mädchen in dem engen schwarzen Kleid mit den knallrot geschminkten Lippen, das am Bierfass lehnte? Nein. Die Braungebrannte im Jeansminirock und schwarzen T-Shirt? Vielleicht. Die da hinten, die sich andauernd »verführerisch« über die Lippen leckte? Igitt. Nein. Nein. Nein.

»Nehmen wir trotzdem mal an, Jason wäre hier«, sagte Wes gerade. »Was würde er machen?«

Ich überlegte kurz, bevor ich antwortete. »Sich vermutlich über den Rauch beschweren. Sich Sorgen machen, ob die Dosen auch ordentlich, sprich umweltfreundlich entsorgt werden. Er ist ein absoluter Recycling-Fanatiker, wenn du verstehst, was ich meine. Und Becky?«

Auch Wes dachte einen Moment über meine Frage nach, fuhr sich dabei mit der Hand durchs Haar. Aus dem Esszimmer drang Kristys lautes, ausgelassenes Lachen. »Sie läge irgendwo in einer Ecke und wäre völlig zu. Oder würde sich im Gebüsch verstecken, um heimlich Gras zu rauchen. Was sie mir gegenüber hinterher standhaft leugnen würde.«

»Aha«, sagte ich.

»Genau – aha.«

Das Mädchen in dem engen schwarzen Kleid ging entschieden zu langsam an uns vorbei, wobei sie Wes tief in die Augen blickte. »Hallo«, hauchte sie. Er nickte bloß stumm. Hab ich’s doch gewusst, dachte ich.

»Also, echt«, sagte ich.

»Was?«

»Komm, gib zu, irgendwie ist es ziemlich albern.«

»Was?«

Erst jetzt, da ich versuchen wollte es ihm zu erklären, wurde mir klar, wie schwierig es war, die richtigen Worte dafür zu finden. »Du weißt schon, was ich meine«, begann ich. Zum Glück fiel mir Kristys Formulierung ein, die das Wes-Phänomen tatsächlich am besten charakterisierte: »Ich sage nur Bäng.«

»Bäng?«

»Jetzt hör aber auf, Wes. Merkst du wirklich nicht, wie dich alle Mädchen dieser Welt anstarren?«

Er verdrehte bloß die Augen und lehnte sich etwas zurück, die Hände am Geländer abgestützt. »Um noch mal darauf zurückzukommen, dass du angeblich perfekt bist –«

Ich fiel ihm ins Wort. »Mal im Ernst: Wie fühlt sich das an?«

»Perfekt zu sein? Woher soll ich das wissen?«

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich rede nicht von perfekt, sondern von . . .«

Während ich krampfhaft nach dem passenden Wort suchte, schnipste er einen Käfer von seinem Arm.

». . . schön. Attraktiv. Gut aussehend.« Noch vor zwei Wochen wäre ich an dieser Stelle feuerrot geworden und vor Scham im Boden versunken, so peinlich wäre es mir gewesen. Doch jetzt spürte ich allenfalls ein leichtes Zwicken in der Herzgegend, während ich einen Schluck Bier trank und wartete, dass Wes antwortete.

»Und ich wiederhole: Woher soll ich das wissen?«, meinte er. Gleichzeitig schlenderten die drei Parkplatzmiezen an uns vorbei und musterten uns von oben bis unten. »Sag du’s mir«, fuhr Wes fort.

»Lass stecken.« Dabei imitierte ich Monicas gedehnten Tonfall so perfekt, dass Wes laut auflachte. »Wir sprechen aber nicht von mir.«

»Das wäre aber gut möglich«, antwortete er. Amüsiert warf ich einen kurzen Blick zu Bert rüber, der gerade in Lauerstellung ging, weil eine Gruppe sehr junger, sehr naiver Girlies – schätzungsweise neuntes Schuljahr – das Wohnzimmer betraten.

»Ich bin nicht schön«, sagte ich.

»Natürlich bist du schön, spinnst du?«

Ich schüttelte den Kopf. Er wollte nur meiner Frage ausweichen. »Du bist so was von im Vorteil, schau dich doch mal an: der Prototyp des dunklen, schlanken, großen, geheimnisvollen Fremden. Und dazu noch ein Touch leidender Künstler.«

»Touch?«

»Du weißt schon, was ich meine.«

Er schüttelte ablehnend den Kopf. Mit dieser Beschreibung war er offensichtlich nicht einverstanden. »Sieh dich doch selber an: der Prototyp der coolen, smarten, überlegenen, perfekten Blondine.«

»Auf dich stehen alle Mädels, weil sie sich dann so schön rebellisch fühlen können. So schön anders.«

»Und du bist die Unnahbare auf der anderen Seite des Klassenzimmers, die allen Jungen die kalte Schulter zeigt.«

Aus dem Inneren des Hauses drangen unvermittelt laute Musikfetzen, ein paar dröhnende Bassrhythmen. Dann wurde es wieder etwas leiser.

»Ich bin nicht perfekt«, sagte ich. »Nicht mal ansatzweise.«

»Und ich leide nicht. Außer vielleicht bei dieser Unterhaltung.«

»Na gut.« Ich nahm mein Bier wieder in die Hand. »Worüber möchtest du als Nächstes reden?«

»Zum Beispiel darüber, dass wir mit unserem Spiel noch nicht fertig sind. Wir wurden mittendrin unterbrochen, schon vergessen? Ich würde gern weiterspielen.«

»Aber nicht heute Abend«, antwortete ich, während ein Typ, mit dem ich Englisch zusammen hatte, vorbeischwankte. Er sah definitiv so aus, als müsste er sich jeden Augenblick übergeben. »Ich glaube, Wahrheit ist heute Abend nichts für mich, das wird mir zu viel.«

»Das sagst du bloß, weil ich dran bin«, konterte er.

»Stimmt gar nicht, ich wäre dran.«

»Nein, es ist –«

Ich unterbrach ihn. »Ich habe dich nach der Myers School gefragt, du mich nach Jason, dann kam meine Frage wegen Becky und danach wolltest du wissen, warum ich nicht mehr laufe. Zwei Runden, jeder jeweils eine Frage. Ich bin dran.«

»Verstehst du jetzt, warum ich intelligenten Mädchen aus dem Weg gehe?«

Ich verdrehte bloß die Augen.

Wes rieb seine Handflächen aneinander und richtete sich kerzengerade auf, um mir zu zeigen, dass er bereit war. »Okay, schieß los. Ich bin so weit.«

»Na gut.« Ich strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Wie ist das, wenn einen alle Mädels anhimmeln?«

Er wandte sich mir zu, sah mich an. »Macy!«

»Du wolltest unbedingt spielen, nicht ich.«

Er schwieg fast eine Minute. Ich fing schon an, mich zu fragen, ob er vielleicht passen würde. Verneinte das aber sofort wieder. Er will viel zu gern gewinnen, um klein beizugeben, dachte ich. Und sollte Recht behalten.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er schließlich. »Selbst wenn es so ist, wie du sagst – ich merke es nicht mal.«

»Darf ich dich daran erinnern, dass dieses Spiel Wahrheit heißt?«, bemerkte ich.

Wes warf mir einen gereizten Blick zu. »Also gut. Ich find’s komisch. Jedenfalls nicht toll. Denn was bedeutet es schon? Ich meine, angestarrt zu werden, weil man so aussieht, wie man aussieht. Was soll das? Deswegen kennt man mich doch noch lange nicht wirklich. Es ist total oberflächlich und hat mit dem Menschen, der ich bin, überhaupt nichts zu tun.«

»Sag ihr das mal.« Diskret deutete ich mit dem Kinn auf ein Mädchen auf der entgegengesetzten Seite der Terrasse, die Wes mit Glupschaugen verschlang.

»Haha«, murmelte er und sah bewusst in die andere Richtung. »Bin ich jetzt endlich dran?«

»Nein, ich habe noch eine Frage, die mit der ersten zusammenhängt«, antwortete ich.

»Darf man das?«

»Ja«, erwiderte ich mit fester Stimme, ganz wie damals meine Schwester, die sich ständig neue Regeln ausgedacht hatte. Regeln, die ihr in den Kram passten. »Wenn das also oberflächlich ist und Aussehen nichts damit zu tun hat, wie ein Mensch wirklich ist – was ist dir denn dann wichtig? Bei einem Menschen, meine ich?«

Nach kurzem Nachdenken antwortete er. »Ich weiß nicht. Nur weil ein Mädchen ein hübsches Gesicht hat, heißt das noch lange nicht, dass sie auch nett, fair, zuverlässig ist. Oder umgekehrt. Äußerlichkeiten sind mir nicht so wichtig. Ich mag Macken. Ich finde, dadurch werden Dinge und Menschen überhaupt erst interessant.«

Ich wusste zwar nicht, was für eine Antwort ich erwartet hatte, doch diese jedenfalls nicht. Deshalb saß ich einen Moment lang stumm da und versuchte erst einmal zu begreifen, was Wes gesagt hatte.

»Weißt du was?«, meinte ich schließlich. »Ich schätze, die meisten Mädchen wären, wenn sie das jetzt gehört hätten, noch verrückter nach dir als sowieso schon. Weil es zeigt, dass du zwar übermenschlich gut aussiehst, aber trotzdem ein ganz normaler Mensch bist. Attraktiv bist du sowieso, keine Frage. Aber durch so eine Einstellung katapultierst du dich in einen Bereich jenseits von gut und böse, bist überhaupt mit nichts und niemandem mehr zu vergleichen.«

»Ich möchte nicht so sein, so . . . unvergleichlich.« Wes verdrehte die Augen. »Aber ich möchte endlich das Thema wechseln.«

»Okay, du bist dran«, sagte ich.

Ich warf einen Blick ins Haus. Kristy quatschte mit einem Typen im Rastalook. Monica hockte gelangweilt daneben (ganz was Neues). Berts lüsterner Blick hing an dem Mädchen, das gerade beim Münzenschnippen an der Reihe war; allerdings hatte sie, soweit ich es beurteilen konnte, die Tasse, die als Ziel diente, bereits sechsmal hintereinander verfehlt.

»Warum ist dir Perfektion so wichtig?«

Ich merkte, dass ich vor lauter Verblüffung über die Frage ein paar Mal blinzeln musste. »Stimmt doch gar nicht«, antwortete ich.

Er beäugte mich skeptisch. »Wie heißt dieses Spiel noch mal?«

»Aber es ist die Wahrheit«, sagte ich. »Mir persönlich ist es ziemlich egal, ob ich oder irgendwer anders perfekt ist oder nicht.«

»Ich habe einen anderen Eindruck von dir.«

»Und wie kommst du darauf?«

Er zuckte die Schultern. »Jedes Mal, wenn du von deinem Freund sprichst, sagst du, er sei perfekt.«

»Das stimmt ja auch«, entgegnete ich ihm. »Aber ich bin’s nicht. Das war unser Problem.«

»Ach, Macy.« Wes warf mir einen Blick zu. »Ich meine, was heißt überhaupt perfekt?«

Kopfschüttelnd führte ich mein Glas an die Lippen. Es war leer, aber ich brauchte dringend irgendetwas zu tun. »Ich glaube, es geht im Grunde gar nicht darum, perfekt zu sein«, sagte ich. »Es geht darum . . . keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Die Kontrolle zu haben?«

»Erklär mir das mal genauer.«

Ich seufzte. »Ich weiß nicht, ob ich das kann . . .« Ausweichend drehte ich den Kopf, sah wieder Richtung Esszimmer. Wo waren Kristy, Monica, Bert? Jede Ablenkung wäre mir hoch willkommen gewesen. Doch die drei waren nirgendwo mehr zu sehen, und um den Esszimmertisch saß plötzlich auch niemand mehr. Also musste ich wohl oder übel antworten.

»Als mein Vater starb, fühlte sich das an wie bei einem Erdbeben. Wackelig, schwankend, verstehst du? Damals habe ich damit angefangen, alles so gut wie möglich machen zu wollen, weil es mir irgendwie geholfen hat. Es hat mich abgelenkt, weil ich mich aufs Perfektsein-Wollen konzentrieren konnte. Und ich redete mir selbst ein, solange ich perfekt bin, also keine Fehler mache, kann mir nichts mehr passieren.«

Wieder einmal traute ich meinen eigenen Ohren kaum. Wie kam ich dazu, Wes solche absolut intimen Dinge anzuvertrauen? Und das auf einer lärmenden Party, wo jede Menge Fremde und, was noch schlimmer war, Klassenkameraden von mir herumschwirrten. Quatsch – im Grunde konnte ich mir keinen einzigen Ort vorstellen, wo ich wirklich gern und unbefangen darüber geredet hätte. Außer vielleicht in meinem eigenen Kopf, denn dort ergab es zumindest eine Art Sinn.

»Das ist doch irgendwie ätzend«, meinte Wes schließlich leise. »Du verurteilst dich selbst von vornherein zum Scheitern, weil niemand immer perfekt sein kann. Das ist unmöglich.«

»Wer sagt das?«

Wes sah mich an. »Das Leben. Die Welt«, antwortete er und machte mit dem Arm eine ausladende Geste, als wären diese Terrasse, diese Party tatsächlich gleichbedeutend mit der ganzen Welt. »Das Universum. Reine Perfektion gibt es nicht. Und warum würdest du das überhaupt wollen? Dass alles perfekt ist, meine ich.«

»Ich will nicht, dass alles perfekt ist«, antwortete ich. Und fügte in Gedanken hinzu: nur ich. »Ich will bloß –«

»Wir müssen«, sagte jemand neben mir. Als ich aufblickte, sah ich Monica, die wie üblich ihren Pony aus der Stirn pustete. Sie zeigte erst auf ihre Armbanduhr und dann Richtung Küche, wo Bert und Kristy bereits auf uns warteten.

»Hast du ein Glück, dass es geklingelt hat«, meinte Wes und hüpfte vom Geländer. Ich ließ mich ebenfalls hinuntergleiten, allerdings etwas langsamer. Meine letzten drei Worte schwebten noch durch mein Bewusstsein. Was wollte ich? Ich hatte einen Jungen kennen gelernt, der Macken und Fehler mochte, ja sogar Stärken darin sah, nicht automatisch Scheitern oder Versagen. Früher wäre ich nie draufgekommen, dass so jemand überhaupt existierte. Was wohl passiert wäre, wenn wir uns unter anderen Umständen kennen gelernt hätten? In einer anderen, einer perfekten Welt. Nicht in dieser.

 

Mittlerweile hasste ich den Bibliotheksjob.

Es war einfach nervtötend da. Langweilig. Es erstickte einen. Dort drinnen war es so still, dass ich mir sicher war, ich würde mein Blut durch meine Adern rauschen hören, wenn ich nur aufmerksam genug lauschte. Würde hören, wie sich die Erdplatten knirschend gegeneinander verschoben. Würde sogar hören, wie die Zeit verging. Selbst wenn mein Tag gut angefangen hatte – in dem Augenblick, da ich durch die hohe Glastür trat und auf die Infotheke zulief, blieb alles stehen. Als ob man den Zeiger einer Uhr anhielt. Die Welt blieb stehen. Sank in tiefste Tiefen. Und verharrte da geschlagene sechs Stunden lang, die ich in dieser verfluchten Bibliothek festhing.

Eines Tages marschierte ich mit einem Riesenstapel angeschimmelter, muffiger Ausgaben von Nature durch den Lesesaal und kam gerade an einem besonders hohen Stapel irgendwelcher Fachzeitschriften vorbei, da hörte ich ein »Buh!«.

Ich zuckte zusammen, allerdings nicht sehr, denn allzu doll hatte ich mich nicht erschreckt. Dazu war das Buh zu leise gewesen. Warum das so war, klärte sich auf, als ich vorsichtig um den Zeitschriftenstapel herum in den angrenzenden Saal blickte. Da stand Kristy in einem weißen Plisseerock, einem kurzärmeligen, pinkfarbenen Flauschpullover und ihren weißen Gogo-Stiefeln. Die Haare hatte sie hoch auf dem Kopf zusammengebunden. Außerdem trug sie eine gigantische Sonnenbrille mit weißem Rahmen sowie eine Fransentasche. Sie sah aus, als wollte sie zum Rodeo oder vielleicht in einer Disco im Käfig tanzen, aber keinesfalls so, als gehörte sie in die Abteilung Literatur, A bis E. Doch vor dem Regal stand sie.

»Hallo!« Sie sprach viel zu laut. Prompt warf uns ein Mann, der, den Arm voller Bücher, bei Literatur F bis K stand, einen missbilligenden Blick zu. »Wie geht’s?«

»Was machst du hier?«, fragte ich und schob den Zeitschriftenstapel etwas mehr auf meinen anderen Arm.

»Monica braucht Nachschub.« Kristy deutete auf ihre Schwester, die am anderen Ende des Lesesaals stand, Kaugummi kaute und mit mattem Blick ein paar Fachbücher begutachtete, die sie aus dem Regal gezogen hatte. »Sie ist der absolute Bücherwurm, verschlingt eins nach dem anderen. Ich stehe mehr auf Zeitschriften, aber weil ich mal sehen wollte, was du tagsüber so treibst, bin ich mitgekommen.«

Ich warf einen Blick Richtung Infotheke. Bethany hing am Telefon und tippte gleichzeitig wie wild auf ihrer Computertastatur. Doch Amanda, die neben ihr saß, schaute gerade zu uns herüber. Stimmt nicht ganz: Sie starrte Kristy an. Unverhohlen.

»Tja, hier arbeite ich tagsüber«, sagte ich.

»Wie heißt die mit dem Zopf?« Kristy schob die Sonnenbrille über ihren Haaransatz und erwiderte Amandas scharfen Blick ebenso unverhohlen. Was Amanda nicht davon abhielt, Kristy weiter anzustarren. Glaubte sie vielleicht, wir sähen sie gar nicht, oder was?

»Amanda«, antwortete ich.

»Ah ja.« Kristy hob eine Augenbraue. »Die kann ganz gut glotzen, was?«

»Scheint so.«

Kristy starrte Amanda weiter an und fing plötzlich an zu schielen, absichtlich natürlich. Was Amanda endlich zur Besinnung brachte. Hastig, angewidert senkte sie den Kopf und schlug das Buch auf, das vor ihr lag.

»Ihr Twinset ist allerdings nicht übel, muss ich leider zugeben«, sagte Kristy. »Ist das Merinowolle?«

»Keine Ahnung.«

»Ich wette, es ist Merinowolle.« Kristy schob den Riemen ihrer Handtasche auf ihrer Schulter etwas höher. »Monica und ich wollen einen neuen Imbiss in der Nähe ausprobieren. Angeblich gibt es da total köstliche Wraps und Tortillas. Kommst du mit?«

»Wraps und Tortillas?«, wiederholte ich leicht stupide. Bethany hatte aufgehört zu telefonieren. Sie und Amanda steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, wobei sie immer wieder zu uns rüberschauten und danach postwendend den nächsten Kommentar abließen.

»Ja. Im Einkaufszentrum. Man kann sich die Tortillas angeblich mit tausend verschiedenen Sachen füllen lassen. Also natürlich nicht mit allem, was sie haben, aber man darf sich anscheinend ziemlich viel auf einmal aussuchen. Kannst du jetzt Pause machen?«

Ich warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Viertel vor zwölf. »Ich weiß nicht genau«, antwortete ich. Amanda glitt gerade seitwärts von ihrem Stuhl herunter und stand auf, wobei sie mich keine Sekunde aus den Augen ließ. »Das ist keine so gute Idee, glaube ich.«

»Warum nicht? Du hast in diesem Laden doch irgendwann mal Mittagspause oder etwa nicht?«

»Schon.«

»Und selbst du musst ab und zu was essen, nicht wahr?«

»Ja ja«, antwortete ich.

»Wo liegt das Problem?«, fragte sie.

»Es ist wahrscheinlich ein bisschen komplizierter, als du dir vorstellen kannst«, erwiderte ich. »Es wird nicht so gern gesehen, wenn ich meine Mittagspause nicht hier drinnen verbringe.«

»Wer sieht das nicht gern?«

Ich nickte Richtung Amanda und Bethany.

»Und das geht dir nicht am Arsch vorbei, weil . . .?« Kristy sprach betont langsam.

»Weil ich Angst vor ihnen habe«, antwortete ich achselzuckend. »Weil ich ein Loser bin. Egal, such dir was aus.«

Kristys Blick wurde schmal. »Du hast Angst vor diesen beiden Tussen?!«

Ich hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Warum hatte ich das bloß zugegeben? Ich fummelte an den Zeitschriften auf meinem Arm herum. »Glaub mir, es ist kompliziert.«

»Aber ich kapier’s nicht.« Kristy schüttelte den Kopf. »Ich meine, die beiden wirken so . . . so unzufrieden. Unglücklich. Warum solltest du Angst vor denen haben?«

»Sie sind nicht unglücklich.«

»Sie sind so was von unglücklich, dass man schon wieder Mitleid mit ihnen haben muss.« Kristy warf einen Blick Richtung Bethany und Amanda, die inzwischen beide zu uns rüberstarrten, und schüttelte den Kopf. »Schau sie dir doch an. Ehrlich. Sieh mal genau hin. Jetzt!«

»Kristy!«

»Schau hin.« Kristy nahm mein Kinn in die Hand und drehte meinen Kopf so, dass ich Bethanys und Amandas Blick erwidern musste. »Siehst du das etwa nicht? Sie sind blass und unscheinbar und total verkrampft. Ich meine, ich habe nichts gegen Twinsets, überhaupt nicht, im Gegenteil, in dem Punkt bin ich nicht anders als viele andere Frauen. Trotzdem muss man, wenn man eins trägt, doch nicht aussehen, als hätte man einen Stock im Hintern. Da kann man noch so intelligent sein, das nützt einem überhaupt nichts, wenn man kein modisches oder sonst irgendein Bewusstsein hat. In dem Fall sieht nämlich alles Scheiße aus, egal, wie schön oder teuer es war. Und diese Glotzerei! Himmel, was soll das überhaupt?« Kristy räusperte sich. »Was soll das Geglotze?«, wiederholte sie laut und deutlich, so dass es in dem ganzen riesigen Raum zu hören war. »Was?«

Bethany wurde rot. Amanda machte den Mund auf. Und wieder zu.

»Pssst«, tönte es aus der Regalreihe nebenan.

»Selber pssssssst!« Endlich ließ Kristy mein Kinn los. »Jetzt pass mal auf, Macy«, sagte sie eindringlich. »Wenn sie so ein Verhalten toll finden, ist das ihre Sache, findest du nicht auch?«

Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte.

»Also abgemacht«, sagte Kristy. »Du machst gleich Mittagspause, weil du ein ganz normaler Mensch bist, der manchmal Hunger und vor allem keine Angst hat. Wann fängt deine Pause offiziell an? Um zwölf?«

»Ja«, antwortete ich gedehnt.

»Gut, wir warten draußen auf dich.«

Monica trottete gerade mit ein paar Büchern unterm Arm Richtung Ausgang.

»Um zwölf . . .?«, sagte ich zögernd.

»Jawohl. Wir sehen uns in einer Viertelstunde.« Kristy ließ ihren Blick noch einmal kurz durch den ganzen Raum wandern, bevor sie sich zu mir vorbeugte und in gedämpftem Ton sagte: »Ich meine, du musst zwischendurch hier raus, und sei es für eine Stunde. Zu viel Zeit an einem Ort wie diesem kann einem nicht gut tun. Ich meine, schau dir an, was aus den beiden geworden ist hier drinnen . . .«

Aber ich dachte darüber nach, was aus mir geworden war. Was mir das Hiersein angetan hatte, Tag für Tag. Wie unglücklich ich gewesen war, Tag für Tag. Mir wurde plötzlich klar, dass der Job an der Infotheke in vielem mit meinem Leben vergleichbar war, besser gesagt, mit meinem Leben vor Wish Catering und Kristy und Wes. Ein Leben, das man ertrug. In dem es nichts zu genießen gab. Nichts, das Spaß machte.

»Wir sehen uns draußen. Bis gleich«, sagte Kristy. Ließ die Sonnenbrille zurück auf die Nase plumpsen, drückte meinen Arm, spazierte Richtung Ausgang. Als sie unter dem riesigen Oberlicht herging, flammte sie förmlich auf, denn das Sonnenlicht strömte direkt auf sie herab, so dass es für eine Sekunde so aussah, als würde sie leuchten. Das Licht verfing sich in ihrem Haar und glitzerte, als wollte es einem zuzwinkern. Ich nahm diesen Moment sehr deutlich wahr, Amanda und Bethany ebenfalls. Und deshalb störten mich ihre abfälligen Bemerkungen auch nicht mehr. Denn als ich eine gute Stunde später von meiner Mittagspause zurückkehrte, saßen sie wie üblich säuberlich nebeneinander aufgereiht auf ihren Stühlen und erkundigten sich so herablassend, ob der Lunch mit meinen »Freundinnen« nett gewesen sei, dass ich die Anführungsstriche hören konnte. Auch ihr spöttisches Lächeln, nachdem ich die Frage bejaht hatte, oder ihr Getuschel machten mir nichts mehr aus. Sollten sie denken, was sie wollten – es war mir egal. Nicht zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich nie so sein würde wie sie. Neu war die Erkenntnis, dass ich froh darüber war. Froh, nicht so zu sein wie sie.