Inzucht – ein natürliches oder anerzogenes Tabu

Sagt die Schwester zum Bruder:

„Du machst es mir aber besser als Vater.“

Sagt der Bruder:

„Das sagt Mutter auch jedesmal.“

 

Die Aufnahme sexueller Beziehungen zwischen den Eltern und ihren Kindern oder den Geschwistern untereinander wird in fast keiner Gesellschaft geduldet. Im Laufe der Zeit durfte sich die Erkenntnis durchgesetzt haben, daß Inzucht zu geistiger Zurückgebliebenheit führt. Trotzdem weiß man heute, daß in kleinen Gesellschaften, die wenig Kontakt zur Außenwelt haben, die Anzahl „schlechter“ Erbanlagen ausgesprochen gering ist. Gerade diese Gesellschaften leben aber in einer ständigen Gefahr der Inzucht. Hochzeiten innerhalb der Verwandtschaft werden nicht nur toleriert, sondern gewünscht. Die bevorzugte Heiratsform ist die Kreuzcousinenheirat. Das heißt, daß der Mann die Tochter seiner Tante (seltener seines Onkels) zur Frau nimmt. Aufgrund des ähnlichen genetischen Erbguts bei Cousin und Cousine müßte das eigentlich nach obiger Theorie zu Inzuchtkrüppeln führen. Und eben das ist nicht der Fall.

Mit anderen Worten: vielleicht ist das universelle Inzestverbot weniger biologisch als psychologisch zu erklären. Vielleicht hat es viel mehr mit dem instinktiven Trieb nach Harmonie zu tun. Und nur das Inzesttabu sichert die Harmonie in der Kernfamilie, dieser kleinsten und zugleich wichtigsten sozialen Form menschlichen Zusammenlebens. Eine Rivalität der Söhne mit ihren Vätern um die sexuelle Gunst ihrer Mütter, bzw. Frauen, brächte die Welt ins Schwanken. Das programmierte Familiendrama würde sich auf das ganze menschliche Miteinander verlagern. Wenn Sitte und Moral den Inzest erlauben würden, so wäre der Fortbestand der Familie in Frage gestellt. Das brächte ein gesellschaftliches Chaos und die Unmöglichkeit der Weitergabe von Traditionen mit sich. In einer Spezies, die dermaßen auf das Zusammenleben angewiesen ist, wäre das fatal. Der Untergang wäre programmiert, bzw. eine Spezies Mensch, so wie wir sie heute kennen, wäre nicht denkbar.

Neben der „Harmonietheorie“ zur Erklärung von Inzesttabus gibt es noch die „Aversionstheorie“: Ausgangspunkt war die Beobachtung, daß es zwischen Jungen und Mädchen, die gemeinschaftlich in einem Kibbuz aufwachsen, nur selten zu Eheschließungen kommt. Diese Jungen und Mädchen waren aber keineswegs miteinander verwandt, so daß einer Heirat eigentlich nichts im Wege stand. Im Gegenteil, die Eltern wunderten sich über die plötzliche Abkehr ihrer Sprößlinge von alten Spielgefährten, welche die Eltern eigentlich schon als Schwiegerkinder akzeptiert hatten.

Ähnlich wie diese Aversionstheorie in den Kibbuzim zum Tragen kommt, wirkt sie auch unter leiblichen Geschwistern. Durch den ständigen Umgang miteinander von Kindesbeinen an, entwickeln sie eine sexuelle Aversion. Das vielbefürchtete Sich-Verlieben zwischen Geschwistern ist also äußerst selten, ganz abgesehen von der gesellschaftlichen Sanktion solcherlei Liebesaffären.

Eine interessante Bestätigung der .Aversionstheorie“, wie sie in Israel entwickelt wurde, liefern Untersuchungen aus Taiwan.

In Taiwan ist ein makabres traditionelles Heiratsverfahren nach wie vor üblich. Um sich den hohen Brautpreis zu sparen, adoptieren besonders vorbeugsame Eltern eine passende Schwiegertochter für ihren Sohn. Das geschieht weit vor der Geschlechtsreife von Sohn und zukünftiger Schwiegertochter. Ebenso üblich ist der Tausch von noch kleinen Töchtern innerhalb von befreundeten oder verwandten Familien.

Das ganze Verfahren ist am besten zu umschreiben mit: „adoptiere eine Tochter – lasse sie deinen Bruder heiraten“. Es spiegelt deutlich das Bedürfnis, das Inzestverbot einzuhalten und gleichzeitig das Bestreben, den teuren Brautpreis einzusparen. Für die Anwender dieser Strategie ist auch der Wert einer nach den eigenen Wünschen erzogenen Schwiegertochter innerhalb der Mehrgenerationenfamilie besonders wichtig.

Aus dieser Sicht heraus scheint eine solche Methode durchaus ihren Wert zu haben. Doch die Rechnung geht nicht auf. Mit dem Greifen moderner Lebensformen und der Möglichkeit, sich scheiden zu lassen, kriselt es in diesen Ehen besonders stark. Eine hohe Scheidungsrate ist charakteristisch für Ehen aus „adoptiere eine Tochter – lasse sie deinen Bruder heiraten“.

Die „Aversionstheorie“ scheint sich bei den Menschen, wie wir es für Taiwan und Israel gesehen haben, ebenso zu bestätigen wie bei den Menschenaffen. Auch hier ist Fortpflanzung zwischen Geschwistertieren seltener, als dazu theoretisch Gelegenheit bestünde.

Aus einem anderen Betrachtungswinkel hat das globale Inzestverbot etwas mit Wirtschaft zu tun. Denn die Heirat außerhalb des eigenen Clans bringt den Austausch von Wirtschaftsgütern mit sich. Mit Hilfe des Brautpreises kann eine Familie an Güter gelangen, die sonst für sie unerschwinglich blieben.

Entschädigt wird der Brautpreis durch den lebenslangen Brautdienst von Seiten der Frau oder die Mitgift von Seiten ihrer Familie. Brautpreis und Mitgift sind Motive genug, um Inzucht zu vermeiden: denn die den Brautpreis zahlende Familie (meist die des Mannes) bekommt für die unangenehme Hausarbeit eine Fremdhilfe, und die den Brautpreis erhaltende Familie (meist die der Frau) möchte ihren Brautpreis möglichst von einer anderen Sippe erhalten. Denn eine Brautpreiszahlung innerhalb der eigenen Sippe wäre wirtschaftlich betrachtet ein Unsinn. Also wird exogam geheiratet und ein Inzesttabu aufgestellt.

Das beste Beispiel für die Umgehung von Inzesttabus bietet der Adel. Europäische Königshäuser neigten dazu, sich untereinander zu verschwägern. Der Grund dafür war den Besitz zu wahren oder gar zu mehren. Aber auch die Gewinnung von Verbündeten in einer Zeit von Fehden spielte eine Rolle. Durch Hochzeiten wurden Nichtangriffspakte geschmiedet und Allianzen gebildet, die wiederum Kriegserklärungen gegenüber Dritten sein konnten. Das ganze Schicksal des Kontinents wurde also über nichts weiter als die Hochzeiten des Hochadels geregelt. Dabei war der Altersunterschied ebensowenig von Bedeutung wie der Verwandtschaftsgrad. Es kam also durchaus häufig zu Cousinenheiraten, als abgeschwächte Form der Inzucht. Direkte Bruder-Schwester-Inzucht war dagegen unnötig. Denn damit konnte man weder den Besitz mehren noch einen Beistand erzwingen.

Ganz anders war dagegen die Situation im alten Ägypten. Von den Pharaonen wurde angenommen, sie stammten direkt von den Göttern ab, seien also selber Götter und durften sich deshalb nicht mit den Menschen vermischen. Um dieses Göttlichkeitsprinzip nicht zu verletzen, war es üblich, daß Pharaonen ihre Schwestern heirateten, wenigstens aber eine nahe Verwandte. Von diesem Prinzip wurde auch dann nicht abgewichen, wenn eine neue Dynastie den Thron bekam, oder sogar Ausländer die Herrschaft in Ägypten übernahmen. Cleopatra zum Beispiel, die letzte Pharaonin war Mitglied der griechischen Dynastie der Ptolemäer, die nach dem Sieg Alexanders des Großen über Ägypten Könige wurden. Cleopatra entstammte der Verbindung von elf aufeinanderfolgenden Generationen von Bruder-Schwestern-Ehen.

Auch die autoritären Herrscher der Inkas und die gottähnlichen Häuptlinge auf Hawaii bevorzugten ebenso wie die Ägypter ihre eigenen Schwestern als Mütter ihrer Kinder. Als Liebhaberin jedoch kam die Schwester nicht in Frage. Geschwisterehen innerhalb des gemeinen Volkes waren in Ägypten, bei den Inkas und auf Hawaii gleichermaßen untersagt.

Anhänger der Theorie, daß alles menschliche Handeln nur auf materialistische Vorteile aus ist, werden sich in den folgenden Heiratsregeln bestätigt finden: Günstig für die Haushaltskasse wirkt sich der „Töchterntausch“ aus. Hierbei beschließen zwei Familien, ihre Töchter gegeneinander auszutauschen. Sind es nicht die Familien, sondern die jungen Männer, die zu diesem Entschluß kommen, so spricht man von „Schwesterntausch“. Diese Form der Heirat ist selbst in Europa noch nicht ausgestorben. Vor allem ist sie kein Verstoß gegen weltliche oder geistliche Normen, da sie im eigentlichen Sinne keinen Inzestverstoß darstellt.

Ebenso wie das Heiraten schon zu allen Zeiten eher durch den Geldbeutel als durch die Liebe definiert war, ist auch die Inzucht rein ökonomisch motiviert. Nur mit anderen Vorzeichen. Während Hochzeiten mit Fremden dazu beitragen sollten, Gebietsmehrungen, Handelsbeziehungen, Kriegs- und Jagdverbündete zu gewinnen, war der Inzest ein Mechanismus zur Sicherung des bereits erlangten Status. Deshalb ist Inzucht innerhalb der Oberschicht oftmals vorhanden und in der Unterschicht verboten. Denn die Unterschicht sollte ja erst gar nicht einen Status aufbauen, geschweige denn ihn sichern. Grundsätzlich könnte man sagen, daß Außenheiraten, also die Exogamie, progressiv ist. Das heißt darauf ausgerichtet, sich Vorteile zu verschaffen. Demhingegen ist die Heirat im eigenen Clan, also Endogamie, defensiv. Das heißt darauf ausgerichtet, bereits erlangte Vorteile zu sichern.

Der wissenschaftliche Streit, ob denn die Exogamie oder die Endogamie zuerst da war, verläuft folgendermaßen: Tiere, auch Menschenaffen, kennen beim Eingehen sexueller Beziehungen keinen Unterschied. Sex zwischen Geschwistern ist also möglich. Jedoch kommt er selten vor. Von Pavianen weiß man, daß die geschlechtsreifen Männchen mit Gewalt aus ihren Familienverbänden vertrieben werden, um sich eine eigene Weibchenschar zu suchen. Das ist Exogamie pur. Wölfe hingegen praktizieren die Endogamie pur. Nur der Leitwolf hat das Recht auf Fortpflanzung innerhalb seines Rudels. Das heißt, während die Mehrzahl seines Rudels ein eunuchenhaftes Dasein führt, deckt der Leitwolf alle Wölfinnen des Rudels. Kurzum, die Tiere bringen uns der Antwort, „was denn zuerst da war, die Exogamie oder die Endogamie, nicht näher.

Unterstellt man, daß die Menschwerdung mit der Nutzung von Werkzeugen einhergeht, so ist ein größtmöglicher Informationsaustausch günstig. Dem frühen Menschen mußte also daran gelegen sein, möglichst viele Kontakte zu anderen Menschen aufzubauen. Das spräche für die Bevorzugung der Außenheirat bei den ersten Menschen. Andererseits bedeutet diese Theorie auch, daß der größtmögliche Informationsfluß bei möglichst vielen Sexkontakten am besten gewährleistet ist, also bei der Eheform der Vielweiberei bzw. der Vielmännerei. Damit müßte die Polygamie die günstigste Form für die Entwicklung des Menschen sein. Jedoch ist sie bekanntlich selten.

Um es nicht zu vergessen, es gibt natürlich auch noch das biologische Argument. Jeder von uns kennt das Reden von durch Inzucht degenerierten Adelsfamilien. Biologen also meinen, die Natur selber würde dafür sorgen, daß sich zu eng verwandte Mitglieder einer Spezies nicht fortpflanzen. Eine Methode dieses auszuschließen könnte der Geruchssinn sein. Neuere Untersuchungen haben nämlich gezeigt, je ähnlicher ein bestimmter Wirkstoff im Körpergeruch zweier Menschen ist, desto schwächer wird die erotische Anziehungskraft. In umfangreichen Labortests wurde herausgefunden, daß Frauen, denen man T-Shirts, die drei Tage von männlichen Testpersonen getragen worden waren, unter die Nase hielt, immer diejenigen auswählten – und damit natürlich auch den damit verbundenen Mann – der ihnen am wenigsten geruchlich „verwandt“ war.