Kapitel 15

Mit ihren kurzen, pummeligen Fingerchen grabschte Lucy nach einem Buntstift. Und als sie dann damit das Papier berührte, tat sie es mit der ganzen Kraft ihrer zwei Jahre. Als würde die Farbe überhaupt nur so vom Stift aufs Papier übertragen. »Baum«, verkündete sie, während auf dem weißen Blatt ein längliches Gekrakel erschien, das von der einen Kante zur anderen reichte.

»Baum«, wiederholte ich und bemerkte, dass Wes mich schon wieder auf dieselbe Weise ansah wie eigentlich ständig seit dem Moment, als ich vor einer Stunde meinen schwungvollen Abgang über die Infotheke gemacht hatte. Auch während unserer gemeinsamen Fahrt zum Sweetbud Drive hatte er mich immer wieder mit derselben Miene betrachtet. Irgendwas zwischen beeindruckt und ungläubig. »Hör endlich auf, mich so anzusehen«, sagte ich.

»’tschuldigung.« Wes zuckte die Schultern, als könnte er es dadurch ein für alle Mal abschütteln. »Aber ich kriege einfach dieses Bild nicht mehr aus meinem Kopf. Es war –«

»Total gaga«, ergänzte ich. Lucy, die zwischen uns auf der Veranda von Wes’ Haus saß, seufzte schwer unter der Last der Entscheidung, bevor sie nach dem nächsten Buntstift griff.

»Ich fand’s total mutig. Du hast es ihnen so richtig gezeigt«, meinte er. »Ich meine, so ein Abgang . . . ich habe mir schon oft gewünscht, ich könnte einen Job mal so elegant hinschmeißen, habe mich aber nie getraut.«

»Das war weder mutig noch elegant.« Seine Anerkennung war mir peinlich.

»Dir kommt es vielleicht nicht so vor . . .«

Um ehrlich zu sein, ich hatte das Ganze im Grunde noch gar nicht richtig begriffen. Ich wusste bloß, dass sich am anderen Ende der Stadt ein Mega-Tsunami aufgebaut hatte und unaufhaltsam vorwärts stürmte. Irgendwann würde die Riesenwelle auch mich erreichen, würden die Konsequenzen des Schocks, den ich ausgelöst hatte, bei mir ankommen. Ich konnte Jason förmlich vor mir sehen: Er stand in der Bibliothek und hörte total perplex zu, wie Amanda und Bethany ihm von meinem Infothekensprung erzählten, natürlich in äußerst gewählter Sprache, so wie sie es in ihren College-Vorbereitungskursen gelernt hatten. Vermutlich versuchte er bereits fieberhaft, mich auf meinem Handy zu erreichen, um eine Erklärung für mein irrationales Verhalten zu bekommen. Aus genau dem Grund hatte ich mein Handy vorsichtshalber ausgeschaltet, hatte innerlich beschlossen mir die Zeit zwischen jetzt und sechs Uhr – wenn ich mit meiner Mutter verabredet war – zu gönnen, um nicht ständig darüber nachdenken zu müssen, was wohl als Nächstes geschehen würde und wie ich darauf reagieren sollte. Momentan wollte ich mich bloß ablenken, irgendetwas anderes machen. Zum Beispiel mit Buntstiften und Farbe.

Mit diesen Gedanken im Kopf wandte ich mich wieder zu Lucy. Als wir mit der Mayonnaise aufgetaucht waren, war Delia hysterisch wie noch nie. Zusammen mit Bert schnitt sie einen Riesenberg Kartoffeln klein, während um die beiden herum noch riesigere Töpfe mit kochendem Wasser brodelten, so dass die Garage wie eine Hexenküche wirkte. Zu allem Überfluss lief Lucy, der heiß war und die sich langweilte, den beiden ständig zwischen den Beinen herum. Delia hatte ihre Tochter auf meinem Arm abgesetzt und uns gebeten sie irgendwie zu beschäftigen, bis Bert und sie so weit waren, dass wir mit dem eigentlichen Salatmachen anfangen konnten. Und nun wischte Lucy sich gerade eine ihrer schwarzen Korkenzieherlocken aus dem Gesicht und fuhr energisch mit einem orangefarbenen Stift im Zickzack über das Papier. »Kuh«, sagte sie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

»Kuh«, wiederholte ich.

In dem Moment strich ein leichter Wind durch die Bäume, über die Veranda. In meinen Augenwinkeln blitzte unvermittelt etwas auf, das sich anscheinend seitlich am Haus befand. Ich stützte mich ab und verdrehte den Hals, um an der Hauswand entlangblicken zu können: Hinten im Garten standen und hingen mehrere Engel – große, kleine – sowie einige Stücke, die offensichtlich noch nicht fertig waren. Ein paar große, verbogene, verdrehte Rohre, ein paar angefangene Skulpturen, bei denen die beweglichen Teile noch fehlten. Dahinter, am Zaun, sah es aus wie auf einem kleinen, privaten Schrottplatz: stapelweise Stangen, Rohre und andere Metallgegenstände, Ersatzteile für Autos und Ähnliches, Nägel, Schrauben, Winkel, Zahnräder in allen Größen – von riesig bis so winzig, dass sie auf meine Handfläche gepasst hätten.

Ich deutete mit dem Kopf darauf. »Das ist also der Ort, wo die Magie entsteht.«

»Das ist keine Magie.« Er sah nicht mich an, sondern Lucy, die das ganze Blatt mit Orange voll malte.

»Dir kommt es vielleicht nicht so vor . . .«

Wes verzog bescheiden das Gesicht. Typisch.

»Darf ich mir die Sachen mal genauer ansehen?«, fragte ich.

Lucy lief vor uns her über die Veranda, die Stufen hinunter. Als wir um die Hausecke bogen, rannte sie sofort auf eine ziemlich große Skulptur aus Radkappen zu, die kreisförmig um eine hohe, in sich gekrümmte Röhre montiert waren.

»Schieben! Schieben!« Fordernd schlug sie mit der Hand gegen eine der unteren Kappen.

»Wie sagt man?«, meinte Wes. Lucy sagte brav bitte. Wes legte die Hand auf eine der höher montierten Kappen und schob sie kräftig an, so dass das Teil sich zu drehen begann; einige der Kreise rotierten nach oben, andere gegenläufig nach unten, alles in einer einzigen, fließenden Bewegung. Das Sonnenlicht fing sich funkelnd in dem glänzenden Metall. Lucy trat einen Schritt zurück und schaute gebannt zu, bis das Kreiseln nach einiger Zeit aufhörte und die Skulptur mit einem leisen Knarren zum Stillstand kam.

»Noch mal!« Lucy hüpfte vor lauter Begeisterung auf und ab. »Wes, noch mal!«

Wes sah mich an. »Das kann jetzt stundenlang so weitergehen«, meinte er trocken. Trotzdem schob er die Skulptur geduldig wieder an.

»Wes!« Delias Stimme drang zwischen den Bäumen zu uns herüber. »Kannst du bitte mal kommen? Wir brauchen einen starken Mann.«

»Ich habe doch gesagt, ich mache das.« Bert protestierte lautstark. »Ich bin stärker, als ich aussehe.«

»Wes?«, rief Delia noch einmal. Armer Bert, dachte ich.

»Ja, bin sofort bei euch«, rief Wes zurück. »Kommst du kurz allein klar?«, fragte er mich. Ich nickte. Er lief los. Lucy schaute ihm nach und für einen Augenblick fragte ich mich, ob sie wohl losbrüllen würde. Tat sie aber nicht. Stattdessen stapfte sie quer durch den Garten, und zwar so zielstrebig, wie man es einer Zweijährigen kaum zugetraut hätte.

Als ich sie einholte, stand sie schon fast am hinteren Gartenzaun und ging dort in die Hocke. Über ihre Schulter hinweg sah ich drei kleinere Herzhände, quasi Miniausgaben der großen Skulptur, die vorne an der Straße stand, wobei Wes jede der drei leicht variiert hatte: Bei einer verlief quer über dem Herzen eine gezackte Linie, als wäre es gebrochen; bei der zweiten waren die Ränder gezackt, quasi ausgefranst, aber mit spitzen Kanten und Ecken. Aber am meisten mochte ich die dritte, die hinterste in der Reihe; aus dem Herz in der Mitte der Handfläche war ein herzförmiges Loch rausgeschnitten, in dem eine weitere kleine Hand pendelte. Es erinnerte mich an die Puppen in der Puppe, mit denen ich als Kind so gern gespielt hatte. Alle drei Skulpturen waren schmutzig und verrostet. Offensichtlich hatten sie schon lange dort gestanden, bevor Lucy das Gras darüber beiseite geschoben hatte.

Sie wandte den Kopf und sah mich an. »Hände«, sagte sie.

»Hände«, wiederholte ich. Sie legte ihre kleine Hand auf die der ersten Skulptur. Ihre Finger lagen auf den rostigen Fingern der Skulptur, und ihre weiche, weiße Haut stand in starkem Kontrast zu dem dunklen, wettergegerbten, spröden Metall. Wieder schaute sie mich an und ich legte meine Hand neben ihre auf die zweite Skulptur.

Ich hörte Stimmen und wandte mich um. Wes und Delia kamen über die Wiese auf uns zu. Als Lucy ihre Mutter bemerkte, rappelte sie sich hoch, sauste ihr entgegen und schmiss sich an Delias Knie. Delia blickte mit einem belustigten Kopfschütteln auf ihre Tochter und wuschelte mit beiden Händen durch Lucys dunkle Locken.

»Was treibt ihr zwei da?«, fragte Wes.

»Lucy hat mir die Skulpturen gezeigt«, antwortete ich und zeigte mit einer Kopfbewegung darauf. »Ich wusste gar nicht, dass du auch kleine Herzhände gemacht hast.«

»Bloß für kurze Zeit.« Er machte eine abwehrende Geste. »Irgendwie lief’s nie richtig damit.«

»Soll ich zum Kartoffelsalatdienst antreten?« Ich stand auf.

»Nein, falscher Alarm«, erwiderte Wes.

»Wie jetzt?«

Delia drückte Lucy liebevoll gegen ihre Beine. »Es ist wirklich sehr, sehr merkwürdig. Gerade als ich die Kartoffeln ins kochende Wasser schmeißen will, ruft die Kundin an. Es stellt sich raus, dass sie doch keinen Kartoffel-, sondern lieber Krautsalat und Käsemakkaroni will. Und von beidem habe ich noch mehr als genug.«

»Ich habe versucht Delia zu erklären, dass das eine gute Nachricht ist«, meinte Wes.

»Klar«, sagte ich. »Warum auch nicht?«

Delia strich mit der Hand über Lucys Kopf. »Ich find’s einfach . . . seltsam. Ich weiß auch nicht genau, warum, aber es macht mich irgendwie nervös.«

Wes warf ihr einen Blick zu. »Manchmal laufen die Dinge eben so, wie sie sollen. So was kommt vor.«

»Bei Wish Catering nicht.« Delia seufzte. »Jedenfalls haben wir genug Zeit, um alles in Ruhe vorzubereiten. Und das ist . . . ja, das ist wahrscheinlich wirklich eine gute Nachricht.« Aber ihre Stimme klang nach wie vor skeptisch.

»Keine Angst«, meinte Wes, während wir alle zusammen zu ihrem Haus zurückliefen. »Die nächste Katastrophe kommt bestimmt.«

Was Delia tatsächlich aufzumuntern schien. »Ja, du hast Recht.« Sie nahm Lucy an die Hand.

Während wir den ganzen Kram für die heutige Veranstaltung zusammenpackten, passierte dann doch ständig was. Beziehungsweise es passierte eben gerade nichts. Zum Beispiel mussten wir normalerweise sämtliche Servierwagen in den Lieferwagen stopfen in der verzweifelten Hoffnung, dass sie irgendwie reinpassen würden; doch diesmal war es Delia aus irgendeinem Grund gelungen, die Sachen in den Kühlboxen so Raum sparend zu stapeln, dass wir mit einem Servierwagen weniger auskamen, alles entsprechend gut in den Lieferwagen passte und wir (huch!) sogar noch Platz übrig hatten. Die große runde Servierplatte (die schönste im Inventar von Wish Catering, die allerdings seit langem verschwunden gewesen war) tauchte wie von Zauberhand hinter einem der Gefrierschränke auf. Und am Ende bretterten wir – oh Wunder! – nicht wie üblich auf den allerletzten Drücker den Sweetbud Drive runter, sondern waren tatsächlich einmal fertig, bevor wir losmussten. Wir hatten Zeit übrig, um sie totzuschlagen, mussten nicht wie sonst immer hinter uns selbst herhecheln. Es war tatsächlich etwas eigenartig.

Delia und ich hockten uns auf die Stufen vor ihrer Veranda und fächelten uns mit allem, was wir in die Finger kriegen konnten, Luft zu, während Bert und Wes in der Garage rumtrödelten und die letzten paar Sachen zum Lieferwagen trugen. Delia stützte sich auf ihren Händen ab, lehnte sich leise ächzend zurück und versuchte eine möglichst bequeme Position zu finden. »Wie ich höre, hast du deinen Job hingeschmissen?«

Wes, der genau in dem Moment mit einem Karton Papierservietten vorbeischlenderte, erntete dafür einen bösen Blick. Von mir.

»Tut mir Leid, ich konnte nicht anders«, sagte er. »Die Geschichte war einfach zu gut, um sie für sich zu behalten.«

»Dann gehst du am besten auch gleich noch zu meiner Mutter und bringst es ihr schonend bei.« Ich griff mit beiden Händen in meine Haare und zog sie zu einem Pferdeschwanz nach oben.

»Nein, danke.« Und rasch verschwand er aus meinem Blickfeld.

»Glaubst du wirklich, sie ist deswegen sauer auf dich?«, fragte Delia. »Nach allem, was ich von dir über den Job gehört habe, hast du da ziemlich gelitten.«

»Das stimmt zwar, aber ihrer Meinung nach zählt so was nicht«, antwortete ich. »Für sie ist entscheidend, dass ich mich dazu verpflichtet habe. Und zu seinen Verpflichtungen steht man, egal wie man sich dabei fühlt.«

»Ah ja?«

»Und dass durch den Job meine Chancen auf ein gutes Übertrittszeugnis zum College erhöht worden wären, war ihr auch sehr wichtig.«

»Ich verstehe.«

»Außerdem passt so ein Job in der Bibliothek gut zu ihrem Bild von mir«, sagte ich abschließend.

»Und wie sieht das aus, dieses Bild?«

Ich nahm einen Zipfel meines T-Shirts zwischen Daumen und Zeigefinger und dachte an die beiden Gespräche – heute Morgen, gestern Abend –, die wir geführt hatten, meine Mutter und ich. »Perfekt«, antwortete ich.

Delia schüttelte den Kopf. »Ach was.« Sie wedelte mit der Hand, als wollte sie den Gedanken verscheuchen. »Es kann doch nicht wirklich ihr Ziel sein, dass aus dir ein perfekter Mensch wird.«

»Und warum nicht?«

»Zum einen ist so etwas unmöglich.« Sie verlagerte ihr Gewicht, lehnte sich dann aufs Neue etwas zurück. »Außerdem ist sie deine Mutter. Und gerade für Mütter ist so was nicht wichtig.«

»Ja klar«, nickte ich düster.

»Ich mein’s ernst.« Delia streckte die Beine aus und legte beide Hände wie beschützend auf ihren Bauch. »Ich kenne mich damit aus, schließlich bin ich selbst Mutter. Und ich will für Lucy und Wes und Bert nur eins: dass sie glücklich sind. Gesund. Und gute Menschen natürlich. Nicht vollkommen, aber gut. Ich bin ja selbst nicht perfekt, im Gegenteil. Da kann ich das von ihnen wirklich nicht verlangen. Und warum sollte ich überhaupt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Meine Mutter ist anders.«

»Inwiefern?«

Während ich darüber nachdachte, wie ich diese Frage beantworten sollte, wunderte ich mich, dass ich nicht schneller darauf kam. Dass es gar nicht so leicht war, diese Frage zu beantworten. »Sie arbeitet zu viel«, fing ich schließlich an, unterbrach mich jedoch gleich wieder. »Ich meine, seit dem Tod meines Vaters steht und fällt die Firma mit ihr. Und sie ist immer so im Stress, hat so viel zu tun, dass ich mir Sorgen um sie mache. Sogar ziemlich große Sorgen.«

Delia schwieg, aber mir war bewusst, dass sie mich von der Seite ansah.

»Ich glaube, sie arbeitet so viel, um immer alles unter Kontrolle zu haben. Weißt du, was ich meine?«, fuhr ich fort.

Delia nickte.

»Außerdem glaube ich, es hat damit zu tun, dass sie sich nur dann sicher fühlt.«

»Was ich verstehen kann«, meinte Delia leise. »Wenn man einen Menschen verliert, hat man leicht das Gefühl, auch die Kontrolle zu verlieren. Und zwar vollständig.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Trotzdem ist es nicht fair. Weißt du, nachdem mein Vater gestorben war, habe ich versucht mich zusammenzureißen. Ihretwegen. Ich habe so getan, als wäre alles okay, selbst wenn es mir schwer fiel. Aber jetzt, wo’s mir endlich gut geht, ist sie unzufrieden mit mir. Weil ich nicht mehr perfekt bin.«

»Trauern macht einen nicht zu einem perfekten oder nicht perfekten Menschen«, sagte Delia ruhig. »Trauern macht einen überhaupt erst zu einem Menschen.«

Im Hintergrund wuselte Bert um den Lieferwagen rum, rückte einen der Servierwagen zurecht.

»Jeder von uns hat seine Art, mit dem Leben klarzukommen«, fuhr Delia fort. »Deine Mutter vermisst deinen Vater sicher schrecklich, Tag für Tag. Nur eben auf ihre Art. Sprich sie doch mal drauf an.«

»Geht nicht«, sagte ich. »Wenn ich ihn nur erwähne, macht sie dicht. Ich habe es heute Morgen versucht, zum ersten Mal seit ewig langer Zeit – sie will nicht über ihn reden.«

»Versuch’s noch mal.« Sie rückte etwas näher an mich heran und legte einen Arm um meine Schulter. »Jeder trauert nicht nur auf seine eigene Weise, sondern auch in seinem eigenen Tempo. Vielleicht bist du ihr momentan ein Stück voraus, aber irgendwann kommt sie auch an den Punkt, an dem du jetzt stehst. Das Wichtigste ist, nicht aufzugeben; ihr müsst immer wieder versuchen, miteinander zu sprechen, auch wenn es zunächst schwer fällt. Aber es wird leichter, das weiß ich aus Erfahrung.«

Mit einem Mal fühlte ich mich so erschöpft, dass ich meinen Kopf an ihre Schulter lehnte. Schweigend strich sie mir übers Haar.

»Danke«, sagte ich.

»Sehr gern geschehen, Liebes«, antwortete sie. Ich konnte das Vibrieren ihrer Stimme an meiner Wange spüren.

Mindestens eine, wenn nicht sogar zwei Minuten saßen wir so nebeneinander ohne irgendetwas zu sagen. Bis unvermittelt aus der Garage schallte:

»Buh!«

Worauf ein lauter Schrei ertönte. Bert! Klar, wer sonst?

Delia stieß einen lauten Seufzer aus. »Also wirklich, Jungs!«, sagte sie.

»Nummer zehn.« Wes’ Stimme. Bert brummte irgendwas, das ich nicht verstand. »Und glaub jetzt nicht, dass damit Schluss gewesen wäre«, fügte Wes hinzu.

 

Auch auf der Party setzte sich unsere Glückssträhne fort, obwohl es zunächst so aussah, als hätten wir die üblichen Startschwierigkeiten. Denn als wir ankamen, mussten wir feststellen, dass die großen, mit Gas betriebenen Grills, die Delia bei ihrer Zulieferfirma bestellt hatte, nicht anspringen wollten, egal wie oft Wes es probierte.

»Ich fasse es nicht!«, zischte Delia mir zu, während die ersten Gäste eintrudelten. »Der Kunde will eine Grillparty. Das bedeutet, man kocht draußen und man isst draußen, was sonst?«

»Delia, nun sei –«

In dem Moment zischte etwas ungefähr zehnmal so laut wie Delia, aber es war nicht Delia, sondern der Grill, der plötzlich doch geruhte sich zu entzünden. Wie sich rausstellte, waren die Gaskartuschen bloß nicht richtig angeschlossen gewesen.

Eine Stunde später. Ich hatte gerade eine letzte Runde mit Appetithäppchen gedreht, als Bert auffiel, dass wir nur einen Behälter mit fix und fertig vorbereiteten, rohen Hamburgern mitgebracht hatten anstelle von zweien. Uns fehlten also ungefähr hundert Stück.

»Okay . . .« Delia vergrub das Gesicht in den Händen. »Einen Moment . . . ich muss nachdenken . . .«

»Was ist jetzt schon wieder los?«, fragte Wes, der sich gerade einen weiteren Kasten Ginger Ale für die Bar holen wollte.

»Wir haben nicht genug Fleisch für die Hamburger dabei«, antwortete ich. Wandte mich dann an Delia: »Komm, das wird schon reichen, die meisten Leute essen bestimmt nicht mehr als –«

»Drei Behälter sind nicht genug?«, fragte Wes irritiert.

Delia nahm die Hände vom Gesicht. »Es sollten zwei Behälter mit«, sagte sie betont langsam.

»Du hast gesagt drei«, antwortete Wes. »Ich weiß es ganz genau.«

»Ich sagte zwei«, erwiderte sie mühsam beherrscht.

»Nein, hast du nicht.«

»Zwei!« Delia hob die Hand und hielt zwei Finger hoch. »Ich sagte, zwei Behälter.«

»Aber wir haben drei mitgebracht.« Wes sprach ebenso langsam und beherrscht wie Delia. »Einer steht auf dem Servierwagen, die anderen beiden sind in der Kühlbox. Schau selbst nach, wenn du willst. Ist alles da.«

Ich schaute nach. Es war wirklich alles da. Anstatt zu wenig Hackfleisch zu haben, das man nur noch auf den Grill schmeißen musste, hatten wir plötzlich mehr als genug. Und damit endete unsere unheimliche Glückssträhne immer noch nicht. Denn einmal stießen Bert und ich beinahe zusammen, was eigentlich in einer Katastrophe hätte enden müssen, da wir beide voll beladene Tabletts mit diversen Soßen, Gürkchen, Ketchup, Senf und so weiter trugen; aber da ich in allerletzter Sekunde ausweichen konnte, gab es keinen Zusammenstoß und die Katastrophe blieb aus. Die Eiswürfelzange war nirgends aufzutreiben, bis sie plötzlich in der Schublade unter jener, wo wir sie normalerweise aufbewahrten, auftauchte. Und so weiter und so fort.

»Und trotzdem macht es mich nervös. Es läuft einfach zu glatt«, meinte Delia, als wir schließlich Zeit hatten, kurz durchzuatmen, uns an die Küchentür stellten und von dort aus in den Garten auf lauter gut gesättigte, gut gelaunte Partygäste blickten, die Essen, Trinken und Gesellschaft in vollen Zügen genossen.

Worauf ich bloß »Delia!« sagte und zusah, wie Wes einer Frau im Spaghettiträgerkleidchen ein Glas Wein einschenkte; sie quasselte ununterbrochen auf ihn ein und unterstrich ihre sicher sehr bedeutsamen Worte mit ebenso bedeutsamen, weit ausladenden Gesten. Er nickte die ganze Zeit stumm vor sich hin, höflich, verständnisvoll; als wäre er von dem, was sie sagte, vollkommen fasziniert. Doch entging mir nicht, dass er, als er sich kurz wegbeugte, um ein paar Eiswürfel aus dem Behälter zu fischen, heimlich die Augen verdrehte.

»Ich weiß, ich weiß.« Delia kaute am Nagel ihres kleinen Fingers. »Trotzdem merkwürdig, dass heute alles klappt.«

»Vielleicht hast du es dir ja verdient«, meinte ich. »Als Generalbelohnung für die vielen Desasterveranstaltungen.«

»Vielleicht. Trotzdem wünschte ich mir fast, uns würde zumindest ein kleines Missgeschick passieren. Mich würde das irgendwie beruhigen.«

Ich wusste genau, was sie meinte. Und das war vielleicht das Merkwürdigste überhaupt. Es hatte eine Zeit gegeben, da wäre ein Nachmittag wie dieser ganz nach meinem Geschmack gewesen: Alles klappt wie am Schnürchen, ist einfach perfekt. Doch so, wie die Dinge heute liefen, war es fast unheimlich und – ehrlich gesagt – ein wenig langweilig.

Der Zeiger kroch von vier auf halb fünf auf fünf. Und allmählich kam ich auf die Idee, dass sich dieser Zustand – das Leben hatte sich heute offenbar für eine gewisse Gleichmütigkeit entschieden – gerade für mich möglicherweise als Vorteil erweisen könnte. Schließlich würden Delia, Wes und Bert mich in etwa einer halben Stunde am Park absetzen, wo ich mich meiner Mutter stellen und ihr die Sache mit dem Infothekensprung erklären musste. Je näher dieser Zeitpunkt rückte, umso aufgeregter wurde ich, versuchte allerdings jedes Mal, wenn sich mir wieder mal der Magen zusammenkrampfte, mich an das zu erinnern, was Delia mir geraten hatte: dass es zwar möglicherweise nicht leicht sein würde, meiner Mutter von meinen wahren Gefühlen zu erzählen, ich es aber dennoch immer wieder versuchen müsste. Nein, leicht würde es bestimmt nicht sein, aber es wäre immerhin ein Anfang. Wie hatte mein Vater so oft gesagt? Der erste Schritt ist der schwerste.

Darüber grübelte ich gerade nach, während ich mit einem Pfannenheber am Buffet stand, als plötzlich jemand mit der Hand vor meinem Gesicht wedelte.

»Hallo-o?«

Ich blinzelte Wes an.

»In welcher Realität treibst du dich gerade herum?«, fragte er.

»Im Land der Wahrheit und ihrer Konsequenzen«, antwortete ich und stupste mit dem Pfannenheber sachte gegen das vegetarische Angebot (gegrillte marinierte Paprika und Bohnen-Burger aus scharf gewürzten Kidneybohnen), das allerdings bisher wenig Abnehmer gefunden hatte. »Noch eine knappe Stunde bis zum Vulkanausbruch.«

»Stimmt.« Kritisch beäugte er die Bohnen-Burger. »Jason.«

»Nicht Jason«, antwortete ich. »Jason ist das geringste meiner Probleme. Nein, meine Mutter.«

»Ach so, ja.« Wes nickte.

»An Jason habe ich überhaupt nicht mehr gedacht.« Mit dem Pfannenheber arrangierte ich die Bohnen-Burger so, dass sie hoffentlich etwas appetitlicher wirkten. »Ich meine, ich hatte schon Angst, ihm in der Bibliothek über den Weg zu laufen, weil das vermutlich ziemlich ungemütlich geworden wäre. Aber so wie die Dinge stehen . . . jetzt ist alles anders. Ich meine, wir sind . . .«

Wes schwieg und wartete geduldig darauf, dass ich das richtige Wort fand. Eine Frau warf einen argwöhnischen Blick auf die Paprika, bevor sie sich reichlich von der nächsten Platte bediente, auf der sich die Steaks türmten.

»Vorbei. Das zwischen uns ist vorbei«, sagte ich schließlich. Und realisierte es erst in dem Moment, da ich es aussprach. Jasons Reaktion auf meinen Abgang in der Bibliothek konnte ich mir lebhaft vorstellen: Er würde nie wieder mit mir zusammen sein wollen. Womit ich – wie mir gerade klar wurde – vollkommen einverstanden war. »Es ist vorbei«, wiederholte ich, als eine Art Test, wie es sich anfühlte, wenn meine Lippen die Silben formten. Es fühlte sich gut an. »Zwischen uns ist es aus.«

»Wow!«, meinte Wes langsam. »Bist du –«

»Entschuldigung, ist das alles vegetarisch?« Vor dem Buffet stand eine kleine untersetzte Frau in einem grell gemusterten Kleid mit einem Teller Kartoffelchips in der Hand. Obwohl sie eine Brille mit sehr dicken Gläsern trug, konnte sie das Schild, auf dem FÜR VEGETARIER stand, anscheinend nicht lesen.

»Ja«, antwortete ich. »Alles auf diesen beiden Platten ist rein vegetarisch.«

»Sicher?«

Ich nickte, nahm einen der Bohnen-Burger mit dem Pfannenwender und legte ihn auf ihren Teller. Sie betrachtete ihn misstrauisch, bevor sie weiterging. Ich wandte mich wieder Wes zu: »Was wolltest du gerade –«

»Die Dame an dem Ecktisch da drüben möchte eine Weißweinschorle.« Bert düste mit einem Tablett voll zerknüllter Servietten und leerer Plastikbecher vorbei. »Und zwar pronto.«

Wes lief ums Buffet herum, wobei er mir über die Schulter einen Blick zuwarf. »Äh . . . nicht so wichtig«, meinte er. »Erzähl ich dir später.«

Wes strebte zur Bar, während Delia sich am Buffet entlang auf mich zubewegte und dabei die Speisen auf den Platten neu arrangierte. Als sie bei den Bohnen-Burgern angelangt war, betrachtete sie die Teile versonnen. »Schon wieder was sehr Merkwürdiges. Von denen wollte ich unbedingt mehr mitbringen, hab’s aber vergessen und war total nervös, dass die Bohnen-Burger nicht reichen würden.«

»Im Gegenteil.« Ich verscheuchte eine Fliege, die über den Gerichten FÜR VEGETARIER kreiste. »Wir haben mehr als genug.«

»Siehst du, schon wieder.« Sie seufzte schwer. »Heute klappt einfach alles zu gut. Viel zu gut. Irgendwie muss es dafür noch einen Ausgleich geben. Ich hätte nie gedacht, dass diese Worte je über meine Lippen kommen würden, aber ich brauche Chaos!«

Kurz bevor wir losfahren wollten, ging ihr Wunsch in Erfüllung.

Wir verstauten gerade die letzten Sachen im Lieferwagen. Wes und ich schoben die Servierwagen rein. Delia stand oben an der Auffahrt mit der Kundin, die mit allem – Essen, Getränke, Service – so rundum zufrieden war, dass sie nicht nur anstandslos den Gesamtpreis zahlte, sondern sogar was extra drauflegte. Noch eine Premiere, denn so was war in der Geschichte von Wish Catering noch nie passiert. Alles war also wunderbar, großartig, in einem Wort: perfekt. Bis ich einen Schrei hörte.

Doch nicht Delia stieß ihn aus, sondern die Kundin. Es war ihre Reaktion auf die Tatsache, dass bei Delia die Fruchtblase geplatzt war. Das Baby kam!