»Okay«, sagte Wes halblaut. »Schau mir einfach zu, so lernst du es am besten.«
Ich nickte.
Wir standen in der Garderobe des Lakeview Inn und Wes hatte vor, mich in die Kunst des Erschreckens einzuweihen. Eigentlich sollten wir gerade die letzte Runde Appetithappen bei einer Party servieren, mit der jemand seinen Ruhestand feierte. Und ich hatte bloß schnell ein Cape loswerden wollen, das mir einer der Gäste zum Aufhängen gegeben hatte. Doch als ich in die Garderobe kam, lag Wes dort auf der Lauer.
»Wes?«, setzte ich an, doch er legte einen Finger auf die Lippen und signalisierte mir mit der anderen Hand näher zu kommen. Unwillkürlich stellte ich mich neben ihn, obwohl ich dasselbe unbestimmte Flattergefühl in meinem Bauch verspürte, das mich in Wes’ Nähe immer überfiel. Auch wenn wir nicht gerade auf engstem Raum zusammenstanden so wie jetzt.
Aus dem Nebenraum drangen Partygeräusche: Gabelklirren auf Porzellan, glucksendes Lachen, dazwischen immer wieder Geigenklänge vom Band – zufällig die gleiche Musik, die auch bei der Hochzeit meiner Schwester hier im Lakeview Inn gelaufen war.
»Pass auf.« Wes sprach so leise, dass ich – hätten wir nicht schon so dicht beieinander gestanden – mich noch näher zu ihm gebeugt hätte, um ihn zu verstehen. »Timing ist alles.«
Unmittelbar vor meinem Gesicht baumelte ein Mantel, dem ein starker Parfumgeruch anhaftete. Ich schob ihn etwas beiseite.
»Noch nicht«, flüsterte Wes. »Noch nicht . . . immer noch nicht . . .«
Ich hörte Schritte, Gemurmel. Bert.
»Okay«, wisperte Wes. Und sprang plötzlich hoch, raus, vorwärts. »Jetzt . . . Buh!«
Bert schrie, und zwar in einer Höhe und Lautstärke, dass Fensterscheiben zersprungen wären, wenn welche in der Nähe gewesen wären; gleichzeitig ruderte er mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, doch vergeblich: Er taumelte rückwärts gegen die Wand und sank zu Boden wie ein nasser Sack. »Shit!«, sagte er laut, wurde knallrot im Gesicht und – als er mich sah – gleich noch röter. Ich verstand ihn nur zu gut. Es ist nicht leicht, in einer dermaßen peinlichen Situation einen Rest Anstand und Würde zu bewahren.
Endlich schaffte Bert es, keuchend und stotternd zu sagen: »Das war –«
Doch Wes fiel ihm ins Wort: »Nummer sechs, nach meiner Zählung.«
Bert rappelte sich mühsam hoch und funkelte uns böse an. »Ich mach dich fertig«, verkündete er grimmig, zeigte mit dem Finger erst auf Wes, dann auf mich, dann wieder auf Wes. »Ich mach euch alle beide fertig. Wartet’s bloß ab.«
»Lass Macy aus dem Spiel«, meinte Wes. »Sie hat nicht mitgemacht, ich wollte ihr bloß zeigen, wie’s geht.«
»Auf gar keinen Fall halte ich sie raus«, entgegnete Bert. »Sie hängt ab jetzt mit drin. Deine Schonfrist ist vorbei, Macy.«
»Bert, du hast sie schon mal erschreckt«, sagte Wes. »Weißt du das etwa nicht mehr?«
Bert ignorierte die Frage. »Das Spiel geht weiter. Zu dritt! Und ihr werdet es noch bereuen«, verkündete er mit fester Stimme und stapfte, vor sich hin grummelnd, in Richtung Festsaal. Die Tür ließ er betont laut hinter sich zufallen. Wes blickte ihm ungerührt nach. Die Drohung schien ihm überhaupt nichts auszumachen, im Gegenteil, er lächelte amüsiert.
»Saubere Leistung«, meinte ich, während wir den Flur entlang zur Küche liefen.
»Ist gar nicht so schwer. Mit ein bisschen Übung kriegst du das auch hin und kannst die Welt eines Tages unsicher machen.«
»Ich bin vielleicht ein bisschen zu neugierig, aber ich würde wirklich gern wissen, wo diese Aktion ihren Ursprung genommen hat.«
»Ursprung genommen?«
»Ja, wie es angefangen hat.«
»Ich weiß, was die Worte bedeuten«, antwortete er. Ich bekam einen Riesenschreck, weil ich im ersten Moment glaubte ihn beleidigt zu haben. Aber dann grinste er mich an: »Es ist bloß so . . . ›seinen Ursprung nehmen‹ – das klingt, als würdest du aus einem Handbuch für die College-Aufnahmeprüfung zitieren. Ich bin schwer beeindruckt.«
»Du hast es erfasst. Ich arbeite gerade das Kapitel über Vokabular und Ausdrucksfähigkeit durch.«
»Das merkt man.«
Ein Service-Angestellter vom Lakeview Inn kam an uns vorbei. Wes nickte ihm grüßend zu, bevor er fortfuhr: »Aber da ist nicht viel mit ›Ursprung nehmen‹. Es fing an, nachdem meine Mutter gestorben war und wir plötzlich allein im Haus wohnten. Auf einmal war es total still, deswegen kamen wir fast automatisch auf die alberne Idee, uns anzuschleichen und gegenseitig zu erschrecken. Hat sich eben so ergeben.«
Ich nickte, als verstünde ich, was er meinte, obwohl ich mir nicht wirklich vorstellen konnte, plötzlich hinter einer Tür oder Topfpflanze hervorzuspringen und meine Mutter zu erschrecken, auch wenn die Gelegenheit noch so günstig war. »Aha«, sagte ich.
»Außerdem macht es Spaß«, fuhr Wes fort, »ab und zu mal richtig erschreckt zu werden. Eine total unerwartete, überraschende Erfahrung zu machen. Findest du nicht?«
Dieses Mal stimmte ich nicht zu. Ich hatte vorläufig genug von unliebsamen Überraschungen, vom Erschreckt-Werden, egal ob es geplant worden war oder nicht. »Ist anscheinend eher was für Jungs«, sagte ich daher bloß.
Er zuckte die Schultern und hielt die Küchentür für mich auf. »Kann sein.«
Als wir reinkamen, stand Delia mitten im Raum und presste beide Hände vor die Brust. Ich brauchte nur ihr Gesicht zu sehen, um zu wissen, dass irgendetwas nicht stimmte.
»Moment«, sagte sie. »Alle mal stehen bleiben und nicht bewegen.«
Wir gehorchten. Sogar Kristy, die in der Regel jede Art von Anweisung ignorierte, unterbrach augenblicklich, was sie tat, so dass der Käsemuffin, den sie gerade auf eine Servierplatte legen wollte, reglos in der Luft vor ihr schwebte.
Delia drehte sich langsam einmal um ihre eigene Achse und ließ die Augen suchend durch den Raum wandern. »Wo ist der Schinkenbraten?«
Pause. Bis Kristy mit leiser Stimme meinte: »Oha.«
»Sag so was nicht, bitte!« Delia verwandelte sich plötzlich in eine Windmühle, die an der riesigen Küchentheke entlangsauste und mit fliegenden Armen sämtliche Kartons und Behälter, die wir dort abgestellt hatten, auf ihren Inhalt kontrollierte. »Der Schinken muss irgendwo sein. Sechs Stück Schinkenbraten. Sie können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Wozu hätte ich sonst dieses System ausgeklügelt, damit wir nichts mehr vergessen?«
Stimmt, es gab ein System. Aber es war funkelnagelneu, existierte im Prinzip erst seit gestern Abend, als wir auf dem Weg zu einem Cocktailempfang entdeckten, dass kein Mensch die Gläser eingeladen hatte. Delia musste fast die ganze Strecke noch mal zurückfahren, so dass wir viel zu spät ankamen. Da Delia, wie viele Schwangere, sowieso unter Schlafstörungen litt, hatte sie die Nacht genutzt, um Listen zu entwerfen, auf denen alles abgehakt werden konnte, was wir brauchten, von den Canapés bis zu den Servietten. Jeder von uns war für eine Liste verantwortlich, ich zum Beispiel für Küchenutensilien und Besteck. Wenn die Vorlegelöffel fehlten, war von nun an ich schuld.
»Das kann nicht wahr sein, das kann einfach nicht wahr sein.« Hektisch tastete Delia das Innere eines kleinen Kartons ab, in den kaum ein halber Schinkenbraten gepasst hätte, geschweige denn sechs davon. »Ich weiß bestimmt, dass sie fertig vorbereitet auf der Anrichte in der Garage lagen. Ich hab sie genau vor Augen.«
Die Stimmen, die von draußen zu uns in die Küche drangen, wurden lauter. Besser gesagt, es trudelten immer mehr Gäste ein, was bedeutete, dass sie sich bald zu Tisch setzen und essen wollen würden. Das Menü bestand aus Käsemuffins und überbackenen Toasts mit Ziegenkäse vorneweg, gefolgt von – auf besonderen Wunsch des Gastgebers – Unmengen Schinkenbraten, grünen Bohnen, Risotto und Kräuterbrötchen mit Rosmarin und Dill. Sofern sich die Menschheit in eine Rindfleisch- und eine Schweinefleischfraktion spaltete, war klar, zu welcher diese Leute gehörten.
»Okay, okay, Leute, ganz ruhig bleiben«, sagte Delia, dabei schien sie die Einzige zu sein, die kurz vorm Durchdrehen war. Raschelnd durchwühlte sie die Plastiktüten mit den Kräuterbrötchen, die auch noch dringend aufgebacken werden mussten. »Wir müssen systematisch vorgehen. Wer ist heute für was verantwortlich?«
»Ich für Vorspeisen, und die sind da«, sagte Kristy.
Bert kam mit einem leeren Tablett durch die Schwingtür. »Bert«, fragte Kristy, »solltest du drauf achten, dass das Fleisch mitkommt?«
»Nö, ich war mit Servierplatten, Tabletts, Servietten und allem anderen aus Papier dran.« Wie zum Beweis hielt er das Tablett hoch. »Wieso? Fehlt irgendwas?«
»Nein«, antwortete Delia mit fester Stimme. »Nichts fehlt.«
Kristy setzte die Aufzählung fort: »Monica war fürs Eis zuständig, Wes für Gläser und Sekt. Was bedeutet, verantwortlich für den Schinken –« Sie unterbrach sich, setzte in unheilvollem Ton wieder an: »Delia . . .?!«
»Was?« Delias Kopf schoss aus einer Kiste mit Brot. »Nein, glaube ich nicht. Meine Verantwortung war . . .«
Wir warteten schweigend darauf, dass sie weitersprach. Schließlich hatte sie das System eingeführt.
». . . der Hauptgang«, sagte sie schließlich.
»Mist!« Delia schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Ich weiß noch, ich habe die Braten extra auf die Anrichte gelegt, weil ich Angst hatte, wir würden sie vergessen. Und als wir dann alles in den Lieferwagen luden, habe ich sie . . .«
Wieder warteten wir schweigend, dass sie weitersprach.
». . . nur mal kurz zwischendurch hinten auf mein Auto gelegt, auf die Klappe vom Kofferraum.« Delia legte die Hand auf die Stirn und ließ sie da. »Das gibt’s nicht«, flüsterte sie, als würden wir taub, wenn sie in normaler Lautstärke sprach, weil die Wahrheit einfach zu furchtbar war. »Sie liegen noch zu Hause. Auf meinem Kofferraum.«
»Oha«, wiederholte Bert. Und er hatte Recht: Um zu Delia zu fahren, hätte man eine halbe Stunde gebraucht – und eine halbe wieder zurück. Aber die Gäste wollten ihren Schinken in zehn Minuten.
Delia lehnte sich an den Herd. »Was für ein Desaster!«
Und dann sagte etwa eine Minute lang niemand mehr was. Ich arbeitete zwar noch nicht lange bei Wish Catering, wusste aber inzwischen aus Erfahrung, dass diese bedeutungsschweren Pausen immer dann entstanden, wenn allen dämmerte, wie tief der Karren mal wieder im Dreck steckte.
Und wie jedes Mal ergriff Delia tatkräftig die Initiative. »Okay, Leute, so machen wir’s . . .«
Inzwischen hatte ich – den ersten Abend nicht mit eingerechnet – dreimal für Delia gearbeitet: Bei einer Cocktailparty, einem Brunch und einem fünfzigsten Geburtstag. Und jedes Mal hatte ich mich mindestens einmal ernstlich über mich selbst und darüber gewundert, warum ich mir den Job eigentlich aufgehalst hatte. Einmal lag es an einem alten Mann, der mir in den Hintern kniff, als ich mit meiner Vorspeisenplatte an ihm vorbeilief; ein anderes Mal stießen Kristy und ich so heftig zusammen, dass ihr Tablett meine Nase rammte und es Lachshäppchen über mein T-Shirt regnete; und das dritte Mal erschreckte Bert mich zu Tode (damit hatte er nämlich längst angefangen, schon vor dem Schinken-Essen im Lakeview Inn, von wegen Schonzeit!), als er unvermittelt hinter einem Garderobenständer hervorstürzte, was sowohl den Tellerstapel in meiner Hand als auch meinen Puls in schwindelnde Höhen jagte. Doch jedes Mal wenn die Veranstaltung vorbei war, fühlte ich mich auf eine seltsame Weise ruhig, geradezu friedlich. Als würde sich durch die paar Stunden Chaos, Hektik und Wahnsinn etwas in mir entspannen, würden Verkrampfungen und Knoten sich lösen. Zumindest für eine gewisse Zeit.
Vor allem machte der Job einfach Spaß. Auch wenn ich immer noch dazulernte, manchmal durchaus schmerzlich. Zum Beispiel mich zu ducken, wenn Kristy »Ladung im Anmarsch!« brüllte, weil sie irgendetwas – eine Packung Servietten, ein Tablett, eine Spaghettizange – so rasch durch den Raum befördern musste, dass ihr nichts anderes übrig blieb als das Teil von A nach B zu werfen; oder mich unter gar keinen Umständen vor eine Schwingtür zu stellen, weil Bert die immer ohne jede Rücksicht mit Karacho aufstieß. Ich wusste mittlerweile, dass Delia vor sich hin summte, wenn sie nervös war (meistens American Pie), Monica hingegen niemals nervös wurde, im Gegenteil: Selbst wenn wir anderen vor lauter Hektik fast durchdrehten, setzte sie sich in irgendeine Ecke, um sich in aller Ruhe ein paar Shrimps oder Krabbenpastetchen zu genehmigen. Und ich hatte die Erfahrung gemacht, dass ich bei jedem Engpass, jedem Problem, mit dem ich klarkommen musste, nur Richtung Bar zu schauen brauchte und prompt moralische Unterstützung erhielt. Denn Wes war immer solidarisch und zeigte mir das auch: Lächelte mich mitfühlend an, zog ironisch die Augenbrauen hoch oder machte halblaut eine spöttische Bemerkung. Dieses Gefühl – dass jemand auf meiner Seite stand – hatte ich bei meinem Job in der Bibliothek nie. Ehrlich gesagt, ich hatte es eigentlich überhaupt nie. Wahrscheinlich war das der Grund, warum es sich so gut anfühlte.
Doch irgendwann waren das Essen, die Party, der Empfang vorbei. Wenn Delia kassierte, während wir lachend und schwatzend den Lieferwagen mit leeren Behältern beluden und uns gegenseitig die neuesten Geschichten von Grabschern, Schlingern & Co erzählten, klang der Rausch, den ich bei der Arbeit empfunden hatte, allmählich ab. Und plötzlich fiel mir auch wieder ein, dass ich ja am nächsten Morgen pünktlich am Infoschalter der Bibliothek zu sein hatte. In diesen Momenten konnte ich förmlich fühlen, wie ich mich schön langsam wieder auf die Grenze zu meinem wirklichen, meinem richtigen Leben zu bewegte, sie schließlich überquerte.
Und jedes Mal, wenn wir bei Delia in der Garage standen und die letzten Sachen wieder einräumten, die wir an dem Abend gebraucht hatten, fragte Kristy: »Wir ziehen noch ein bisschen um die Häuser, Macy, kommst du mit?«
Obwohl ich jedes Mal ablehnte, lud sie mich jedes Mal ein mitzukommen. Worüber ich mich jedes Mal freute. Selbst wenn man nicht kann, ist es schön, zu wissen, dass man könnte.
»Geht nicht«, antwortete ich. »Ich habe noch was zu tun.«
Sie zuckte die Schultern. »Okay, vielleicht ein andermal.«
So lief es jedes Mal ab, ein eingespielter Dialog. Bis Kristy eines Abends die Augen zusammenkniff und mich neugierig, ja prüfend musterte: »Was hast du eigentlich immer so Wichtiges zu tun?«
»Ach, du weißt schon, Sachen für die Schule und so.«
Monica schüttelte den Kopf. »Hör bloß auf.«
»Aber ich muss für den College-Vorbereitungskurs lernen«, verteidigte ich mich. »Und ich habe noch einen anderen Job, vormittags.«
Kristy schnitt eine Grimasse. »Es ist Sommer. Ich weiß zwar, dass du eine kleine Klugscheißerin bist, aber selbst du brauchst mal ’ne Pause, oder etwa nicht? Das Leben ist noch lang.«
Vielleicht, dachte ich im Stillen. Vielleicht auch nicht. Doch das sprach ich nicht aus, sondern sagte stattdessen: »Weißt du, ich habe einfach viel um die Ohren, das ist alles.«
»Okay, dann viel Spaß«, antwortete sie. »Und lern ein bisschen für mich mit, kann ich gut gebrauchen.«
Zu Hause war ich nach wie vor die lächelnde Alles-in-Ordnung-Macy, die jeden kleinsten Spritzer umgehend von der Arbeitsplatte wischte und ihre Sachen sofort bügelte, nachdem sie sie aus dem Trockner genommen hatte. Doch nach der Arbeit für Wish Catering war ich jemand anderer: ein Mädchen mit Flecken auf den Klamotten und einer Frisur, die keine mehr war. Außerdem roch ich nach dem, womit ich an dem Abend bekleckert oder beschmiert worden war. So eine Art umgekehrtes Aschenputtel: tagsüber Prinzessin, nachts arme Dienstmagd. Tagsüber achtete ich eisern auf Ordnung, Disziplin und Sauberkeit, nachts war mir das plötzlich egal, bis ich mich – gerade rechtzeitig – um Schlag Mitternacht in die Prinzessin zurückverwandelte.
Wie alle anderen Krisen bewältigten wir auch das Schinkendesaster, irgendwie. Wes raste zu einem Feinkostgeschäft, wo man Delia noch einen Gefallen schuldete. Kristy und ich servierten den Gästen Appetithäppchen bis zum Abwinken und schmetterten sämtliche Fragen, wann endlich der Hauptgang serviert werde, mit Wimpernklimpern und strahlendem Lächeln ab (Kristys Idee, wessen sonst?). Als der Schinken schließlich mit fünfundvierzigminütiger Verspätung aufgetragen wurde, entpuppte er sich als voller Erfolg, und am Ende gingen alle glücklich nach Hause.
Es war schon halb elf, als ich von der Hauptstraße nach Wildflower Ridge abbog. Das Licht meiner Scheinwerfer glitt über den Rasen des kleinen Parks in der Mitte der Siedlung, dann in die Sackgasse, an deren Ende wir wohnen; in dem Licht sah ich unser Haus, unseren Briefkasten, unsere Auffahrt, alles wie immer. Und dann sah ich plötzlich etwas anderes.
Den Truck meines Vaters.
Er stand genau an der Stelle, wo er ihn auch immer geparkt hatte: links vor der Garage. Ich hielt dahinter an, stellte den Motor ab und starrte den Truck einen Moment lang stumm an. Es war tatsächlich der meines Vaters, kein Zweifel, ich hätte ihn überall auf der Welt erkannt. Rostige Stoßstange, darüber der Aufkleber ESSEN . . . SCHLAFEN . . . ANGELN, Werkzeugkasten hinten drauf, mit der Delle in der Mitte, da, wo ihm vor ein paar Jahren die Kettensäge aus der Hand gerutscht und draufgekracht war. Ich stieg aus, ging rüber und berührte mit den Fingerspitzen das Nummernschild. Wobei ich nicht überrascht gewesen wäre, wenn sich der Truck bei der Berührung in Luft aufgelöst hätte, wie eine Seifenblase, die beim Anfassen zerplatzt. Wie Gespenster. Gespenster waren auch so.
Aber als ich die Fahrertür öffnete, fühlte sich der Griff unter meiner Hand stabil an, real. Dennoch klopfte mein Herz wie rasend, vor allem als mir der vertraute Geruch nach altem Leder, Zigarrenrauch und Meer in die Nase drang – jener Geruch nach Sand und Salzwasser, den man auf der Heimfahrt vom Strand immer noch ein Stück mit sich nimmt und von dem man sich jedes Mal – vergeblich – wünscht, er bliebe einem erhalten.
Ich liebte diesen kleinen Truck. Nirgendwo sonst hatten mein Vater und ich so viel Zeit miteinander verbracht: ich auf dem Beifahrersitz, die Füße gegen das Armaturenbrett gestemmt, er am Steuer, Ellbogen aus dem Fenster, Finger, die im Rhythmus zur Musik aus dem Autoradio aufs Dach klopften. Samstagmorgens fuhren wir zusammen darin Brötchen holen oder in der Gegend rum, um Baustellen zu besichtigen; oder wir kehrten abends von irgendwelchen Wettkämpfen zurück, wobei ich mich am liebsten in der gemütlichen Ecke zwischen Fenster und Sitz zusammenrollte und sofort einschlief. Solange ich auf der Welt war, hatte die Klimaanlage nicht funktioniert, weswegen es in dem Führerhaus oft so stickig und heiß war, dass man vertrocknete und verdurstete, aber das machte nichts, mir jedenfalls nicht. Der Truck war wie das Haus am Meer: ein bisschen runtergekommen, schäbig, vertraut, unverwechselbar, mit seinem ganz eigenen Charme. Er war nicht wie, er war mein Vater. Und jetzt war er zurückgekehrt.
Ich machte behutsam die Fahrertür zu und ging zum Haus. Die Tür war nicht verschlossen. Ich trat ein, streifte wie immer als Erstes meine Schuhe ab und spürte etwas Ungewohntes unter meinen nackten Sohlen. Hockte mich hin, strich mit dem Finger übers Parkett: Sand!
»Hallo?« Meine eigene Stimme hallte von den hohen Wänden, von der Decke wider. Danach herrschte wieder vollkommene Stille.
Meine Mutter war in ihrem Büro, wo sie potenzielle Hauskäufer empfing, und zwar schon seit fünf Uhr nachmittags. Das wusste ich mit Sicherheit, sie hatte mir nämlich gegen zehn eine Nachricht auf meiner Mailbox hinterlassen. Also entweder hatte sich der Wagen meines Vaters in den letzten fünf Stunden allein von der Küste hierher gefahren oder es gab eine andere Erklärung, warum er unerwartet hier aufgetaucht war.
Ich lief durch den Flur in den hinteren Teil des Hauses und schaute die Treppe hoch. Meine Schlafzimmertür stand offen; normalerweise hielt ich sie geschlossen, damit es drinnen kühl oder warm blieb, je nachdem.
Ich ging die Treppe hinauf. Was sollte das alles? Und vor allem: Wie fand ich es? Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Dabei hatte ich mir bestimmt schon tausendmal gewünscht, mein Vater würde eines Tages einfach wieder auftauchen und es würde sich herausstellen, dass das ganze Elend ein einziges Missverständnis gewesen war, über das wir am Ende lachen konnten, weil es trotz allem gut ausgegangen war. Wenn, ja wenn doch bloß . . . wie oft war mir der Gedanke schon durch den Kopf geschossen?
Als ich mein Zimmer erreichte, blieb ich im Türrahmen stehen und bemerkte zu meiner Erleichterung, dass alles genau so war, wie ich es verlassen hatte: mein Computer, die geschlossene Kleiderschranktür, das Fenster, das Buch mit den Prüfungsfragen auf meinem Nachttisch. Alles so, wie es sein sollte. Doch als mein Blick aufs Bett fiel, entdeckte ich auf dem Kopfkissen einen dunklen Haarschopf. Nicht mein Vater war zurückgekehrt. Natürlich nicht. Aber Caroline.
Sie sei bloß mal kurz vorbeigekommen, um uns zu besuchen, behauptete sie, sorgte jedoch sofort wieder für Aufregung.
»Caroline!«, sagte meine Mutter. Ihr Ton hatte sich in den letzten Minuten mehrmals geändert, von höflich zu streng zu verärgert. »Schluss mit der Diskussion. Das ist weder der richtige Ort noch der rechte Zeitpunkt.«
»Vielleicht nicht der richtige Ort.« Caroline nahm sich noch ein paar Salzstangen. »Aber ganz bestimmt der richtige Zeitpunkt. Es wird nämlich Zeit, Mama, höchste Zeit.«
Montagmittag. Wir saßen im Bella Luna, einem schicken kleinen Bistro in der Nähe der Bibliothek. Ausnahmsweise verbrachte ich meine Mittagspause nicht allein, sondern in Gesellschaft meiner Mutter und meiner Schwester. Allerdings wurde mir so langsam klar, dass ich vielleicht doch lieber mein übliches einsames Sandwich auf meiner üblichen einsamen Parkbank gegessen hätte, denn es stellte sich heraus, dass meine Schwester aus einem ganz bestimmten Grund »mal eben vorbeigekommen« war: Sie hatte eine Mission.
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Papa es so gewollt hätte.« Beim Sprechen warf Caroline unserer Kellnerin, die gerade vorbeidüste, einen fragenden Blick zu, nach dem Motto: Wo bleibt eigentlich unser Essen? »Papa liebte das Haus. Und was passiert jetzt damit? Es gammelt vor sich hin. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viel Sand sich im Wohnzimmer angesammelt hat, und die Treppe zum Strand runter ist total schief und wackelig. Es sieht übel aus. Bist du überhaupt schon mal dort gewesen, seit er gestorben ist?«
Sosehr meine Mutter sich auch bemühte ihr übliches Pokerface zu machen – man sah genau, welche unterschiedlichen Gefühle sich beim Zuhören auf ihrem Gesicht widerspiegelten. Sie konnte gar nicht anders als so zu reagieren, denn Caroline missachtete gerade sämtliche Regeln, auf die wir uns seit dem Tod meines Vaters stillschweigend geeinigt hatten: wie wir über ihn sprachen, was genau gesagt wurde und vor allem was nicht. Mein Vater verkörperte die Vergangenheit. Meine Mutter und ich konzentrierten uns eisern auf die Zukunft. Aber meine Schwester schien anders damit umzugehen. Ihr eigenes Auto hatte eine Panne, Dichtungsmanschette defekt oder so was, deswegen hatte sie es kurz entschlossen dort gelassen und stattdessen seinen Truck genommen, um zu uns zu fahren. Seitdem ließ mich das Gefühl nicht mehr los, sie hätte nicht nur seinen Wagen vom Meer mitgebracht, sondern ihn gleich mit.
»Ich habe zurzeit wirklich andere Sorgen als ein Ferienhaus, Caroline«, sagte meine Mutter.
Unsere Kellnerin kam schon wieder mit leeren Händen an unserem Tisch vorbei und warf uns einen leicht nervösen Blick zu. Zu Recht – wir warteten schon seit über zwanzig Minuten auf unser Essen.
»Der neue Bauabschnitt geht gerade in die entscheidende Phase und es gibt jede Menge neue Vorschriften, vor allem was die Grundstücksgrenzen angeht, und –«
Caroline fiel ihr ins Wort: »Ich weiß. Und ich weiß auch, wie schwer das alles gewesen ist, für euch beide.«
»Das bezweifle ich.« Meine Mutter legte die Hand um ihr Wasserglas, aber sie trank nicht. »Sonst würdest du nämlich verstehen, dass ich über das Thema momentan nicht reden möchte.«
Meine Schwester lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Als sie schließlich weitersprach, drehte sie ihren Ehering um den Finger, wieder und wieder. »Ich will dich nicht ärgern oder verletzen, Mama. Ich meine doch bloß . . . es ist jetzt anderthalb Jahre her und vielleicht wird es allmählich Zeit, drüber hinwegzukommen. Weiterzuleben. Papa hätte nicht gewollt, dass du die ganze Zeit so unglücklich bist. Das weiß ich einfach.«
»Ich dachte, dir geht es um das Ferienhaus«, sagte meine Mutter steif.
»Ja, aber nicht nur«, antwortete Caroline. »Du kannst dich nicht ewig in deiner Arbeit vergraben. Wann seid ihr das letzte Mal weggefahren, Macy und du? Ihr unternehmt überhaupt nichts mehr.«
»Ich war erst vor kurzem am Meer.«
»Ja, aber geschäftlich«, hielt Caroline dagegen. »Du arbeitest bis spät in die Nacht, du stehst jeden Tag irrsinnig früh auf, du denkst an nichts anderes mehr als an deine Bauprojekte. Macy geht nie aus. Anstatt was mit ihren Freunden zu machen, verkriecht sie sich mit ihren Büchern auf ihrem Zimmer. Aber sie wird nicht für immer siebzehn bleiben –«
Jetzt fiel ich ihr ins Wort: »Mir geht’s gut.«
Meine Schwester sah mich an. Ihr Gesicht wurde ganz weich. »Ich weiß, aber ich mache mir trotzdem Sorgen um dich. Ich habe einfach Angst, du verpasst etwas, das du später nicht mehr erleben kannst.«
»Nicht jeder ist so umtriebig wie du, Caroline, nicht jeder muss ständig etwas unternehmen, um sich gut zu fühlen«, sagte meine Mutter. »Macy konzentriert sich eben lieber auf die Schule, dafür hat sie hervorragende Zensuren. Und einen wunderbaren Freund. Nur weil sie sich nicht nachts um zwei noch in der Gegend rumtreibt und Bier trinkt, heißt das nicht, sie hätte kein richtiges Leben.«
»Ich behaupte nicht, dass sie kein richtiges Leben hat«, erwiderte Caroline. »Ich finde bloß, sie ist zu jung, um alles so tierisch ernst zu nehmen.«
»Mir geht’s gut«, wiederholte ich etwas lauter, worauf mich beide ansahen. »Wirklich«, betonte ich.
»Ich sage doch nur, dass es euch beiden gut täte, ein bisschen mehr Spaß zu haben.« Caroline blieb beharrlich. »Und deshalb schlage ich vor, wir bringen das Haus am Meer auf Vordermann und fahren im August für ein paar Wochen hin. Wally hat in diesem Sommer einen Riesenprozess am Hals und ist sowieso die ganze Zeit weg. Ich habe also genug Zeit, um mich um die Renovierung zu kümmern. Wenn alles fertig ist, machen wir zusammen Ferien, wie früher. Wartet’s ab, es wird bestimmt großartig!«
»Und ich sage – übrigens nicht zum ersten Mal –, dass ich über unser Ferienhaus momentan nicht sprechen möchte«, erwiderte meine Mutter. Genau in dem Moment huschte unsere Kellnerin mal wieder mit hochrotem Gesicht an unserem Tisch vorbei. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte meine Mutter in so scharfem Ton, dass die Arme regelrecht zusammenzuckte. »Wir warten jetzt seit einer halben Stunde auf unser Essen.«
»Kommt sofort«, antwortete die Kellnerin mechanisch und eilte Richtung Küche. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr: fünf vor eins. Bethany und Amanda saßen unter Garantie schon an ihren Plätzen und zählten mit Blick auf die große Wanduhr die Sekunden, bis ich zu spät kommen würde und sie endlich was Konkretes gegen mich in der Hand hatten.
Meine Mutter starrte mit unbeweglichem Gesicht auf einen Punkt in der Ferne. In dem Licht, das von draußen auf unseren Tisch fiel, sah man noch deutlicher als sonst, wie müde sie wirkte. Um wie viel älter, als sie war. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal gelächelt oder gar gelacht hatte. Denn eigentlich konnte sie das, so richtig aus dem Bauch lachen, vor allem wenn mein Vater einen seiner dummen Witze gemacht hatte. Über die sonst kein Mensch lachte; die Witze meines Vaters waren eher Stöhnwitze. Aber meine Mutter fand sie zum Brüllen komisch.
»Nachdem ich angekommen war, blieb ich erst mal im Auto hocken und weinte«, sagte Caroline. Meine Mutter blickte stur und ungerührt auf jenen unsichtbaren Punkt auf der gegenüberliegenden Wand. »Es war so, als hätte ich ihn noch einmal verloren.«
Meine Mutter schluckte, atmete ein, atmete aus. Ihre Schultern hoben sich und senkten sich wieder, im Rhythmus ihres Atems.
»Aber als ich dann ins Haus ging«, fuhr meine Schwester mit sanfter Stimme fort, »fiel mir plötzlich wieder ein, wie sehr er an dem blöden Elchkopf über dem Kamin hing, obwohl das Ding stinkt wie tausend alte Socken. Oder wie du auf dem kaputten Herd Abendessen gekocht hast, Makkaroni mit Käse und Tiefkühlerbsen. Alles auf nur einer funktionierenden Platte, weil du nicht schon wieder gegrillten Fisch essen wolltest, auf gar keinen Fall, da wärest du lieber gestorben.«
Meine Mutter hob die Hand und presste zwei Finger ans Kinn. Ich fühlte einen Stich in meiner Brust. Hör auf, wollte ich zu Caroline sagen, doch meine Lippen konnten die Worte nicht formen. Denn auch ich hörte zu. Erinnerte mich.
»Und dieser dämliche Grill, an dem hing er auch wie an einem Schatz. Dabei ist das Teil so was von gefährlich.« Carolines Blick wanderte beim Sprechen von meiner Mutter zu mir. »Der Grill hätte jederzeit in Flammen aufgehen können. Wisst ihr noch, wie er ihn ständig zweckentfremdete und Sachen drin aufbewahrte? Er räumte das Frisbee rein oder irgendwelche Extraschlüssel, vergaß es dann und schmiss das Teil an ohne die Sachen vorher rauszunehmen. Ich habe nachgesehen. Stellt euch vor, unten im Grill liegen noch mindestens fünf halb geschmolzene, rauchgeschwärzte Schlüssel. Wisst ihr das noch?«
Ich nickte, zu mehr war ich nicht in der Lage. Schon das Nicken fiel mir unendlich schwer.
»Ich wollte das Haus nicht vergammeln lassen«, meldete sich meine Mutter so plötzlich zu Wort, dass ich beinahe erschrak. »Aber es wurde mir einfach zu viel . . . noch etwas, um das ich mich hätte kümmern müssen . . . ich habe so schon zu viel um die Ohren.«
Nein! Es kann nicht so einfach sein, sie zum Reden zu bringen, dachte ich. Sie aus der Reserve zu locken, damit sie endlich über all die Dinge sprach, über die ich seit Monaten mit ihr sprechen wollte. Sie an das Thema heranzuführen, um das ich mit ihr gekreist war wie die Katze um den heißen Brei. Das Thema, das wir beide seit Monaten sorgfältig vermieden. Es kann doch nicht so leicht sein.
Meine Mutter setzte erneut an: »Ich will bloß –«
Doch Caroline unterbrach sie: »Das Dach bräuchte ein paar neue Schindeln.« Sie sprach jetzt ganz langsam und vorsichtig. »Ich habe mit unserem Nachbarn da unten gesprochen. Rudy, du weißt schon. Er ist Schreiner. Wir haben das Haus zusammen besichtigt. Viel wäre gar nicht zu tun, ein neuer Herd vielleicht, neue Fliegengitter vor Fenstern und Türen. Die Treppe müsste repariert werden und ein bisschen Farbe würde auch nicht schaden, sowohl innen als auch außen.«
»Ich weiß nicht«, sagte meine Mutter. Und dann legte Caroline ihre Hand auf die meiner Mutter, ihre Finger verschränkten sich ineinander und ich sah zu. Caroline machte diese Geste ganz bewusst, meine Mutter hingegen reagierte auf den Händedruck ohne groß drüber nachzudenken. Noch so etwas, das ich die ganze Zeit hatte tun wollen und irgendwie nicht hingekriegt hatte: die Hand ausstrecken, meine Mutter berühren, in Verbindung mit ihr treten. Letztlich hatte ich mich nicht getraut. Doch bei Caroline sah es ganz einfach aus.
»Bei so einer Renovierung gibt es viel zu bedenken«, sagte meine Mutter.
»Schon klar«, antwortete meine Schwester in ihrer direkten, offenen Art; sie hatte schon immer gesagt, was sie dachte. »Das weiß ich auch. Aber ich liebe dich und ich helfe dir. Okay?«
Meine Mutter blinzelte. Blinzelte gleich noch einmal. Seit mehr als einem Jahr war sie den Tränen nicht mehr so nah gewesen.
»Caroline«, sagte ich, weil ich das Gefühl hatte, ich müsste, irgendwer müsste etwas sagen.
»Alles in Ordnung«, meinte sie im Brustton der Überzeugung. Als zweifelte sie keine Sekunde daran, dass wirklich alles in Ordnung wäre. Und auch darum beneidete ich sie. »Alles wird gut.«
Obwohl ich meine Linguine mit Pesto in Weltrekordtempo runterschlang und die zwei Blocks zur Bibliothek zurückrannte, war es zwanzig nach eins, als ich keuchend wieder bei der Arbeit auftauchte. Amanda verschränkte die Arme über der Brust und betrachtete mich mit zu Schlitzen verengten Augen, während ich hinter die Infotheke trat und mich um ihren sowie Bethanys Thronsessel rumquetschte, um zu dem mickrigen Eckchen zu gelangen, das sie mir gnädigerweise zugewiesen hatten.
»Die Mittagspause endet um eins.« Amanda betonte jede einzelne Silbe, als läge meine Verspätung an einem grundsätzlichen Mangel an Intelligenz. Ein fast unmerkliches Lächeln huschte über Bethanys Gesicht; sie hob zwar rasch die Hand vor den Mund, doch gesehen hatte ich es trotzdem.
»Ich weiß, tut mir Leid«, antwortete ich. »Es ging nicht anders.«
»Alles geht anders«, erwiderte Amanda schnippisch und wandte sich wieder ihrem PC zu. Ich setzte mich. Und merkte, wie mein Gesicht feuerrot wurde, rot und glühend heiß. Wie wenn einem etwas ultrapeinlich ist oder man sich für etwas schämt.
Und plötzlich, mit etwa anderthalbjähriger Verspätung, überkam es mich. Wie eine Erleuchtung. Nämlich dass ich niemals perfekt sein würde. Denn was hatten meine Anstrengungen, perfekt zu werden, mir letztlich gebracht? Einen Freund, der mich in dem Moment zurückstieß, da meine Fassade bröckelte und ich den Fehler machte, mich wie ein Mensch zu verhalten. Gute Zensuren, die für Besserwisserinnen wie Amanda und Bethany dennoch nie gut genug sein würden. Ein ruhiges, stilles Leben ohne Gefahren, aber auch ohne Spaß, sowie jede Menge schlaflose Nächte, in denen ich mit schwerem Herzen und schweren Gedanken wach lag und Unausgesprochenes in mir vergrub. Unausgesprochenes, das meine Schwester offen aussprach und dadurch Kraft bekam.
Doch dieses mein bisheriges Leben löste sich allmählich auf, verflüchtigte sich. Und obwohl ich noch nicht wusste, wodurch ich wieder glücklich werden würde, obwohl ich den Weg noch nicht kannte, der mich zu einem anderen, einem neuen Ich bringen würde, obwohl ich noch keine Ahnung hatte, wie ich wieder ein ganzer, ein glücklicher Mensch werden konnte – eines dämmerte mir: Hier, in der Bibliothek, würde ich das alles nicht finden. Endlich wurde mir das klar.
Und deshalb . . . ein paar Tage später . . .
Ich hatte am Nachmittag für Delia gearbeitet, bei einem Verlobungsempfang für die Freundinnen und weiblichen Verwandten der Braut (in einer Blockhütte, man höre und staune, alles auf Holz gestylt). Auch die übliche Katastrophe war natürlich nicht ausgeblieben, denn der Sodawasserautomat explodierte, und zwar ausgerechnet in dem Augenblick, als man zur Begrüßung anstieß. Ich hatte also gerade einen weiteren ganz normalen Tag mit Wish Catering überlebt, der sich im Prinzip nicht von all den anderen Tagen davor unterschied. Bis zu diesem Augenblick.
»Na, Macy«, leitete Kristy unseren üblichen kleinen Dialog ein, wobei sie einen Fleck von ihrem schwarzen Fransenrock wischte.
»Kommst du noch mit?«
Wie schon gesagt, sie fragte mich das jedes Mal. Ich konnte mich darauf verlassen, es war schon genauso zur Routine geworden wie alles andere in meinem anderen Leben, meinem Leben außerhalb von Wish Catering, einem Leben voller Stundenpläne und geregelter Abläufe, pünktlich wie die Kirchturmuhr. Kristy kannte ihre Rolle bei diesem Dialog und ich meine. Doch dieses Mal hielt ich mich nicht an den Text, sondern wagte etwas und improvisierte.
»Ja«, antwortete ich. »Gern.«
»Cool.« Erfreut lächelnd schlang sie den Riemen ihrer Handtasche über ihre Schulter. Sie wirkte nicht einmal besonders überrascht – was mich wiederum leicht irritierte. Als hätte sie gewusst, dass ich meine Meinung irgendwann ändern und auf ihren Vorschlag eingehen würde. »Na, dann mal los. Auf geht’s.«