Homosexualität

Ach alle Tage Huhn im Topf und Gans im Bett, man kriegt es satt.

Kurt Tucholsky

 

Seit Sigmund Freud wissen wir, daß alle Frauen und Männer in ihrer Kindheit eine homosexuelle Phase durchmachen. Diese sieht Freud in der Überbetonung von männlichen Räuber-und-Gendarm-Spielen auf der einen Seite und weiblichen Puppenspielen von Mädchen unter Mädchen auf der anderen. Jedoch nicht alle Menschen finden wieder heraus aus der frühkindlichen Homosexualität. Zur Zeit Freuds herrschte die Meinung vor, daß Schwule in einer kindlichen Phase steckengeblieben sind. Man räumte sogar ein, daß alle Männer diese Phase ihr ganzes Leben lang mit sich herumschleppen, praktisch stets gratwandernd zwischen Homo- und Heterosexualität. Das Zurückfallen in die Homosexualität sei nur deshalb so selten, weil es von der Gesellschaft mit Strafe und Stigmatisierung bedacht wird. Dieser Aussage zufolge ist die Bisexualität die natürlichste Form von Sex überhaupt. Die Mythologien unserer abendländischen Kultur sind übrigens voll davon. Sex unter Männern war zum Beispiel im alten Griechenland die Regel. Aber auch im Orient ist sie traditionell sehr weit verbreitet.

Trotz der in Legenden festgehaltener Homo- oder Bisexualität wurde schon sehr früh innerhalb der abendländischen Gesellschaft angenommen, daß diese Formen von Sex alles durcheinanderbringen würden. Zwei konkurrierende Aussagen bezüglich der Homosexualität füllen auch heute noch die Schulbücher der Sexualforscher. Nach Ansicht vieler ist die Homosexualität vererbbar. Bislang verlief aber die Suche nach dem Homo-Gen erfolglos. Andere meinen, daß die Fixierung auf einen gleichgeschlechtlichen Sexualpartner ein Ergebnis der Erziehung und meist auf ein frühkindliches Trauma zurückzuführen ist.

Hier soll weder der Streit forciert noch Partei für die eine oder andere Sichtweise ergriffen werden. Fakt scheint jedoch, daß Hetero-, Homo-, und Bi-Sexualität keine absoluten Zustände sind. Sie sagen lediglich etwas über die momentane Geschlechtsfixierung eines Menschen aus und können im Verlauf eines Menschenlebens einander mehrmals ablösen – ähnlich wie der Charakter eines Menschen wechseln kann.

Seltsam erscheint die große Aversion, die „normale“ Männer gegenüber Schwulen entwickeln. Diese Aversion ist genauer betrachtet ein Greuel gegenüber dem männlichen, also auch gegenüber dem eigenen Körper. Welche Zumutung muß aber dieser „ekelige Körper“ erst für eine Frau sein? Wäre die Welt in Ordnung und die Toleranz oberstes Prinzip, so müßten „normale“ Männer gegenüber schwulen Angeboten genauso gleichgültig reagieren, wie das Schwule gegenüber Anträgen von Frauen tun – nämlich einfach desinteressiert. Statt dessen wird man(n) ausfällig und aggressiv. Dabei bedarf es nur eines Wortes. Jeder Mann kann „nein“ sagen. Oder fühlen sich vielleicht manche Männer bei eindeutigen Aufforderungen von Schwulen daran erinnert, mit welcher Selbstverständlichkeit sie Frauen belästigen, welche Gewalt sie Frauen antun?

Wie finden Homosexuelle zueinander? Nur selten läuft es so ab wie zwischen Männern und Frauen, die statistisch gesehen in den meisten Fällen über den Beruf zueinander kommen. Schwule hingegen gehen wesentlich selektiver bei ihrer Partnersuche vor, widmen also einen gehörigen Teil ihrer Freizeit ganz bewußt dem Bereich Partnersuche. Sie wenden also vielmehr Zeit dafür auf, das „Nebenprodukt Partnerschaft“ zu organisieren.

Der anonymste Ort der Kontaktaufnahme für Schwule ist nach wie vor die öffentliche Toilette. Sie ist populär bei Strichern, jugendlichen Schwulen und allen, die keine feste Bindung, sondern nur das sexuelle Abenteuer suchen. Die Begegnung in öffentlichen Klos ist unverbindlich und kann jederzeit abgebrochen werden, ohne daß man sich zu nahe gekommen ist. Außerdem erspart es einem den lästigen Smalltalk, bevor es zur Sache geht. Im Normalfall, wenn sich zwei Homos auf diese Art finden, wechselt einer in die Kabine des anderen und die WC-Besucher drumherum wundern sich über das Gerumpel.

Noch anonymer als die Klosettbegegnungen laufen die nächtlichen Meetings im Park ab. Parks werden vor allem von älteren Herren bevorzugt. In der Dunkelheit kann man seine körperlichen Mängel vertuschen. Außerdem erkennt man auch die Makel seines Gegenübers nicht, so daß man die Illusion aufrechterhält mit seinem Traumfreier zu verkehren.

Heute stehen immer mehr Schwule zu ihrer sexuellen Orientierung. Das Versteckspielen in öffentlichen Pissoirs stirbt langsam aus, auch die Büsche im Park als Ort der Anbahnung werden immer seltener. Neben Gaydiscos und -saunas gibt es eigene Buchläden. Annoncen über Schwulenfeste, Travestieshows, Ledertreffen, Kontaktanzeigen, wie „Mann sucht Mann“ oder „Frau sucht Frau“, finden sich in den Wochenendausgaben jeder kleinen Provinzzeitung.

Der amerikanische Kinsey-Report weist in einer Befragung nach, daß ein Viertel aller Frauen und ein Drittel aller Männer in Amerika mindestens einmal in ihrem Leben homosexuelle Erfahrungen machen. Die Zahlen mögen überraschen. Zu bedenken bleibt, daß sie aus einer Untersuchung aus den 60er Jahren stammen, also aus einer progressiven Zeit des „Summer of Love“. Der Trend allerdings, daß Männer mehr experimentieren als Frauen, ist bezeichnend und könnte tatsächlich dafür sprechen, daß Männer auch eher zur Homosexualität neigen als Frauen.

Zumindest agieren Schwule auffälliger als Lesben. Außerdem macht unsere Gesellschaft dem Manne eine Gratwanderung zwischen Homo- und Heterodasein schwer. Während öffentliche Liebkosungen unter Frauen nichts Außergewöhnliches sind, erregen sich umarmende Männer Mißtrauen bei Passanten. Lesben hingegen können sich auf der Straße küssen und gelten selbst dann einfach nur als Freundinnen. Mit anderen Worten, die Homosexualität von Frauen spielt sich oft innerhalb einer Grauzone ab, unbemerkt von anderen.

Ein Grund dafür, daß es wirklich weniger Lesben gibt und daß eine Frau später lesbisch wird als ein Mann schwul, liegt in der Anpassungsbereitschaft der Frau. Sie ist viel länger gewillt (auch sexuelle) Frustration zu kompensieren. So bleiben viele potentielle Lesben ihr Leben lang treue Gattinnen und gehen ganz in ihrer Aufgabe als Mutter und Hausfrau auf.

Außerdem ist die passive weibliche Rolle bei der normalen Partnersuche dafür verantwortlich, daß sich Lesben erst viel später und seltener als Schwule auf die Suche nach einem gleichgeschlechtlichen Partner machen.

In der Völkerkunde ist das Phänomen der Homosexualität durchaus nichts Außergewöhnliches. Die Tabuisierung des Themas bei uns brachte mit sich, daß sich Wissenschaftler um so intensiver auf die Erforschung von schwulen Verhaltensmustern in anderen Gesellschaften stürzten. Nicht zuletzt auch, um die eigene Gesellschaft hochleben zu lassen. Von wegen: „ Seht her, was die machen! Haben wir dagegen nicht eine prächtige entwickelte Kultur!“

Nun, die Zeiten einer derartigen Einstellung unter den Ethnologen gehören der Vergangenheit an. Heute versucht man, den Gründen für die Homosexualität auf die Spur zu kommen. Die wohl wichtigste Erkenntnis dabei war, daß Homosexualität keine individuelle Erscheinung oder gar Krankheit ist, sondern in manchen Gesellschaften anerkannt, ja sogar erwünscht ist.

Die Männer der Etoro auf Neuguinea glauben, daß Sperma die Substanz ist, die ihnen Leben gibt. Sie sind der Meinung, daß jeder Mann in seinem Leben nur über einen begrenzten Samenvorrat verfügt. Ist der Vorrat erschöpft, stirbt ein Mann. Um das Leben des Mannes zu verlängern, ist allein an 200 Tagen des Jahres der Sex zwischen Eheleuten tabu. Etoro-Männer halten Frauen, die dieses Tabu brechen wollen, für Hexen. Ebenso wie eine sexuell überaktive Frau wird auch ein sexuell überaktiver Mann für einen Hexer gehalten. Die Etoro glauben nicht nur, daß der Mann lediglich einen beschränkten Samenvorrat im Leben hat und daß er seinen Samen von einem anderen Mann erhält. Etoro-Knaben erhalten ihre Samenmenge, indem sie mit älteren Männern Oralverkehr pflegen. Junge Männer dürfen nicht untereinander sexuelle Beziehungen eingehen.

Außerdem scheint die Homosexualität der Etoro mit ihrer kriegerischen Lebensform verbunden zu sein. Wie andere Gruppen auf Neuguinea sind sie aus dichter besiedelten Gebieten vertrieben worden. Solche Gruppen sind entweder immer noch auf der Flucht, gerade dabei neuen Lebensraum für sich zu gewinnen oder im Begriff Verlorenes zurückzuerobern. Das wiederum verlangt nach dem Handeln von Männern. Frauen, und Kinder hingegen sind dabei sogar lästig. Daraus folgt eine negative Einstellung zur Reproduktion. Was liegt näher, als eine nicht der Reproduktion dienende Form von Sex, also u.a. die Homosexualität. Man spricht dabei von der ritualisierten männlichen Homosexualität. Übermäßiger „Normalsex“ wird demgegenüber mit dem Attribut Hexerei belegt.

Bei all dem wird klar, daß die Homosexualität auf Neuguinea sich gewaltig von unserer Homosexualität unterscheidet. In erster Linie darin, daß sie nicht freiwillig ist. Man kann von einer obligatorischen Homosexualität sprechen, die durch den Glauben geschürt wird, daß Samen von einer Generation auf die andere übertragbar sei.

Ein weiterer Unterschied: Die Homosexualität auf Neuguinea wird nicht nur toleriert, sondern gesellschaftlich geradezu gefordert; ganze Riten entwickelten sich, vor allem im Hinblick auf ein kriegerisches Dasein. Selbst wenn Kriege vorbei sind, erhält sich die kriegsbedingte Homosexualität. Auch in westlichen Armeen ist davon etwas zu spüren. So war der Ruf der US-amerikanischen „Schofield Barracks“ auf Hawaii sowie der „Panama Canal Zone“ und der „Alpine County Army/ California“ eindeutig und der Militärführung ständig ein Splitter unter der Haut.

Das Phänomen der kriegsbedingten Homosexualität ist also durchaus nichts Einmaliges. Im Gegenteil. Frühere Armeen waren diesbezüglich ehrlicher. Zum Beispiel die Crow in Nordamerika: Bei den Crow war das dritte Geschlecht, der Transvestit, offiziell anerkannt. Diese Transvestiten – Berdache genannt – wollten großen Kriegern sexuell gefallen. Damit hatten sie auch Erfolg. Der maskuline Status der Krieger hatte darunter nicht gelitten. Im Gegenteil, die Dienste eines Berdaches in Anspruch zu nehmen, war ein Beweis für Männlichkeit.

Ganz ähnlich unterhielten bei den Azande im Sudan die Krieger, die ja mehrere Jahre von Frauen getrennt leben mußten, homosexuelle Beziehungen zu den Knaben einer jüngeren Altersstufe. Nach ihren Erfahrungen mit Knaben stiegen die Krieger in die nächste Altersstufe auf, heirateten und zeugten viele Kinder. Die Ausbildung der Knaben zu Kriegern war am besten durch intensiven Kontakt zwischen Ausbildern und Auszubildenden zu gewährleisten. Homosexualität als Mittel zum Zweck war hier die Antwort der Azande.

Wohl am meisten mit der Differenzierung der Geschlechter haben sich die Tschuktschen Sibiriens auseinandergesetzt. Sie unterscheiden nämlich insgesamt sieben verschiedene Geschlechter. Neben dem Geschlecht von Mann und Frau gibt es noch zwei weitere Frauentypen, die als sehr männlich eingestuft werden und eigentlich besser ein Mann geworden wären. Demgegenüber stehen drei verschiede Männertypen, die durch ihr Verhalten viel eher an Frauen als an typische Männer erinnern.