Kapitel 2

Meine Mutter hatte mich gerufen (»Macy, die Gäste trudeln ein«), und zwar schon zweimal (»Macy? Liebes, wo bleibst du denn?«), doch ich stand immer noch vor dem Spiegel und zog mir den Scheitel nach, mal rechts, mal links und wieder zurück. Wie oft ich mit meinem Kamm auch loslegte – die Frisur wollte und wollte nicht sitzen.

Früher war mir egal gewesen, wie ich aussah. Ich meine, prinzipiell wusste ich ja, wie ich aussah: etwas klein für mein Alter, rundes Gesicht, braune Augen, um die Nase Sommersprossen, die früher mal ziemlich markant gewesen waren, doch jetzt musste man schon dicht rangehen, um sie überhaupt zu sehen. Meine blonden Haare wurden im Sommer heller oder – sofern ich zu oft schwimmen ging – leicht grünstichig, was mir nichts ausmachte, weil ich ein absoluter Sportfanatiker gewesen war, praktisch meine gesamte Freizeit auf dem Sportplatz verbracht hatte und zu den Mädchen gehörte, für die das Wort Frisur gleichbedeutend ist mit »immer ein Haargummi ums Handgelenk tragen«. Mein Körper oder wie ich aussah, war mir wie gesagt egal; für mich zählte, was mein Körper tun oder wie schnell er sein konnte. Doch seit ich beschlossen hatte die Perfekte zu mimen, gehörte es für mich dazu, auf mein Äußeres zu achten. Das war wichtig für mein neues Image als Ruhige, Besonnene, Vernünftige. Auftreten und Aussehen mussten schließlich zur Rolle passen.

Was allerdings Arbeit machte. Die Frisur musste perfekt sitzen, und wenn meine Haut sich weigerte mitzuspielen, benutzte ich Abdeckstift und sparsames Make-up gegen dunkle Augenränder und rote Flecken. Ich konnte bis zu einer halben Stunde allein damit zubringen, Lidschatten aufzutragen und meine Wimpern mit der Wimpernzange zu bearbeiten, bis sie sich überall gleichmäßig nach oben bogen. Und wenn ich anschließend mit dem Bürstchen darüberfuhr, um die dickflüssige, dunkle Wimperntusche zu verteilen, und dabei sorgfältig darauf achtete, dass die feinen Härchen nicht zusammenklebten, verging leicht noch eine halbe Stunde. Ich bürstete, striegelte, kämmte, salbte, tupfte. Hielt mich gerade und aufrecht. Alles war in schönster Ordnung. Klar geht’s mir gut, was sonst?

»Macy?« Die energisch muntere Stimme meiner Mutter, die anscheinend am Fuß der Treppe stand, schwebte aus dem unteren Stockwerk zu mir hoch. Ich trat einen Schritt vom Spiegel zurück, strich ein letztes Mal mit dem Kamm über die Kopfmitte und machte eine gekonnte, schwungvolle Kopfbewegung, damit meine Haare rechts und links vom Scheitel herunterfielen. Endlich perfekt. Und gerade noch rechtzeitig.

Als ich nach unten kam, stand meine Mutter an der Haustür und begrüßte ein Ehepaar, das gerade hereingekommen war. Sie hatte ihr Verkaufslächeln aufgesetzt: selbstbewusst, aber nicht auftrumpfend, herzlich, aber nicht anbiedernd. Meine Mutter legte ebenso großen Wert auf ihr Äußeres wie ich. Davon hing ab, ob man überlebte oder unterging, im Immobiliengeschäft genauso wie auf der Highschool.

Als sie meine Schritte auf der Treppe hörte, wandte sie sich zu mir um. »Da bist du ja. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«

»Frisurprobleme«, sagte ich. Ein weiteres Paar kam gerade die Stufen zur Haustür hoch. »Was soll ich tun?«

Meine Mutter warf einen Blick Richtung Wohnzimmer, wo sich bereits ein paar Leute vor den Plakaten mit Ansichten der neuen Wohnanlage versammelt hatten. Immer wenn meine Mutter Kaufverträge unter Dach und Fach bringen musste, gab sie solche Cocktailpartys; sie wollte die Leute davon überzeugen, dass sie die Richtige war, die das Traumhaus bauen und gestalten konnte. Und die beste Methode, um das zu erreichen, bestand ihrer Ansicht nach darin, ihr eigenes Haus vorzuführen und ein bisschen damit anzugeben. Tatsächlich war das ein guter Verkaufstrick, auch wenn es bedeutete, dass häufig wildfremde Menschen durch unser Haus stiefelten, zumindest im unteren Stockwerk.

»Kannst du bitte nachschauen, ob der Caterer alles hat, was er braucht?«, sagte sie. »Das wäre nett. Und falls du den Eindruck hast, uns gehen die Broschüren aus, hole doch bitte noch einen Karton aus der Garage.« Sie unterbrach sich für einen Moment, um ein Paar anzulächeln, das gerade den breiten Flur durchquerte. »Ach ja, und wenn irgendwer so aussieht, als würde er die Toilette suchen . . .«

». . . zeige ich ihm, wo sie ist, und zwar so freundlich und unauffällig wie möglich«, ergänzte ich ihren Satz. Diskrete Toilettenwegbeschreibungen waren meine Spezialität.

»Danke, lieb von dir«, meinte sie. Eine Frau in Sweatshirt und Sweatpants näherte sich über den Gartenweg. »Willkommen!«, rief meine Mutter und hielt die Haustür weit offen. »Mein Name ist Deborah Queen. Bitte kommen Sie herein, ich freue mich, dass Sie es einrichten konnten, vorbeizukommen.«

Natürlich hatte meine Mutter die Dame noch nie zuvor gesehen. Doch auch das gehörte zur Verkaufsstrategie: jeden so zu behandeln, als würde man sie oder ihn kennen.

»Ich liebe diese Gegend.« Die Frau trat ins Haus. »Und als ich sah, dass Sie in der Nähe ein paar neue Häuser bauen lassen, dachte ich, ich –«

»Darf ich Ihnen einen Grundriss zeigen? Ist Ihnen schon aufgefallen, dass zu jeder Wohneinheit zwei Garagen gehören? Viele Menschen machen sich überhaupt nicht bewusst, was für einen gewaltigen Unterschied eine beheizbare Garage bedeutet.«

Und mit diesen Worten hob meine Mutter ab. Jetzt war sie nicht mehr aufzuhalten. Schwer zu glauben, dass sie sich vor diesem liebenswürdigen Geplaudere mal gefürchtet hatte wie vor einer Wurzelbehandlung. Aber wenn man etwas tun musste, tat man es eben. Und wenn man Glück hatte, machte man es sogar gut.

Als meine Eltern sich kennen lernten, war mein Vater mit seiner Immobilienfirma, Queen Homes, schon ziemlich erfolgreich; dabei hatte er (gleich nach dem College) zunächst einmal als Einmannbetrieb angefangen und Teppichböden verlegt. Meine Mutter stellte er ein, als sie auch gerade frisch vom College kam. Sie hatte ihren Abschluss als Finanzbuchhalterin gemacht – der Bereich, in dem bei ihm totales Chaos herrschte. Bis sie auftauchte. Sie wühlte sich durch Rechnungen, Quittungen und anderen Papierkram (vieles existierte nur auf Servietten oder Streichholzbriefchen), löste eine brenzlige Situation mit dem Finanzamt (ein paar Jahre vorher hatte er mal »vergessen« seine Steuern zu bezahlen) und sorgte dafür, dass er wieder schwarze Zahlen schrieb. Zwischendurch und mittendrin verliebten sie sich ineinander. Als Geschäftspartner waren sie das perfekte Team. Er: charmant, witzig, beliebt, ein Kumpel, mit dem man Pferde stehlen und Bier trinken konnte. Sie: vollkommen zufrieden damit, im Hintergrund Akten zu ordnen und den Gesamtüberblick zu behalten. Zusammen waren sie nicht mehr zu bremsen.

Das Viertel, in dem wir wohnen – Wildflower Ridge –, entstand aus einer Vision meiner Mutter heraus. Meine Eltern hatten vorher zwar durchaus schon Erfahrung als Bauunternehmer gesammelt, in Neubaugebieten ganze Straßenzüge geplant oder Reihenhäuser auf eigene Rechnung gebaut, bevor sie konkrete Käufer hatten. Doch Wildflower Ridge war viel umfassender, denn es beinhaltete die Planung eines ganzen Wohnviertels mit Reihenhäusern, Villen, Apartments, Geschäften, so dass ein in sich geschlossener, um eine Grünanlage gruppierter Komplex entstand. Rückkehr zum Wohnen in der Gemeinschaft hatte meine Mutter es genannt. Der Trend für die Zukunft.

Erst stieg mein Vater überhaupt nicht auf die Idee ein. Aber er wurde älter, sein Körper machte nicht mehr so mit, wie er wollte. Beim Wildflower-Ridge-Projekt konnte er Verantwortung übernehmen, sich zurücklehnen und andere den Hammer schwingen lassen. Deshalb sagte er schließlich Ja. Zwei Monate später wurde das Grundstück für das erste Haus planiert: unseres.

Meine Eltern arbeiteten Hand in Hand und ergänzten sich dabei großartig. Wenn sie sich mit potenziellen Kunden im Musterhaus trafen, zog zunächst mein Vater seine Show ab. So legte er den Grundstein für die künftige Geschäftsbeziehung, wobei er Auftreten und Gesprächsstil den jeweiligen Leuten anpasste: Nordlichter umgarnte er mit seinem Südstaaten-Charme, mit Leuten aus der näheren Umgebung redete er über die Kunst des Grillens und Autorennen. Mein Vater strahlte immer aus, dass er wusste, wovon er sprach; er wirkte kompetent, verlässlich, vertrauenswürdig. Dieser Mann baut mein zukünftiges Eigenheim – das wollte jeder. Und nicht nur das: So einen Pfundskerl wünscht man sich als besten Freund, verdammt noch mal. Wenn der erste Widerstand gebrochen und das Unternehmen Hausverkauf ein gutes Stück weit auf den Weg gebracht worden war, schlug die Stunde meiner Mutter, die sich ums Organisatorische und Technische kümmerte. Mit ihr besprach man vertragliche Einzelheiten, Details der Planung, Preise. Die Häuser gingen weg wie warme Semmeln. Das Projekt war ein durchschlagender Erfolg, genau wie meine Mutter prophezeit hatte. Bis plötzlich alles vorbei war.

Ich wusste, dass sie sich die Schuld an seinem Tod gab, weil sie glaubte, alles wäre anders gekommen, wenn sie ihn nicht so dazu gedrängt hätte, die Firma zu vergrößern. Sie fürchtete, der Stress, die Belastung, alles, was mit der rasanten Entwicklung von Wildflower Ridge zu tun hatte, wären für sein Herz zu viel gewesen. Dies war etwas, das uns verband, unser Geheimnis, über das wir jedoch nie offen sprachen: Ich hätte bei ihm sein, sie hingegen ihn in Ruhe lassen sollen. Hätte, wäre, würde, wenn. Im Nachhinein ist alles einfacher.

Aber im Hier und Jetzt hatten meine Mutter und ich gar keine andere Wahl als nach vorn zu schauen. Wir arbeiteten beide hart, ich in der Schule, sie in Konkurrenz zu anderen Bauunternehmern. Unsere Frisuren saßen immer perfekt, wir hielten uns gerade und aufrecht und schenkten Gästen, schenkten der ganzen Welt unser reizendstes Lächeln. Und übten, jede für sich, dieses Lächeln vor dem Spiegel ein, vor den vielen Spiegeln in unserem totenstillen Traumhaus, das viel zu groß geworden war für uns beide. Doch unter der Oberfläche verharrte die Trauer. Manchmal zog meine Mutter sich etwas mehr davon an, manchmal ich. Auf jeden Fall war die Trauer immer gegenwärtig.

 

Ich hatte gerade eine empörte Frau mit Rotweinfleck auf der Bluse Richtung Bad bugsiert – anscheinend hatte einer der Kellner sie versehentlich angerempelt und mit ihrem eigenen Cabernet begossen –, als mir auffiel, dass der Stapel Broschüren auf dem Wohnzimmertisch verdächtig niedrig aussah. Dankbar für jede Ausrede, mich aus dem Trubel zurückzuziehen, verließ ich das Haus.

Ging den Gartenweg hinunter und am Lieferwagen des Catering-Unternehmens vorbei die Auffahrt entlang. Die Sonne war gerade untergegangen; hinter den Bäumen zwischen unserem Haus und dem Apartmentkomplex auf der anderen Seite des Grundstückes leuchtete rosa und orange der Abendhimmel. Die Sommerferien hatten gerade erst angefangen. Sommerferien . . . früher hieß das mal: Lauftraining in der Früh, endlose Nachmittage im Schwimmbad, wo ich Salto rückwärts übte, bis ich ihn perfekt beherrschte. Doch in diesen Sommerferien würde ich arbeiten.

Jason hatte am Informationsschalter der Bibliothek gejobbt, seit er fünfzehn war, und sich in dieser Zeit einen Ruf als »der Junge, der alles weiß« erworben. Die Leute, die zur Ausleihe kamen, hatten sich daran gewöhnt, dass er einfach alles konnte. Egal ob es um ein seltenes, fast unbekanntes Buch über Katharina die Große ging oder der Büchereicomputer abstürzte – Jason stöberte das Buch auf und machte den PC wieder flott. Die Kunden liebten ihn aus dem gleichen Grund wie ich: Er kannte auf jede Frage eine Antwort. Außerdem schwärmten ziemlich viele Mädchen für ihn, vor allem seine beiden Kolleginnen, zwei Intelligenzbestien. Dass ich Jasons Freundin war, hatten sie mir von Anfang an verübelt, da sie fanden, ich könnte ihnen intellektuell nicht das Wasser reichen, geschweige denn ihm. Mir schwante, dass sie nicht eben begeistert davon sein würden, wenn ausgerechnet ich Jason vertrat. Und ich sollte Recht behalten.

Schon bei der Einarbeitung hörten sie gar nicht mehr auf, mit den Augen zu rollen und auffällig unauffällig rumzutuscheln, während Jason mich in die Feinheiten des Ausleihsystems einweihte oder mir den Karteikartenkatalog erklärte. Jason fiel ihr Verhalten allerdings gar nicht weiter auf; als ich ihn darauf ansprach, reagierte er, als würde ich seine Zeit verschwenden. Mach dir deshalb keine Gedanken, meinte er ungeduldig, fast gereizt, und wo das Problem sei? Ein Problem wäre, bei einem Systemabsturz nicht zu wissen, wie man sich zur Not möglichst schnell Zugang zum elektronischen Gesamtverzeichnis der Landesbibliotheken verschaffen könnte, um nicht völlig im Dunkeln zu tappen.

Jason hatte natürlich Recht. Er hatte immer Recht. Trotzdem freute ich mich nicht auf den Job.

Ich betrat die Garage, ging zu den Regalen, wo meine Mutter Arbeitsmaterialien aufbewahrte, und räumte ein paar Schilder (ZU VERKAUFEN und JETZT ZUR BESICHTIGUNG GEÖFFNET) beiseite, um an den Karton mit den Broschüren zu gelangen. Die Haustür stand offen, die Partygeräusche drangen bis zu mir herüber: Stimmen, Gelächter, Gläserklirren. Ich schnappte mir den Karton, schaltete das Deckenlicht aus und machte mich auf den Rückweg zu meinem Partyaushilfs- und Toilettensuchdienst.

Als ich an den Mülleimern vorbeilief, sprang plötzlich jemand hinter den Büschen hervor.

»Buh!«

Ich stieß einen Schrei aus und ließ den Karton fallen; dumpf prallte er auf dem Boden auf, Broschüren flatterten über die Auffahrt. Auch wenn manche vielleicht das Gegenteil behaupten – wenn einen jemand erschrecken will, erschrickt man, auf so eine Attacke kann man sich nicht einstellen. Mir blieb jedenfalls buchstäblich die Luft weg: Ich keuchte.

Einen Augenblick lang war es sehr still. Auf der Straße fuhr ein Auto vorüber.

»Bert?« Die Stimme kam vom anderen Ende der Auffahrt, da, wo der Lieferwagen des Catering-Unternehmens stand. »Was machst du da eigentlich?«

Ein Rascheln im Gebüsch neben mir. Aus dem eine zögernde – und nun wesentlich leisere – Stimme drang: »Ich . . . äh, ich erschrecke dich . . . nicht?«

Schritte näherten sich. Ein Typ in weißem Hemd und schwarzer Hose kam die Auffahrt entlang auf mich zu; er hatte eine große Servierplatte unter den Arm geklemmt und blinzelte, um mich im Halbdunkel besser erkennen zu können.

»Nein, nicht mich«, meinte er. Da er inzwischen unmittelbar vor mir stand, konnte ich meinerseits erkennen, dass er groß war und braunes, einen Tick zu langes Haar hatte. Außerdem sah er mit seinen ausgeprägten Wangenknochen und regelmäßigen Gesichtszügen verdammt gut aus; wer so aussah, der fiel einem einfach auf, selbst wenn man fest liiert war. Jetzt wandte er sich an mich: »Alles in Ordnung?«

Ich nickte. Mein Herz schlug mir noch bis zum Hals, aber den ersten Schreck hatte ich überwunden.

Für einen Moment spähte er aufmerksam ins Blätterdickicht, dann streckte er die Hand aus, griff zwischen die Zweige und zerrte einen zweiten Typen aus dem Gebüsch, der ähnlich dunkle Haare und Augen hatte sowie identisch gekleidet war, aber kleiner, stämmiger und jünger als er.

»Bert«, sagte der Ältere der beiden und ließ seufzend los. »Echt!«

»Ich weiß, aber . . .«, meinte besagter Bert und fuhr, an mich gewandt, mit Grabesstimme fort: »Ich liege einfach zu weit hinten, sorry. Es ist eine Katastrophe.«

»Würdest du dich jetzt bitte entschuldigen?«, sagte der Ältere.

»Tut mir Leid.« Bert zupfte sich ein paar Buchsbaumblättchen aus den Haaren. »Ich dachte, du wärst jemand anders.«

»Schon okay«, antwortete ich.

Der Ältere stieß ihn an und deutete mit dem Kopf auf die Broschüren.

»Ach so, ja, klar.« Bert ging in die Hocke und fing an, die Broschüren aufzuklauben. Der andere ging ein Stück die Auffahrt runter und hob die auf, die weiter weg gelandet waren.

»Dabei war’s perfekt«, murmelte Bert, während ich mich neben ihn hockte, um ihm zu helfen. »Diesmal hätte ich ihn erwischt, aber so was von.«

Das Licht über der Küchentür ging an. Plötzlich wurde es hell, sehr hell, und die Tür öffnete sich mit Schwung.

»Was ist hier draußen eigentlich los?«

Ich drehte mich um. Auf der obersten Stufe stand eine schwangere Frau mit roter Schürze und schwarzen, hochgesteckten Locken. Ungeduldig und neugierig zugleich blinzelte sie in die Dunkelheit hinaus. »Wo bleibt die Servierplatte, um die ich gebeten habe?«

»Kommt sofort.« Der Ältere von den beiden kam über die Auffahrt zurück. Auf der Servierplatte lag ein ordentlicher Stapel Broschüren, die er mir überreichte.

»Danke«, sagte ich.

»Kein Thema.« Er lief die Stufen zur Küchentür hoch, wobei er zwei auf einmal nahm, und gab der Frau die Servierplatte. Bert kroch gerade halb unter unserer Veranda herum, um die Broschüren aufzusammeln, die sich dorthin verirrt hatten.

»Gut«, sagte die Frau. »Gehst du jetzt bitte an die Bar zurück, Wes? Je mehr die Leute trinken, umso weniger fällt ihnen auf, wie lang es dauert, bis sie endlich zu essen bekommen.«

»Ist gebongt.« Wes verschwand an ihr vorbei in der Küche.

Die Frau strich sich mit der Hand über den Bauch und schien mit ihren Gedanken für einen Moment ganz woanders zu sein, doch dann blickte sie erneut in die Dunkelheit hinaus. »Bert?«, rief sie. »Wo –«

»Hier«, antwortete Bert von unterhalb der Veranda.

Sie sah sich suchend um, beugte sich übers Geländer. »Kriechst du da etwa unten auf der Erde herum?«

»Ja.«

»Und was machst du da?«

»Nichts«, murmelte Bert.

»Wenn du damit fertig bist«, meinte die Frau, »wäre es ganz reizend von dir, wenn du dein ebenso reizendes Popöchen endlich wieder reinbewegen würdest. Die Krabbenpastetchen müssen nur noch kurz abkühlen, dann sind sie dein. Zum Servieren natürlich.«

»Ich komme sofort.«

Die Frau ging wieder hinein. Eine Sekunde später hörte ich sie irgendwas von Minibaguettes brüllen. Bert krabbelte unter der Veranda hervor und stapelte die Broschüren in seiner Hand aufeinander, bevor er sie mir reichte.

»Tut mir echt Leid«, meinte er. »Wir haben da dieses Ding am Laufen, sozusagen ein Erschreck-Wettbewerb.«

»Ist wirklich okay«, antwortete ich. Er klaubte sich noch einen kleinen Zweig aus den Haaren. »War’n dummer Zufall.«

Er blickte mich ernst an. »Es gibt keine Zufälle.«

Zunächst erwiderte ich seinen Blick. Aus seinem runden Gesicht ragte eine breite Nase hervor und sein dichtes, sehr kurzes Haar wirkte ziemlich selbst geschnitten. Allerdings sah er mich so eindringlich an – als wollte er absolut sichergehen, dass ich auch verstand, was er gesagt hatte –, dass ich seinem Blick irgendwann auswich. Aber erst nach ein paar Sekunden.

»Bert!«, brüllte die Frau aus der Küche. »Krabbenpastetchen!«

»Ja!«, rief er zurück. Der Moment war vorbei. Rasch lief er die Stufen hoch, drehte sich oben jedoch noch einmal um. Sah mich an. »Trotzdem tut’s mir Leid«, sagte er. Sprach die Worte aus, die ich in den letzten anderthalb Jahren so oft gehört hatte, dass sie kaum noch etwas bedeuteten. Wobei ich das komische Gefühl hatte, er meinte sie wirklich ernst.

 

Als ich wieder ins Haus kam, diskutierte meine Mutter gerade mit ein paar Handwerkern über die neuesten Bauvorschriften und war völlig ins Gespräch vertieft. Ich legte Broschüren aus, wo welche fehlten, bugsierte einen Mann, der schon leicht schwankte und trotzdem ein Glas Wein – vermutlich das Glas zu viel – in der Hand hielt, in Richtung Toilette und schaute mich gerade nach leeren Gläsern zum Wegräumen um, als aus der Küche lautes Krachen und Scheppern ertönte.

Augenblicklich kam alles zum Stillstand. Gespräche. Bewegung. Sogar die Luft. Zumindest fühlte es sich so an.

»Alles in Ordnung!«, ertönte eine muntere, freundliche Stimme von der anderen Seite der Tür her. »Bitte lassen Sie sich nicht stören!«

Die Leute wirkten im ersten Moment zwar etwas verblüfft, doch allmählich kam die Party wieder in Gang. Meine Mutter lächelte sich einmal quer durch den Raum, bis sie neben mir stand. Dann legte sie ihre Hand auf meinen Rücken und schob mich sanft Richtung Flur.

»Eine Kundin wurde mit Wein bekleckert, es gibt nicht genügend Vorspeisen und jetzt dieser Lärm«, sagte sie beherrscht. »Ich bin nicht glücklich damit, wie es läuft. Könntest du das der Dame vom Catering-Service bitte ausrichten?«

»Mach ich.«

Kaum war ich durch die Küchentür, trat ich auf etwas Nasses, Weiches, das von meinem Schuh zerquetscht wurde. Fast zeitgleich fiel mir auf, dass der Boden mit kleinen, runden Dingern übersät war. Einige rollten noch langsam auf alle vier Ecken des Raums zu, andere lagen bereits still. Neben der Spüle stand ein kleines Mädchen mit Zöpfen, zwei oder vielleicht auch drei Jahre alt; mit großen Augen und den Fingern im Mund sah sie zu, wie einige der murmelartigen Teile an ihr vorbeikullerten.

»Tja.« Die Schwangere stand neben dem Ofen, hielt ein leeres Backblech in der Hand und seufzte. »Ich schätze, das war’s zum Thema Fleischklopse.«

Ich hob den Fuß, um nachzuschauen, ob ich tatsächlich auf einen Fleischklops getreten war, und ging dabei gerade noch rechtzeitig zur Seite, sonst hätte ich die Tür ins Kreuz bekommen. Sie wurde nämlich im selben Augenblick mit Wucht aufgestoßen. Bert – mittlerweile unbelaubt und auch sonst wieder in halbwegs anständiger Verfassung – stürmte herein; er trug ein mit zerknüllten Servietten und leeren Gläsern beladenes Tablett. »Delia, wir brauchen mehr Krabbenpastetchen«, verkündete er.

»Und ich brauche ein Beruhigungsmittel«, antwortete die Schwangere und reckte sich erschöpft. »Aber man kann im Leben nicht alles haben. Reich die Käsetörtchen rum und sag den Gästen, dass die Krabbenpastetchen gerade wieder angerichtet würden.«

»Ach wirklich?« Als Bert an dem kleinen Mädchen vorbeilief, streckte sie mit einem breiten Lächeln ihre Sabberfingerchen nach ihm aus. Doch er wich gekonnt aus, steuerte stattdessen die Küchentheke an. Das kleine Mädchen ließ sich enttäuscht auf den Hosenboden plumpsen und fing prompt an zu brüllen.

»Ja, zumindest theoretisch.« Delia durchquerte in Windeseile die Küche. »Ich meinte das eher im Futur.«

»Krabbenpastetchen im Futur? Wie geht denn so was?«, erkundigte sich Bert.

»Nimm die Käsetörtchen und verschwinde.« Sie nahm das kleine Mädchen auf den Arm. »Lucy, Schätzchen, flipp nicht aus, ja, warte einfach noch eine Stunde, bittebittebitte, sei so lieb, okay?« Sie warf einen Blick auf ihren Schuh. »Mist, ich bin auf einen Fleischklops getreten. Wo steckt eigentlich Monica?«

»Hier.« Eine Stimme von draußen.

Delia verzog entnervt das Gesicht. »Mach die Zigarette aus und komm sofort wieder rein. Such dir einen Besen, schaff mir diese Fleischklopse aus den Augen . . . wir müssen unbedingt noch mehr Käsetörtchen in den Backofen schieben und Bert braucht . . . was brauchtest du noch mal?«

»Krabbenpastetchen«, erwiderte er. »Im Futur. Und Wes braucht Eis.«

»Im Ofen, muss jeden Augenblick fertig sein.« Während sie, Kind auf der Hüfte, zum Besenschrank lief, warf sie ihm einen vernichtenden Blick zu. Öffnete den Schrank, wühlte kurz drin rum, zog ein Kehrblech raus. »Die Krabbenpastetchen, nicht das Eis. Bitte, Lucy, keinen Rotz auf Mama schmieren . . . das Eis ist . . . Shit, keine Ahnung, wo das Eis ist? Monica, wo haben wir die Eisbeutel hingeräumt, die wir mitgebracht haben?«

»Kühlbox«, sagte das Mädchen – groß, lange honigblonde Haare –, das offenbar Monica hieß und gerade in die Küche trat. Sie ließ die Tür hinter sich zukrachen, latschte träge zum Ofen rüber, öffnete zentimeterweise die Klappe, warf einen Blick hinein, schloss die Klappe wieder und steuerte nun die Küchentheke an – alles in Zeitlupe. »Fertig«, verkündete sie.

»Dann nimm sie bitte raus und lege sie auf ein Tablett«, sagte Delia gereizt und setzte die Kleine auf ihre andere Hüfte. Während sie anfing die Fleischklopse mit dem Kehrblech aufzusammeln, bewegte Monica sich wieder Richtung Ofen, wobei sie unterwegs eine halbe Ewigkeit stehen blieb, um sich einen Topflappen vom Haken zu angeln.

»Ich warte bloß schnell auf die Krabbenpastetchen«, meinte Bert. »Es dauert sicher nur –«

Delia richtete sich auf und funkelte ihn an. Für einen Moment war es totenstill. Auch wenn sich jetzt diese Unterbrechung im Dialog angeboten hätte, um einzuhaken, hielt ich trotzdem vorsichtshalber den Mund und kratzte stattdessen Fleischklopsmatsch von meinem Schuh.

»Raus mit dir, Monica«, befahl Delia. Monica schlurfte gerade mit einem Blech voll dampfender Krabbenpastetchen zur Küchentheke. Delia stellte die Kehrschaufel ab, schnappte sich einen Pfannenwender und begann in Windeseile, die Krabbenpastetchen auf eine Servierplatte zu legen – alles einhändig. »Auf der Stelle.«

»Aber –«

»Ich weiß selbst, was ich vorhin gesagt habe«, unterbrach Delia und knallte einen Stapel Cocktailservietten auf den Rand der Platte. »Aber dies ist ein Notfall, deswegen bleibt mir gar nichts anderes übrig als dich wider besseres Wissen noch einmal servieren zu lassen. Geh langsam, achte darauf, wo du hintrittst, und sei vorsichtig mit allem, was flüssig ist, bittebittebitte, sei so lieb, okay?«

Delia erteilte ihre Anweisungen vermutlich deshalb so besonders ausführlich und präzise und bekräftigte das Ganze durch ein Bittebittebitte-sei-so-lieb-okay-Mantra, weil sie vermutlich hoffte, dass auf diese Weise wenigstens etwas von ihren Instruktionen hängen bleiben würde.

»Okay.« Monica strich sich eine Strähne hinters Ohr, nahm die Servierplatte, balancierte sie auf einer Hand und marschierte los, alles in totaler Zeitlupe. Delia blickte ihr einen Augenblick lang kopfschüttelnd nach, bevor sie sich erneut den Fleischklopsen zuwandte; sie schob die paar, die noch auf dem Boden rumflogen, aufs Kehrblech und beförderte die ganze Bescherung in den Mülleimer. Ihre Tochter schniefte immer noch unterdrückt vor sich hin. Delia sprach leise und beruhigend auf sie ein, während sie nun zu dem hohen Servierwagen ging, der neben der Hintertür stand, und ein mit Folie bedecktes, großes Tablett herauszog, das sie auf ihrem Rückweg durch die Küche etwas mühsam auf ihrer freien Hand balancierte. Vor lauter Anstrengung und Konzentration ging sie nicht mehr normal, sondern fing leicht an zu watscheln. Ich hatte in meinem Leben noch keinen Menschen gesehen, der so dringend Hilfe brauchte.

»Was noch, was noch?« Endlich erreichte sie die Küchentheke und ließ das Tablett von ihrer Hand auf die Oberfläche gleiten. »Was fehlt noch?« Schloss die Augen, presste die Hand gegen die Stirn.

»Eis«, sagte ich. Sie wandte sich um, sah mich an.

»Eis«, wiederholte sie lächelnd. »Danke. Und du bist . . .?« »Macy. Ich wohne hier. Meine Mutter ist die Gastgeberin.«

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Anscheinend ahnte sie, was ich als Nächstes sagen würde.

Ich holte tief Luft. »Sie hat mich gebeten nachzuschauen, ob alles in Ordnung ist. Und Ihnen zu sagen, dass sie –«

»Stinksauer ist«, ergänzte sie verstehend.

»Stinksauer würde ich nicht unbedingt sagen, aber –«

Von nebenan ertönte ein lautes Klirren und dann: Stille. Das kleine Mädchen fing wieder an zu brüllen. Delia warf einen Blick Richtung Tür.

»Und jetzt?«, meinte sie.

»Tja . . . schon«, sagte ich. »Jetzt ist sie vermutlich stinksauer.« Was vermutlich stark untertrieben war.

Delia vergrub das Gesicht in den Händen. »Das Ganze ist eine einzige Katastrophe.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wurde schon beim Zuschauen nervös, geschweige denn bei der Vorstellung, für »das Ganze« verantwortlich zu sein.

»In gewisser Hinsicht ist es gut«, sagte sie, nachdem wir beide einen Moment geschwiegen hatten. »Immerhin wissen wir jetzt, woran wir sind. Das heißt, von nun an kann’s nur noch bergauf gehen, nicht wahr?«

Ich antwortete nicht – vermutlich keine sehr ermutigende Reaktion. Mit einem fröhlichen Pling! meldete sich die Backofenuhr. »Okay«, sagte Delia plötzlich, als wäre das ein Startsignal gewesen. »Macy, ich würde dich gern etwas fragen.«

»Was denn?«

»Kannst du mit einem Pfannenwender umgehen?«

»Ja, so einigermaßen, denke ich«, antwortete ich überrumpelt.

»Super«, sagte sie. »Kommst du bitte mal zu mir?«

 

Eine Viertelstunde später hatte ich den Dreh raus. Es war wie Plätzchenbacken im Zeitraffer: Backpapier auf Backblech, Käsetörtchen/Krabbenpastetchen in ordentlichen Reihen drauflegen, in den Ofen stellen, anderes Backblech aus dem Ofen holen, Käsetörtchen/Krabbenpastetchen auf Servierplatte legen, ab damit. Und das Ganze von vorn.

»Perfekt.« Delia machte das Gleiche mit überbackenen Minitoasts, und zwar doppelt so schnell wie ich. Trotzdem hatte sie noch Zeit, mich nebenher zu beobachten. »Du könntest eine glanzvolle Karriere im Catering-Geschäft machen, sofern man eine solche Karriere als glanzvoll bezeichnen kann.«

Ich lächelte in mich hinein. Faultiermädchen Monica schlurfte gerade mit einem Tablett voll benutzter Servietten in die Küche. Nachdem sie ein zweites Mal Wein durch die Gegend gekleckert hatte, sollte sie sich darauf beschränken, nur noch Nicht-Flüssiges zu tragen. Doch auch diese Regel wurde bald weiter eingeschränkt, denn sie schaffte es, vors Geländer zu laufen und dabei eine halbe Käsetörtchenplatte auf dem Hemd eines Gastes abzuladen, woraufhin Delia sie dazu verdonnerte, bloß noch Müll und leere Gläser abzuräumen. Eigentlich würde man ja vermuten, dass jemand, der sich so langsam bewegt, nicht ständig irgendwo anstößt oder Sachen verschüttet. Monica war jedoch der lebende Gegenbeweis.

»Wie läuft’s da draußen so?«, fragte Delia, wobei sie einen raschen Blick auf ihre Tochter warf; doch Lucy schlief tief und friedlich in ihrem Buggy, der neben dem Küchentisch stand. Delia hatte mich echt verblüfft. Nachdem sie unumwunden zugegeben hatte, dass der Karren hoffnungslos im Dreck steckte, hatte sie sofort mit sehr effektivem Krisenmanagement begonnen: zwei weitere Bleche mit Pastetchen und Ähnlichem in den Backofen schieben, das Eis aus der Kühlbox holen, ihre Tochter trickreich zum Schlafen bringen. Und das Ganze innerhalb von drei Minuten. Es war so ähnlich wie bei ihrem Bittebittebitte-sei-so-lieb-okay-Mantra: Sie blieb beharrlich – und auf einmal bewegte sich der Karren millimeterweise aus dem Dreck. Sehr beeindruckend.

»Gut«, antwortete Monica knapp, trottete zum Mülleimer und verharrte einen Augenblick regungslos, bevor sie anfing ihr Tablett zu leeren – einzeln, schön eine Serviette nach der anderen.

Delia verdrehte die Augen. Ich schob ein Backblech in den Ofen.

»So schlimm ist es normalerweise nicht.« Delia öffnete einen weiteren Beutel mit Käsetörtchen. »Normalerweise sind wir viel effektiver und professioneller.«

Monica schnaubte. Delia warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

»Aber mein Babysitter hat kurzfristig abgesagt«, fuhr sie fort, »eine meiner Mitarbeiterinnen hatte urplötzlich was anderes vor und von da an hat sich alles gegen mich verschworen, falls du weißt, was ich meine?«

Ich nickte. Und ob, dachte ich. Was ich sagte, war: »Ja, ich glaube schon.«

»Macy? Hier bist du!« Meine Mutter stand im Türrahmen. »Alles in Ordnung?«

Obwohl sie die Frage an mich gerichtet hatte, galt sie in Wahrheit Delia. Was diese ebenso gut wusste wie ich; das merkte ich an der Art, wie sie die Käsetörtchen ausbreitete, nämlich dreimal so schnell wie bisher. Im Hintergrund hatte Monica mittlerweile den Müll von ihrem Tablett entsorgt und schleppte sich durch die Küche, wobei das Tablett träge gegen ihr Knie klatschte.

»Alles in Ordnung«, entgegnete ich. »Habe Delia bloß nach dem Rezept für die Krabbenpastetchen gefragt.«

Meine Mutter trat etwas näher und fuhr sich dabei mit der Hand durchs Haar – ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie sich auf eine unmittelbar bevorstehende Auseinandersetzung einstellte. Ohne sie näher zu kennen, war Delia das offenbar auch klar; dennoch sah sie meiner Mutter erstaunlich gelassen entgegen, während sie sich an einem Geschirrtuch die Hände abwischte.

»Alle schwärmen vom Essen«, sagte meine Mutter, doch ihr Ton machte nur zu deutlich, dass als Nächstes ein Aber folgen würde. »Aber –«

»Mrs Queen.« Delia holte tief Luft, atmete hörbar wieder aus, legte eine Hand auf die Brust. »Bitte, Sie brauchen gar nichts weiter zu sagen.«

Mit gesenktem Kopf machte ich mich daran, ein weiteres Backblech mit Krabbenpastetchen herzurichten.

»Ich entschuldige mich in aller Form dafür, wie unorganisiert wir zu Beginn waren«, fuhr Delia fort. »Erst in letzter Minute stellte sich heraus, dass mir für heute Abend Servicepersonal fehlen würde. Was selbstverständlich keine Entschuldigung ist. Deshalb mein Vorschlag zur Güte: Sie haben ja bereits etwas angezahlt und den Rest der Rechnung vergessen wir. Dafür hoffe ich sehr, dass Sie meinen Catering-Service auch in Zukunft wieder in Anspruch nehmen oder es zumindest in Erwägung ziehen werden.«

Auf diese kleine Rede hin herrschte geschlagene fünf Sekunden lang Stille, die von Bert unterbrochen wurde, der durch die Küchentür stürmte und rief: »Mehr von den Minibrötchen, die gehen nämlich weg wie warme Semmeln.« Wobei er über seinen Kalauer von einem Ohr zum anderen grinste.

Delia lächelte ebenfalls, doch leicht verkrampft, wegen meiner Mutter. »Du brauchst nicht so zu brüllen, Bert, wir können dich auch so sehr gut hören.«

»Sorry«, meinte Bert.

»Hier.« Ich nahm ihm die leere Servierplatte aus der Hand und gab ihm eine volle, die ich soeben bestückt hatte. »Demnächst gibt’s auch wieder Krabbenpastetchen.«

»Danke.« Dann erst fiel ihm auf, mit wem er da sprach. »He, arbeitest du jetzt auch für uns?«

»Äh . . . nö.« Ich stellte die leere Platte ab. »Eigentlich nicht.« Und warf meiner Mutter einen Blick zu.

Sie hatte offensichtlich etwas Mühe mitzukommen und irgendwo zwischen Delias aufrichtiger Entschuldigung und meinem kurzen Gesprächspingpong mit Bert die Orientierung verloren. Doch nun wandte sie sich an Delia: »Danke für die Entschuldigung und für den Vorschlag wegen der Rechnung. Das erscheint mir mehr als fair. Das Essen ist tatsächlich köstlich.«

»Vielen Dank«, antwortete Delia. »Ich weiß Ihr Verständnis zu schätzen.«

Von nebenan drang in diesem Augenblick lautes Gelächter – ein fröhliches Partygeräusch. Meine Mutter wandte sich halb zur Tür um und wirkte auf einmal so erleichtert, als hätte das Gelächter ihre Befürchtungen entkräftet. »Ich gehe besser zu meinen Gästen zurück.« Auf Höhe des Kühlschranks blieb sie allerdings noch einmal kurz stehen. »Macy?«

»Ja?«

»Wenn du hier fertig bist, könnte ich deine Hilfe gut gebrauchen.«

»Ja.« Ich schnappte mir einen Topflappen und ging zum Backofen, um nach den Krabbenpastetchen zu schauen. »Bin gleich da, okay?«

»Ihre Tochter war mir übrigens eine große Hilfe«, meinte Delia. »Ich habe ihr schon gesagt, falls sie Arbeit braucht, würde ich sie vom Fleck weg engagieren.«

»Wie nett von Ihnen«, antwortete meine Mutter. »Aber Macy hat schon einen Job für die Sommerferien, in der Bibliothek.«

»Ist ja toll«, sagte Delia.

»Bloß am Infoschalter.« Ich öffnete die Backofentür. »Fragen beantworten und so.«

»Ah, ein Mensch, der alle Antworten kennt«, lautete Delias Kommentar.

»Macy ist eben ein intelligentes Mädchen.« Meine Mutter lächelte.

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte – was soll man zu so etwas auch sagen? –, deshalb streckte ich die Hand nach den Krabbenpastetchen aus und konzentrierte mich auf das, was ich tat. Meine Mutter verließ die Küche. Mit einem Topflappen trat Delia zu mir und nahm mir das Backblech, kaum dass ich es aus dem Ofen gezogen hatte, auch schon aus der Hand. »Du warst mir wirklich eine große Hilfe«, sagte sie. »Aber jetzt gehst du besser zu deiner Mutter.«

»Schon in Ordnung, sie wird nicht mal merken, ob ich da bin oder nicht.«

Delia lächelte. »Mag ja sein. Trotzdem solltest du jetzt wieder nach nebenan gehen.«

Ich trat ein wenig zur Seite, damit sie das Blech an mir vorbei zur Küchentheke tragen konnte. Lucy bewegte sich ein wenig, murmelte etwas, schlief dann aber ruhig weiter.

»Also in der Bibliothek.« Delia schnappte sich den Pfannenwender. »Nicht schlecht.«

»Ist nur für die Sommerferien, als Vertretung.«

Delia löste die Krabbenpastetchen vom Backpapier und begann sie auf einer Servierplatte anzurichten. »Falls das aus irgendeinem Grund vielleicht doch nicht klappt – ich stehe im Telefonbuch. Jemanden, der Anweisungen kapiert und geradeaus gehen kann, kann ich immer gut gebrauchen.«

Wie um diesen Satz zu unterstreichen, schlappte Monica herein, wobei sie sich den Pony aus der Stirn pustete.

»Allerdings ist Catering, was Jobs betrifft, hart an der Grenze«, fuhr Delia fort. »Falls du einen ruhigen, normalen hast . . . ich kann mir kaum vorstellen, warum du dann ausgerechnet bei einem Catering-Service arbeiten solltest. Aber für den Fall, dass du Lust auf Chaos hast, ruf mich an, okay?«

Bert kam rein, düste mit einer leeren Servierplatte zwischen uns durch und brüllte: »Mehr Krabbenpastetchen, und zwar so schnell wie möglich!«

Delia zuckte zusammen. »Bert, ich stehe direkt vor dir.«

Ich ging zur Küchentür und kreuzte dabei Monicas Weg, die ausgiebig gähnend an mir vorbeischlurfte. Bert wartete ungeduldig auf die nächste Platte mit Krabbenpastetchen. Delia forderte Monica auf, bittebittebitte einen Zahn zuzulegen, sei so lieb, okay? Anscheinend hatten sie mich längst wieder vergessen. Trotzdem wollte ich auf Delias letzte Frage unbedingt antworten und sagte daher so laut wie möglich: »Ja, gern.« In der Hoffnung, dass sie mich gehört hatte.

 

Der letzte Gast, ein leicht angetrunkener, dafür sehr geräuschvoller Mensch im Golfpullover, ging gegen halb zehn. Meine Mutter schloss die Tür hinter ihm, zog ihre Schuhe aus, bedankte sich bei mir mit einem Kuss auf die Stirn, schnappte sich eine Liste vom Tisch im Eingangsflur und verschwand in ihrem Büro, um Infomaterial für die Leute einzutüten, die ihre Adresse et cetera auf ebenjener Liste hinterlassen hatten. Kontakt ist alles – zumindest diese Lektion aus dem Geschäftsleben hatte ich bereits gelernt. Und dass jeder Kontakt gepflegt werden musste, solange er »noch warm war«, sonst schlüpften einem die potenziellen Kunden ganz schnell wieder durch die Finger.

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf begab ich mich nach oben auf mein Zimmer, um meine E-Mails zu lesen. Jason hatte mir wie versprochen geschrieben, aber hauptsächlich um mich an alles Mögliche zu erinnern, entweder was den Bibliotheksjob (pass gut auf die Schlüssel für die Kopiergeräte auf, wenn man die ersetzen muss, wird’s richtig teuer) oder andere Dinge betraf, die ich in seiner Abwesenheit für ihn erledigen sollte (bitte vergiss am Samstag nicht, eine E-Mail wegen des Vortragsredners an die Arbeitsgruppe Fremde Kulturen zu schicken; der Mann soll ja schon im August kommen). Ganz am Schluss der Mail schrieb er noch, er sei jetzt zu müde, um weiterzuschreiben, und dass er sich in ein paar Tagen wieder melden werde. Als Letztes folgte nur noch sein Name, keine »lieben Grüße«, nichts. Nicht, dass ich mit so was gerechnet hätte. Jason war einfach nicht der Typ, der seine Zuneigung offen zeigte, weder mit Worten noch sonst wie. Pärchen, die zwischen Unterrichtsstunden im Schulflur rumknutschten, fand er unmöglich, und sobald es in einem Film auch nur ansatzweise romantisch, melodramatisch oder gar kitschig wurde, verzog er angewidert das Gesicht. Doch obwohl er es mir nicht so direkt zeigte, wusste ich, dass ihm etwas an mir lag. Er ging mit seinen Gefühlen eben so ähnlich um wie mit allem anderen, was er tat: präzise, knapp, sachlich. Trotzdem spürte ich es, vor allem an kleinen Gesten; zum Beispiel wenn er mir manchmal die Hand auf den Rücken legte oder mich anlächelte, weil ich ihn durch eine unerwartete Bemerkung verblüffte. Ganz früher hatte ich ja vielleicht mal andere Vorstellungen von einer Beziehung gehabt, mich jedoch mittlerweile Jasons Art angepasst. Langsam, aber stetig – eben seit wir zusammen waren. Und wir waren praktisch ununterbrochen zusammen. Deshalb musste er nichts Besonderes machen, mir nicht extra beweisen, was er für mich empfand. Wie so vieles andere war auch das etwas, worüber ich wie selbstverständlich Bescheid wusste. Oder zumindest Bescheid wissen sollte.

Doch immerhin würden wir in den kommenden Wochen länger getrennt sein als je zuvor; und allmählich dämmerte mir, dass die kleinen Bestätigungen, die kleinen Zuneigungszeichen, die ich in seiner Gegenwart bekam, sich übers Internet nicht so einfach vermitteln würden. Aber er liebte mich. Das wusste ich. Ich würde mich nur öfter selber dran erinnern müssen.

Nachdem ich wieder offline gegangen war, öffnete ich das Fenster, kletterte aufs Vordach und lehnte mich, die Knie an die Brust gezogen, an einen der Fensterläden. So hockte ich eine Weile da und schaute mir die Sterne an, bis ich von unserer Auffahrt her Stimmen hörte. Eine Wagentür wurde geöffnet, dann noch eine. Ich beugte mich etwas vor, spähte nach unten. Um den Lieferwagen mit der Aufschrift WISH CATERING tummelten sich einige Gestalten, die offenbar ein paar letzte Sachen einluden.

». . . dieser andere Planet, auf derselben Umlaufbahn wie die Erde. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir zusammenstoßen. In den Nachrichten melden die so was natürlich nicht, was allerdings nicht heißt, dass es nicht passieren wird.«

Bert. Noch bevor ich ihn sah, erkannte ich ihn an der Stimme (hoch, leicht angespannt). Er stand neben der Hintertür des Lieferwagens und unterhielt sich mit jemandem, der auf der Stoßstange hockte und rauchte; die Zigarettenspitze glühte rot durch die fast undurchdringliche Dunkelheit.

»Mmm . . . aha . . .«, machte die Person mit gedehnter Stimme. Monica, garantiert. »Echt?«

»Bert, hör endlich auf rumzulabern.« Wes – der Typ, der etwas älter war als Bert – trat näher und schob etwas auf die Ladefläche. Ich hatte ihn den Abend über kaum gesehen, weil er an der Bar im Hobbyraum bedient hatte, und in die Ecke war ich fast nie hingekommen.

»Ich will doch bloß, dass sie Bescheid weiß«, erwiderte Bert empört. »Schließlich geht’s um ein paar ganz harte Fakten, Wes, und nur weil du lieber ahnungslos durch die Gegend läufst –«

»Können wir?« Delia, Lucy auf der Hüfte, kam die Auffahrt entlang. Ihre Stimme klang leicht brüchig, wahrscheinlich vor Erschöpfung. Von ihrer kinderfreien Hand baumelte der Kindersitz, den Wes ihr jetzt abnahm. Von meinem Ausguck auf dem Dach konnte ich den oberen Teil seines Kopfes und sein weißes Hemd deutlich erkennen. Als hätte er meinen Blick physisch gespürt, legte er den Kopf in den Nacken und schaute nach oben. Intuitiv zog ich mich in den Schatten der Wand zurück.

»Sind wir bezahlt worden?«, fragte Bert.

»Zur Hälfte, auf die andere musste ich verzichten«, antwortete Delia. »Chaos kostet eben. Wahrscheinlich sollte ich mich darüber aufregen, aber ich bin ehrlich gesagt zu müde und zu schwanger, also ist es mir mehr oder weniger wurscht, zumindest im Moment. Wer hat den Autoschlüssel?«

»Ich«, antwortete Bert. »Ich fahre.«

Schweigen. Schweigen, das so lange dauerte, dass ich unwillkürlich wieder über den Rand des Daches spähen wollte, mich aber in letzter Sekunde zurückhielt.

»Lieber nicht«, meinte Delia schließlich.

»Ja, hör bloß auf«, pflichtete Monica ihr bei.

»Wieso nicht? Leute, in zwei Wochen mache ich meinen Führerschein und mit Lernerlaubnis fahre ich schon seit einem Jahr durch die Gegend. Trotzdem brauche ich dringend mehr Fahrpraxis, bevor ich mir mein Bertmobil zulege.«

»Bitte, Bert, du sollst es nicht mehr so nennen«, sagte Wes. Nicht laut, aber deutlich.

Delia seufzte. »Normalerweise hätte ich nichts dagegen, dass du fährst, Bert. Aber es war ein langer Tag, ich will nur noch heim. Beim nächsten Mal, okay? Heute Abend fährt dein Bruder, bitte. Einverstanden?«

Wieder herrschte Schweigen. Irgendwer hustete.

»Gut«, meinte Bert. »Ist ja gut.«

Ich hörte, wie erst eine Wagentür zufiel, dann eine zweite, und beugte mich vor. Wes und Bert standen hinten neben dem Lieferwagen. Schmollend schabte Bert mit dem Fuß über den Boden. Wes wartete, ohne sich zu rühren.

»Ist doch halb so schlimm«, meinte er schließlich und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. In dem Moment kapierte ich endgültig, dass sie Brüder waren. Und fand die Ähnlichkeit – gleiche Hautfarbe, dunkle Haare, dunkle Augen – zwischen ihnen verblüffend, obwohl sie so unterschiedlich groß waren und sehr unterschiedliche Figuren hatten.

»Nie darf ich fahren«, sagte Bert. »Nie. Letzte Woche durfte selbst Miss Monoton ans Steuer, aber ich nie. Nie.«

»Du kriegst schon noch genug Gelegenheit zum Üben«, erwiderte Wes. »Und wenn du nächste Woche ein eigenes Auto bekommst, kannst du sowieso fahren, wann du willst. Aber jetzt reite nicht weiter auf dem Thema rum. Komm, es ist spät, geh uns nicht auf den Keks, bitte.«

Bert stopfte die Hände tief in die Hosentaschen. »Wie du willst.« Latschte lustlos um den Lieferwagen herum. Wes setzte sich ebenfalls in Bewegung und klopfte Bert beim Gehen auf den Rücken. Der sagte: »Übrigens, da war doch heute Abend ein Mädchen in der Küche, die Delia geholfen hat . . .«

Ich erstarrte zur Salzsäule.

»Meinst du das Mädchen, das du aus Versehen erschreckt hast?«

»Jajaja, darum geht’s jetzt gar nicht«, sagte Bert betont deutlich. »Hast du sie eigentlich erkannt? Ich meine, weißt du, wer das ist?«

»Nö.«

Bert öffnete die Wagentür. »Doch, du kennst sie. Ihr Vater . . .«

Ich wartete. Obwohl ich wusste, was jetzt kam, hörte ich wie gebannt zu. Musste mir die Worte anhören, die nun folgen würden. Die Worte, die mich definierten, mich von allen anderen unterschieden, mich ausgrenzten.

». . . war unser Coach in der Grundschule, als wir für die Juniorenwettkämpfe trainierten«, fuhr Bert fort. »Unser Team hieß Lakeview-Blitze. Weißt du nicht mehr?« Er stieg beim Reden ein.

Wes nahm Bert den Wagenschlüssel aus der Hand und antwortete: »Doch, klar. Trainer Joe, stimmt’s?«

Stimmt, dachte ich und verspürte einen Stich in der Brust.

»Trainer Joe«, wiederholte Bert zustimmend und schloss seine Tür. »War’n guter Typ.«

Wes ging zur Fahrertür, öffnete sie, stieg jedoch nicht sofort ein, sondern schaute sich noch einen Moment um, als wollte er alles in sich aufnehmen. Erst dann kletterte er auf den Fahrersitz und zog die Tür hinter sich zu. Ich muss zugeben, ich war verblüfft. So sehr hatte ich mich schon an mein Image als »das Mädchen, das seinen Vater sterben sah« gewöhnt, dass ich es fast vergessen hatte: mein Leben davor und die Tatsache, dass es ein Leben davor gegeben hatte.

Als der Motor angelassen wurde, lehnte ich mich in den Schatten des Dachs zurück. Der Lieferwagen fuhr die Auffahrt hinunter. Bevor er auf die Straße abbog, leuchteten kurz die Bremslichter auf. Auf die Seite des Wagens war mit dicken schwarzen Pinselstrichen ein großes Gabelbein gemalt – eine schwarze Wünschelrute, die einem chinesischen Schriftzeichen glich. Es fiel einem schon aus der Ferne auf, selbst wenn man nicht sofort wusste, was es bedeutete. Ich sah dem Lieferwagen, dem Zeichen, der Wünschelrute nach, wie er die Straße entlang über den Hügel fuhr. Bis zum Stoppschild. Bis er aus meinem Blickfeld verschwand.