Als ich ins untere Stockwerk kam, tobte im Haus mindestens so ein Orkan wie draußen.
Nachdem ich die Herzhand neben den Engel auf meinen Nachttisch gestellt hatte, aufgestanden und die Treppe hinuntergelaufen war, hatte ich eigentlich gedacht, ich wüsste, was ich jetzt zu tun hätte. Aber als ich die Küche betrat, wurde ich fast von einem Tischchen erschlagen, das meine Schwester in Windeseile durch die Gegend trug. Sie und meine Mutter waren hektisch dabei, Möbel zu verrücken, Stühle zu stapeln, Sofas an die Wand zu schieben und so weiter, um auf diese Weise irgendwie Platz für fünfundsiebzig Gäste in unserem Esszimmer, unserem Wohnzimmer und dem Eingangsflur zu schaffen.
»Macy, mach irgendwas mit den Hockern«, rief Caroline mir zu, während sie mit dem Tischchen an mir vorbeiflitzte.
»Welche Hocker?«
»Die an der Küchentheke«, keuchte meine Mutter hysterisch und rannte dabei genau in die entgegengesetzte Richtung, wobei sie ein Polsterbänkchen hinter sich herschleppte. »Reih sie dicht an der Wand auf. Oder stell sie in mein Arbeitszimmer. Hauptsache, sie verschwinden aus der Küche.« Sie kreischte fast. Ihre Stimme klang, als würde sie jeden Moment durchdrehen. Ich sah sie an. Aber nur kurz. Dann tat ich lieber ganz schnell das, was sie mir aufgetragen hatte.
Ich hatte meine Mutter ja schon oft in Stresssituationen erlebt. Wusste, wie sie aussah, wenn sie trauerte. Aber so wie jetzt gerade kannte ich sie nicht. Sie schien die Kontrolle über sich komplett verloren zu haben. Es machte mir Angst. Ich drehte mich um, warf Caroline einen ratlosen Blick zu. Doch sie schüttelte bloß den Kopf und machte mit dem weiter, was sie gerade tat, nämlich einen der großen Ohrensessel an die Wand zu schieben. Kein Mensch kann so viel Anspannung und Druck aushalten, dachte ich, jedenfalls nicht so lang. Früher oder später würde etwas in ihr, würde sie zusammenbrechen.
Deshalb streckte ich, als sie das nächste Mal an mir vorbeisauste, die Hand nach ihr aus. »Alles okay, Mama?«
»Nicht jetzt, Macy!«, fauchte sie. Hastig zog ich meine Hand zurück. Nicht mal ein Okay-mir-geht’s-gut mehr . . .
»Schatz, bitte.« Sie schüttelte beschwörend den Kopf. »Nicht jetzt.«
In den nächsten zwanzig Minuten jagte eine Katastrophe die nächste. Nur allzu deutlich nahm ich wahr, wie ihre Anspannung immer größer wurde. Sah es an ihrer steifen Kopfhaltung, ihrem verkniffenen Gesichtsausdruck, hörte es im zittrigen Ton ihrer Stimme, wenn sie ans Telefon ging, das überhaupt nicht mehr zu klingeln aufhörte. Und jedes Klingeln bedeutete eine neue Hiobsbotschaft, zum Beispiel meldete der Bauleiter, dass es bei der Modellvilla durchs Fenster reinregnete. Dann fingen die Lampen an zu flackern, gingen aus, gingen zwar wieder an, aber so ganz sicher konnte man sich nicht sein, dass der Strom nicht doch ausfallen würde. Jedes Mal spannte meine Mutter ihren Körper noch mehr an, jedes Mal wurde ihre Stimme noch lauter, noch höher; ihre Augen schossen wie wild hin und her, um auch das letzte missliche Detail zu entdecken, das sie bisher übersehen hatte. Wenn ihr Blick dabei zufällig auf mich fiel, schlug ich schnell die Augen nieder, damit sie nicht merkte, dass ich sie heimlich beobachtete.
»Ich mache mir echt Sorgen um Mama«, sagte ich zu Caroline. Wir versuchten gerade mit vereinten Kräften das große, schwere Eichensofa im Wohnzimmer wenigstens einen halben Meter nach hinten zu schieben. Doch obwohl wir uns förmlich dagegen warfen, rührte das Teil sich einfach nicht vom Fleck. »Ich würde ihr so gerne helfen. Wenn ich bloß wüsste, wie.«
»Du kannst ihr nicht helfen«, meinte Caroline. »Versuch’s gar nicht erst, das bringt nichts.«
Ich hörte auf zu schieben. »Mann, Caroline!«
Sie strich sich mit dem Handrücken die Haare aus der Stirn. »Macy, wann kapierst du’s endlich? Du kannst überhaupt nichts tun.«
In dem Moment hörte ich, wie sich die Haustür öffnete und jemand auf Absätzen in den Eingangsflur klapperte.
»Ach du Scheiße«, sagte Kristy. »Was geht denn hier ab?«
Zutiefst dankbar für die Unterbrechung ließ ich das Sofa los und drehte mich um. Ja, da stand sie, mitten im Flur, einen Stapel Alubehälter auf dem Arm. Neben ihr tauchte Monica auf, die eine Kühlbox trug und darauf vorsichtig ein paar Schneidebretter balancierte. Und als Letzte erschien Delia, unter jeden Arm ein paar Baguettes geklemmt.
»Hier herrscht gerade eine kleine Krise«, sagte ich zu Kristy. Gleichzeitig fing das Licht wieder gefährlich an zu flackern.
Mit lautem Geschepper und Getöse schob Bert einen der zerbeulten Servierwagen über die Schwelle, und zwar so ruppig, dass Delia zur Seite springen musste, um nicht überrollt zu werden. Draußen regnete es nach wie vor in Strömen; der Wind trieb die Tropfen beinahe horizontal vor sich her.
»Was für eine Krise?«, fragte Delia.
In dem Moment ertönte aus der Gästetoilette ein Schrei, gefolgt von einem Klirren. Wir verstummten. Der einzige Laut, den man sonst noch hörte, war das Peitschen des Regens gegen die Fensterscheiben. Die Tür öffnete sich. Meine Mutter kam heraus.
Ihr Gesicht war vor Anstrengung erhitzt und gerötet, ihr Lippenstift im rechten Mundwinkel verschmiert. Sie trug nach wie vor meine Schuhe, die ihr deutlich zu klein waren, und am Saum ihres Rocks prangte unübersehbar ein Fleck. Sie sah total erschöpft aus, niedergeschlagen. Oder vielleicht auch schlicht geschlagen. In der Hand hielt sie die Seifenschale aus der Gästetoilette – beziehungsweise in jeder Hand einen Teil davon.
Es war zwar eine ganz hübsche, aber trotzdem stinknormale Seifenschale gewesen; ich konnte mich nicht mal mehr erinnern, wann und wo wir sie gekauft hatten. Aber als meine Mutter nun die Scherben betrachtete, war sie den Tränen nah. Ich spürte eine Bewegung in meiner Brust, eine Art Druck, und merkte, dass ich Angst hatte. Panik. Horror. Ich hatte meine Mutter schon in vielen Situationen und Zuständen, aber noch nie schwach erlebt. Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst, so klein und hilflos fühlte ich mich auf einmal.
»Mama?«, fragte Caroline. »Alles in –«
Doch sie unterbrach sich mitten im Satz, denn meine Mutter schien sie nicht zu hören noch irgendeinen von uns überhaupt wahrzunehmen. Mit langsamen, fast tastenden Schritten ging sie den Flur entlang Richtung Küche. Plötzlich hob sie die Hand und wischte sich über die Augen. Bog um die Ecke ohne sich ein einziges Mal zu uns umgedreht zu haben. Und als Nächstes hörte ich, wie sich die Tür zu ihrem Arbeitszimmer schloss.
»Hilfe!«, sagte ich. Und meinte es.
»Ist doch bloß eine Seifenschale.« Kristy wollte offensichtlich helfen. »So eine findet ihr bestimmt irgendwo wieder.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Caroline meiner Mutter folgen wollte, weil sie vermutlich wie selbstverständlich davon ausging, dass sie die Situation irgendwie in den Griff kriegen musste. Wie immer. Aber ich wartete schon so lange auf eine Gelegenheit, mit meiner Mutter zu reden, war allerdings jedes Mal gescheitert, entweder an meinen eigenen Ängsten oder an ihren. Höchste Zeit, es noch einmal zu versuchen.
Ich legte eine Hand auf Carolines Arm, hielt sie zurück. Verwundert sah sie mich an. »Lass mich mal«, sagte ich und machte mich auf den Weg zu meiner Mutter.
Als ich die Tür zum Arbeitszimmer öffnete, stand sie mit dem Rücken zu mir an ihrem Schreibtisch. Und sie weinte. Ihre Schultern bebten und zu überhören war es auch nicht. Ich bekam sofort einen Kloß im Hals und wäre am liebsten weggelaufen. Aber ich zwang mich zu bleiben, holte tief Luft und trat ins Zimmer.
Sie drehte sich nicht um. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie merkte, dass ich da war. Und während ich so dastand und sie betrachtete, wurde mir auf einmal bewusst, wie schwer es ist, mit anzusehen, wenn sich jemand, den man liebt, vor deinen Augen verändert. Es jagt einem nicht nur Angst ein, es bringt einen auch aus dem Gleichgewicht. So musste meine Mutter sich in den Wochen gefühlt haben, als ich für Delia arbeitete. Jeden Tag hatte sie mich ein Stück weniger als die alte, ihr vertraute Macy wiedererkannt; jeden Tag hatte ich mich ein bisschen mehr verändert. Kein Wunder, dass sie versucht hatte mich wieder stärker an sich zu binden, meine Welt zu beschränken, bis sie wieder in ihr eigenes Dasein hineinpasste. Doch selbst in diesem Augenblick – als ich das endlich in seinem ganzen Ausmaß begriff – wünschte ich mir noch, meine Mutter würde sich zusammenreißen und wieder das Kommando übernehmen wie immer. Dabei hatte ich mir damals, in unserer schwierigsten Zeit, als sie mich eisern an sich geklammert hielt, nichts mehr herbeigesehnt als ihr beweisen zu können, dass ich mich zwar verändert hatte, aber zum Positiven. Und dass sie das genauso gesehen hätte, wenn sie meine Veränderung nicht von vornherein abgelehnt, sondern mir eine Chance gegeben hätte. Diese Chance hatte ich jetzt. In diesem Moment. Und trotz meiner Angst würde ich mir diese Chance nicht wieder nehmen lassen.
Ich durchquerte den Raum und stellte mich hinter sie. Mir lag so viel auf der Seele, das ich ihr sagen wollte. Ich wusste bloß nicht, wo ich anfangen sollte.
Irgendwann drehte sie sich um, wobei eine Hand unwillkürlich zu ihrem verweinten Gesicht wanderte. Und für ein paar Sekunden standen wir einfach bloß so da. Schauten einander in die Augen. In meinem Kopf formten sich ungefähr eine Million Sätze, doch keinen brachte ich zu Ende. Das jetzt ist das Schwierigste überhaupt, dachte ich. Was auch immer als Erstes gesagt wurde, egal ob von ihr oder von mir, würde einen weit reichenden Prozess in Bewegung setzen; deshalb musste es stark genug sein, um alles, was noch kam, auch tragen zu können.
Sie atmete tief durch. »Ich bin –«
Doch ich ließ sie nicht aussprechen, sondern trat auf sie zu und legte meine Arme um sie. Im ersten Moment machte sie sich steif, wohl mehr aus Überraschung denn aus sonst einem Grund; aber ich ließ nicht los. Vielmehr umarmte ich sie noch fester und vergrub mein Gesicht an ihrem Hals. Ich spürte zwar ihren Atem in meinem Haar, ihren Herzschlag an meiner Brust, nicht jedoch dass sie die Umarmung erwidert und ihre Arme ebenfalls um mich geschlungen oder ihren Körper enger an meinen gedrückt hätte. Dennoch war sie mir ganz nah. Was sich nach all der Zeit, die ohne Berührung vergangen war, hätte komisch anfühlen können, ungewohnt, beklommen – ein unbeholfenes Gebilde aus spitzen Ellbogen und kantigen Hüftknochen. Aber es fühlte sich nicht komisch an, sondern im Gegenteil: Es war perfekt.
Ich umarmte also meine Mutter und meine Gedanken wanderten zu dem Abend zurück, als ich mit Wes noch ewig in unserer Auffahrt gesessen und gequatscht hatte, unter anderem über sie. Damals sagte ich zu ihm: Ich würde sie auf jeden Fall erst einmal wissen lassen, wie ich mich fühle. Ohne erst groß drüber nachzudenken. Ich hatte es getan. Endlich.
Irgendwann zwischendurch drang Carolines Stimme in mein Bewusstsein. Sie stand offenbar zusammen mit Delia in der Küche und erklärte ihr minutiös, was bisher alles schief gelaufen und wie wir von einer Krise in die nächste gestürzt waren. Und die ganze Zeit über klammerten meine Mutter und ich uns aneinander fest. Ein Gefühl wie ganz oben auf einer Achterbahn: Der Wagen hat sich gerade – klack klack klack – zum höchsten Punkt der Schienen gequält und jeder, der drinsitzt, weiß, der steile Anstieg liegt hinter einem, jetzt geht es jeden Moment los mit der letzten, rasanten Abfahrt. Aufs Ziel zu, egal wie, egal wo.
Ich war bereit. Und ich denke, sie auch. Und selbst wenn nicht – ich würde in der Lage sein, ihr da durchzuhelfen. Der erste Schritt ist immer der schwerste.
»Okay«, sagte Delia gerade. »Wir machen Folgendes . . .«
»Oh Mann!« Kristy schüttelte den Kopf. »Hat es überhaupt je schon mal so geschüttet?«
»Kristy«, meinte Delia mahnend.
Caroline seufzte. »Nein, nein, sie hat doch Recht. Es regnet wirklich in Strömen.«
»Mmm-hmmm« lautete Monicas Kommentar.
Ja, es regnete immer noch. Nein, es goss. Stark und heftig. So heftig, dass sämtliche Lampen im Haus immer wieder bedrohlich flackerten. Obwohl das natürlich auch am Sturm liegen konnte, denn auch der Wind blies weiter unvermindert stark. Vor wenigen Minuten hatte unsere örtliche Wetterfee, Lorna McPhail, im Fernsehen mit schreckgeweiteten Augen vor ihrer Wetterkarte gestanden und verkündet, dass man zwar mit ein paar Schauern gerechnet habe, ein derartiger Vorfall jedoch nicht vorhersehbar gewesen sei.
»Vorfall?«, hatte Caroline gestöhnt, als Lorna sich mal wieder entsetzt zu ihrer Wetterkarte umdrehte. »Das ist doch kein Vorfall. Das ist das Ende der Welt.«
Wie aufs Stichwort ging Bert mit einem Tablett voller Weingläser hinter ihr vorbei und meinte: »Nö, das Ende der Welt müssen wir uns wohl als noch viel schlimmer vorstellen.«
Caroline blickte ihn an. »Schlimmer als das?«
»Absolut«, antwortete er. »Ohne jeden Zweifel.«
Es war sieben Uhr und die Gäste begannen einzutrudeln. Besser gesagt, sie hockten in der reichlich optimistischen Hoffnung, der Regen würde vielleicht in ein paar Minuten etwas nachlassen, in ihren Autos vor dem Haus. Doch diese Hoffnung würden sie vermutlich bald aufgeben, aussteigen, aufs Haus zurennen und tropfnass hereinstürzen. Auch gut, denn es war alles fertig. Die Party konnte losgehen. Die Appetithappen wurden gerade im Ofen aufgewärmt, die Bar war gut gefüllt, Eiswürfel standen bereit, mitten auf dem großen Esszimmertisch prangte zwischen Blumen und bunten Serviettenstapeln die Torte, auf der mit roter Glasur WILDFLOWER RIDGE – EIN NEUER ANFANG! geschrieben stand. Außerdem durchzog ein appetitlicher Duft nach Fleischklopsen das Haus. Und wie man weiß, mag Fleischklopse nun wirklich jeder.
Nachdem Caroline unsere desaströse Situation in sämtlichen traurigen Einzelheiten geschildert hatte, hörte ich von meinem Standort im Arbeitszimmer aus, wie Delia in der Küche das tat, was sie am besten konnte: Ärmel hochkrempeln und loslegen. Innerhalb einer Viertelstunde wurden einige der Tische und Stühle, die wir gemietet hatten, ins Haus geschafft, dekorativ verteilt (»im Bistro-Stil«, wie Delia sich ausdrückte) und mit dicken Vanille-Duftkerzen geschmückt, die sie zufällig dabeihatte, weil sie die Dinger seit einer Brautjungfernparty vor mehreren Wochen im Lieferwagen spazieren fuhr. Per Dimmer wurde – nur für den Fall, dass der Strom noch ganz ausfiel – das Licht in sämtlichen Räumen gedämpft, was viel gemütlicher wirkte. Bert und Monica sollten doppelt so viele Appetithappen wie geplant aufbacken, weil Delia mit messerscharfer Logik argumentierte, je mehr die Leute im Bauch hätten, umso weniger würden sie bemerken, dass sie kaum Platz hatten, sich auch nur umzudrehen. Caroline erhielt den Auftrag, eine neue Seifenschale zu besorgen, und Kristy an der Haustür postiert, um jedem Gast beim Eintreten umgehend ein Glas Wein unter die Nase zu halten; denn mit etwas Alkohol auf nüchternen Magen kriegen die Menschen ebenfalls nicht mehr so viel mit, so Delias Argument.
In der Zwischenzeit lehnten meine Mutter und ich mit einer Großpackung Tempotaschentücher zwischen uns an der Kante ihres Schreibtischs und blickten durchs Fenster in den Regen hinaus.
»Ich wollte, dass es eine perfekte Party wird.« Sie tupfte sich mit einem Tempo die Augen ab.
»Perfekt gibt’s nicht«, erwiderte ich.
Mit einem kläglichen Lächeln warf sie das Taschentuch in den Papierkorb. »Das Ganze ist eine Katastrophe.« Sie seufzte.
Ein paar Sekunden lang schwiegen wir beide.
»Ist doch gar nicht so schlecht«, meinte ich schließlich, weil mir wieder einfiel, was Delia vor vielen Wochen (als Wish Catering das erste Mal einen Empfang meiner Mutter mit Essen beliefert hatte) zu mir gesagt hatte. »Wenigstens wissen wir, woran wir sind. Ab jetzt kann es nur noch bergauf gehen.«
Meine Mutter wirkte nicht sonderlich überzeugt. Auch okay. Noch hatte sie dieses Prinzip nicht wirklich begriffen. Aber ich war zuversichtlich, dass ihr über kurz oder lang klar werden würde, was es bedeutete. Und falls nicht, hatte ich alle Zeit der Welt, um es ihr zu erklären – jetzt, da der Prozess zumindest begonnen hatte. Endlich.
Als wir ein paar Minuten später in die Küche traten, breitete Delia Krabbenpastetchen auf Backblechen aus. Nach einem einzigen Blick auf meine Mutter schickte sie sie nach oben, um zu duschen und tief durchzuatmen. Zu meiner Überraschung verschwand meine Mutter widerspruchslos, und zwar für volle zwanzig Minuten. Als sie mit noch leicht feuchten Haaren und frischen Klamotten wieder herunterkam, wirkte sie entspannter als seit langer, langer Zeit. Wenn sich die Dinge so zuspitzen, dass tatsächlich alles zusammenbricht, entsteht auch so etwas wie ein Gefühl von Erleichterung. Und diesen positiven Aspekt an der ganzen verfahrenen Situation schien meine Mutter tatsächlich langsam zu erkennen.
Caroline und ich sahen ihr entgegen, während sie die Treppe herunter auf uns zu kam. »Was hast du bloß zu ihr gesagt?«, fragte meine Schwester.
»Eigentlich nichts«, antwortete ich. Caroline warf mir einen leicht schrägen Seitenblick zu, aber in gewisser Weise entsprach meine Antwort exakt den Tatsachen: Ich hatte wirklich nicht viel gesagt. Zumindest fühlte es sich so an.
Als meine Mutter an ihr vorbeilief, hielt Kristy ihr das Tablett mit den Weingläsern hin. »Möchten Sie ein Glas?«
Meine Mutter hielt inne und setzte schon an, höflich abzulehnen, sog jedoch stattdessen tief die Luft ein und fragte: »Wonach riecht es hier so gut?«
»Fleischklopse«, antwortete ich. »Möchtest du vielleicht einen?«
Wieder erwartete ich, dass sie Nein sagen würde. Doch was tat sie? Nahm sich ein Glas, trank einen Schluck Wein und nickte mir zu. »Ja, ich hätte gern einen Fleischklops.«
Nun stand sie mit uns allen zusammen an dem großen Fenster nach vorn raus und beobachtete das Geschehen in den Autos vor unserem Haus. Eine Frage blieb für mich allerdings nach wie vor offen. Ich hatte sie mir so lange, wie ich es irgend aushielt, verkniffen, weil ich hoffte, dass sie sich von selbst auflösen oder irgendwer mir eher zufällig die Antwort geben würde. Aber am Ende blieb mir nichts anderes übrig als mich direkt zu erkundigen. »Wo steckt eigentlich Wes?«, fragte ich niemanden im Besonderen und blickte dabei durchs Fenster auf die Wagen.
Ich spürte, dass Monica und Kristy einen Blick wechselten. Dann antwortete Kristy: »Er musste heute früh zur Küste fahren, um ein paar Skulpturen abzuliefern. Aber er meinte, er würde auf dem Rückweg vorbeischauen und einspringen, falls wir ihn brauchen.«
»Ach so«, sagte ich. »Alles klar.«
Ziemlich verlegene Pause. Wir blickten immer noch schweigend hinaus in den Regen. Doch dann begann jemand vor sich hin zu seufzen. Zunehmend lauter. Und sich zu räuspern. Mehrfach.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte Bert sich bei Kristy.
Sie nickte, stieß jedoch ein weiteres, sehr vernehmliches Räuspern aus. Als ich zu ihr hinüberblickte, merkte ich, dass sie mich unverwandt anstarrte.
»Was ist?«, fragte ich.
»Was ist?«, äffte sie mich nach. Sie war ganz offensichtlich einigermaßen sauer. »Was meinst du mit ›Was ist‹?«
»Ich weiß auch nicht . . . wo liegt das Problem?« Ich blickte sie verwirrt an.
Kristy verdrehte die Augen. Monica, die neben ihr stand, sagte: »Hör bloß auf.«
Auch Delia schüttelte warnend den Kopf. »Lass gut sein, Kristy, das ist weder der passende Zeitpunkt noch der richtige Ort.«
»Der passende Zeitpunkt für was?«, fragte Caroline.
»Für die wahre, große Liebe gibt es weder einen bestimmten, passenden Zeitpunkt noch einen richtigen Ort«, verkündete Kristy melodramatisch. »Sie passiert einfach, fast zufällig. Ein Herzschlag, ein Blinzeln – und schon ist sie da. Alles im Bruchteil einer einzigen, schmachtenden Sekunde.«
»Schmachtend?«, wiederholte meine Mutter und beugte sich etwas vor, um mich besser sehen zu können. »Wer schmachtet?«
»Macy und Wes«, antwortete Kristy.
»Stimmt gar nicht«, entgegnete ich empört.
Delia unternahm einen zweiten, etwas hilflosen Anlauf, Kristy zu bremsen: »Bittebittebitte sei so lieb, nicht jetzt.«
»Moment, Moment.« Caroline hob die Hände. »Worauf willst du eigentlich hinaus, Kristy?«
»Ja, bitte«, fügte meine Mutter hinzu, wobei sie jedoch mich ansah, nicht Kristy. Und eigentlich weniger sauer wirkte als vielmehr verwirrt. Durcheinander. Willkommen im Club, dachte ich. »Erklären Sie uns, was Sie meinen, Kristy.«
Bert konnte es sich natürlich nicht verkneifen, auch seinen Senf dazuzugeben: »Wenn das mal kein Hammer wird, nach der Einleitung!«
Kristy achtete gar nicht auf ihn, sondern strich sich eine Strähne hinters Ohr und legte los: »Wes will mit Macy zusammen sein. Und Macy, egal ob sie’s nun zugibt oder nicht, will mit Wes zusammen sein. Trotzdem sind sie nicht zusammen, was nicht nur ungerecht ist, sondern – sobald man auch nur einen Moment genauer drüber nachdenkt – geradezu tragödisch.«
»Das ist kein richtiges Wort«, wurde sie von Bert belehrt.
»Doch, ab jetzt schon«, konterte sie. »Wie willst du die Situation denn sonst beschreiben? Da gibt es einen echten Supertypen, nämlich Wes, der aber in die Wüste geschickt wird, und warum? Wegen irgend so einem schwachköpfigen Intelligenzbolzen, so einem Loser, der Macy sowieso längst den Laufpass gegeben hat, weil sie ihren Job in der Bibliothek angeblich nicht ernst genug genommen hat. Aber vor allem weil sie gewagt hat ihm zu sagen, dass sie ihn liebt.«
»Müssen wir jetzt darüber sprechen?« Mir war Kristys Gerede mindestens so peinlich wie beim ersten Mal; schließlich hatte sie mir das alles schon mal laut und deutlich auseinander gesetzt, aber wenigstens nicht vor Publikum. »Warum erzählst du das alles?«
»Weil es tragödisch ist!«, sagte Kristy.
»Jason wollte eine Beziehungspause, weil du ihm gesagt hast, dass du ihn liebst?«, fragte meine Mutter.
»Nein«, antwortete ich. »Doch, irgendwie schon. Es ist kompliziert.«
»Ich sage euch, was es ist«, mischte Kristy sich wieder ein. »Falsch! Ihr gehört zusammen, du und Wes. Ehrlich, Macy, das war doch schon klar, als ihr noch ständig rumgelabert habt, eigentlich wäret ihr ja mit wem anders liiert. Selbst Wes hatte es längst kapiert. Du warst die Einzige, die es nicht geschnallt hat. Und anscheinend schnallst du es immer noch nicht.«
»Mmm-hmmm.« Monica zupfte ein paar Fussel von ihrer Schürze.
»Wes hat das nie so empfunden«, entgegnete ich. Ich wusste zwar, dass meine Mutter – und Caroline und überhaupt alle – zuhörten, doch aus irgendeinem Grund war es mir auf einmal völlig egal. Dazu war an diesem Tag einfach schon zu viel passiert. »Er hatte von Anfang an vor, es wieder mit Becky zu versuchen, genau wie ich mit Jason.«
»Stimmt nicht«, konterte Kristy.
»Doch. Sie sind schon seit Wochen wieder zusammen«, sagte ich.
»Nein.« Kristy schüttelte beharrlich den Kopf.
»Aber ich habe sie doch zusammen gesehen, im Waffelcafé. Sie waren . . .«
». . . gerade dabei, sich endgültig zu trennen.« Kristy vollendete den Satz für mich. »Das war an dem Abend, als ihr euch vorm Supermarkt über den Weg gelaufen seid und er behauptet hat, er habe einen Termin, oder?«
Ich nickte perplex.
»Er wollte sich mit ihr treffen, um ihr zu sagen, dass es aus ist.« Kristy legte eine kleine Pause ein, wie um mir Zeit zu geben, damit das alles sich setzte, und ich endlich begriff, wie es ineinander passte. »Er will mit dir zusammen sein, Macy. Ich an seiner Stelle hätte es dir an dem Abend sofort gesagt, aber so ist er nun mal nicht drauf. Er wollte selbst erst vollkommen frei und ungebunden und sich seiner Sache sicher sein, bevor er dir etwas über seine Gefühle sagt. Er wartet auf dich, Macy, schon die ganze Zeit.«
»Nein«, antwortete ich.
»Doch. Ich habe mir schon den Mund fusselig geredet, damit er endlich zu dir geht, dir sagt, was er für dich fühlt, und dich fragt, ob du dasselbe für ihn fühlst«, meinte Kristy. »Aber so läuft das einfach nicht für Wes. Er muss es auf seine Art machen. In seinem Tempo.«
Wie bei der letzten, entscheidenden Frage, dachte ich. Er hielt sie nicht absichtlich zurück, um mich zu quälen. Oder weil er sie vielleicht noch nicht wusste. Er wollte es schlicht und einfach richtig machen. Was immer das auch bedeutete.
Alle sahen mich an. Mein Leben war mal meine Privatsache gewesen, dachte ich. Jetzt mischte sich die ganze Welt in meine Angelegenheiten, ja in meine Herzensdinge ein. Andererseits – dachte ich, während ich in die erwartungsvollen Gesichter blickte – handelt es sich ja auch gar nicht um die ganze Welt. Bloß um meine.
»Er ist heute Morgen vorbeigekommen«, sagte ich langsam. Ich hatte das Ganze immer noch nicht so richtig verarbeitet. »Heute früh.«
»Und was ist passiert?«, fragte Kristy.
Ich warf meiner Mutter einen Blick zu: Irgendwann musste ihr doch mal unangenehm auffallen, dass ich gegen ihre Verbote gehandelt, ihre Regeln missachtet hatte. Aber sie sah mich bloß mit leicht schräg geneigtem Kopf an, als würde sie etwas an mir wahrnehmen, das sie bisher noch nie bemerkt hatte.
»Nichts«, antwortete ich. »Ich meine, er fragte mich, ob die Dinge jetzt so liefen, wie ich sie haben wollte.«
»Und was hast du geantwortet?«
»Ja. Dass ich zufrieden bin mit dem, was ist.«
»Macy!« Kristy schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Was um Himmels willen ist bloß in dich gefahren?«
»Ich hatte doch keine Ahnung«, meinte ich. Und fügte leise, eher zu mir selbst, hinzu: »Es ist echt so was von unfair.«
Kristy schüttelte den Kopf. »Es ist tragödisch!«
»Und es ist Zeit.« Delia bedeutete uns mit einem leichten Kopfnicken, durchs Fenster zu schauen. Der Regen hatte tatsächlich etwas nachgelassen. Leute stiegen aus ihren Autos, schlossen Türen, spannten Regenschirme auf. Egal was sonst passierte – das Leben ging weiter. »An die Arbeit!«
Wir verließen unseren Aussichtsplatz am Fenster und gingen jeder auf seinen Posten: Kristy stellte sich mit ihrem Tablett voller Weingläser an die Haustür, Bert und Delia verschwanden in der Küche, meine Mutter überprüfte im Flurspiegel, ob sie sich zeigen konnte. Nur Monica rührte sich nicht vom Fleck, sondern starrte weiterhin aus dem Fenster, während ich überhaupt erst einmal zu begreifen versuchte, was gerade passiert war.
»Ich fasse es nicht«, meinte ich schließlich leise. »Es ist zu spät.«
»Es ist nie zu spät«, sagte sie.
Für einen Moment ging ich fest davon aus, mir das eingebildet zu haben. Ein Satz, ein vollständiger Satz von Monica! Und das nach einem ganzen Sommer einsilbiger, immer gleicher Antworten beziehungsweise gar keiner Antwort.
»Natürlich ist es zu spät.« Ich wandte den Kopf, um sie anzuschauen. »Ich wüsste nicht mal genau, was ich tun sollte, wenn ich noch eine Chance bekäme. Ich meine, was kann ich denn –«
Sie unterbrach mich, indem sie den Kopf schüttelte und meinte: »Du weißt doch, wie es ist, so was passiert einfach, ohne dass man es will oder geplant hat. Man macht es einfach.« Ihre Stimme klang überraschend klar und gelassen.
Aus irgendeinem Grund erinnerten mich diese Worte an etwas, aber ich brauchte einen Augenblick, bevor der Groschen fiel: Genau dasselbe hatte ich zu ihr gesagt, an jenem Abend auf der Party, als ich versuchte, ihr zu erklären, warum ich Hand in Hand mit Wes aus dem Haus gekommen war.
»Monica!«, brüllte Kristy aus dem Wohnzimmer. »Hier drinnen gammelt ein Tablett mit Frischkäsetörtchen vor sich hin, auf dem dein Name geschrieben steht. Wo steckst du?«
Monica wandte sich vom Fenster ab und machte sich an die vermutlich unendlich mühsame Aufgabe, durch unsere Eingangshalle zu schlurfen. »Moment«, sagte ich. Sie warf mir über ihre Schulter hinweg einen Blick zu. Allerdings wusste ich gar nicht so genau, was ich sagen wollte. Und ich war nach wie vor völlig geplättet, weil sie überhaupt etwas zu mir gesagt hatte. Wer weiß, was für Überraschungen sie vielleicht noch auf Lager hätte? »Danke«, fuhr ich fort. »Ich meine, ich find’s toll, was du gerade gesagt hast.«
Monica nickte. »Mmm-hmm.« Wandte sich wieder von mir ab und trottete von dannen.