Ehe – Himmel oder Hölle auf Erden

Die Ehe ist der Verrat der Liebe: der Mann begeht sie aus Langeweile, die Frau aus Neugierde und letztlich werden beide enttäuscht.

Oscar Wilde

 

Doppelmoral gibt es in praktisch allen Gesellschaften. Sie ist universal. In Mexiko, von dem die Spanier behaupten, sie hätten es durch das Schwert in der Rechten und ihren Schwanz in der Linken erobert, bin ich erstmals mit dem sogenannten Flitterwochensyndrom konfrontiert worden. Jose, mein Schützling und Schuhputzer in Acapulco, hatte eigentlich allen Grund zur Freude. Er hatte eben geheiratet, und zwar ein Mädchen seiner Wahl, Maria. Nun hatte er seine Flitterwochen gehabt und war wieder zurück zum Schuheputzen. Dabei sah er aber gar nicht glücklich aus, zumindest nicht so wie ein Frischvermählter nach den Flitterwochen. Bald war er bereit, mir den Grund seiner Traurigkeit zu beichten. Noch hatte er niemandem davon erzählt, weil er es für eine Schande hielt und von seinen Freunden nicht verspottet werden wollte: Die Entjungferung von Maria klappte ja noch ganz gut. Es tat ihr weh und blutete, sie sträubte sich und zeigte keinerlei Interesse an Sex, geschweige denn an Initiative im Bett. So wie eben eine Ehefrau sein muß, schilderte mir Jose. Joses Erwartungen an das Leben mit seiner Frau waren damit erfüllt und entsprachen dem Klischee einer Ehe innerhalb der mexikanischen Unterschicht. Doch schon bald vernahm er, daß seine Frau Lust zu empfinden schien. So, wie er es von seinen Nutten kannte. Dabei hätte er doch ein anständiges Mädchen geheiratet und keine „Putana“. Besonders ärgerte ihn dabei, daß „Maria, die Nutte“, wie er sie jetzt nannte, die Mutter seiner Kinder werde. Denn Mütter, noch viel mehr als Ehefrauen dürfen keine Lust kennen. Sie sind lediglich für das Wohl der Kinder und des Ehemannes verantwortlich und damit basta. Das war schon immer so und daran ist nicht zu rütteln. Für den Sex gibt es schließlich den Puff oder den Strich, allenfalls eine heimliche Konkubine. Mit der eigenen Ehe hat das überhaupt nichts zu tun. So argumentierte Jose.

Ich ahnte, daß es nichts nützen würde, Jose von seiner eingetrichterten Meinung abzubringen, hoffte aber seine Vorstellungen von einem intakten Familienleben herauszubekommen. Und siehe da, davon hatte er ganz konkrete Vorstellungen, die er mir auch mitteilte. Er orientierte sich einfach daran, was er mit seinen sieben Geschwistern im elterlichen Haus, im Slum „Colonia 2000“, mitbekommen hatte und schilderte es frei von der Leber: „Papa konnte nach dem Essen immer in die Kneipe. Und wenn er nicht •wollte, so wurde er von Mama hingeschickt. Mama wußte ja, daß er daheim nur auf dumme Gedanken kommt. Und wenn er sich einmal durchsetzte, so blutete sie gerade da unten und hatte Kopfweh. Mama verhielt sich schon richtig. Wir waren ja schon drei, wozu noch mehr Kinder machen. Und trotzdem hat sie dann noch vier geboren. Aber das war sauber und kein Stöhnen und Kreischen, wie bei Maria. Was sollen die Nachbarn bloß von mir denken. Nach jeder Geburt hatte Mama sowieso Ruhe vor Papa – fast wie eine Madonna. Und Papa hat ja schließlich die Putanas.“

Ich traute meinen Ohren kaum. Doch was ich hier zu hören bekam, ist keine Einzelmeinung, sondern normal für viele Mexikaner. Es ist die typische Vergötterung der Mutter und Madonna einerseits und die Übertragung von Sex auf die Nutte andererseits. Es ist die Beherrschung von Sex durch die Religion.

Mit den Ausführungen der afrikanischen Frau-Frau-Ehe ist bereits eine Sonderform menschlichen Zusammenlebens angesprochen worden. Eines dürfte jedoch klar sein. Bei der Betrachtung der vielen Möglichkeiten menschlicher Co-Existenz fällt es schwer, von der Kernfamilie (Mann, Frau, Kinder) als dem Nonplusultra des Zusammenlebens auszugehen.

Zu allen bevorzugten Lebensformen in fremden Kulturen lassen sich entsprechende Parallelen innerhalb von Subkulturen unserer eigenen Gesellschaft finden.

Im Sudan beispielsweise gibt es für Männer eigene Schlaf- und Speisekasinos. Diese Kasinos sind keine vorübergehende Einrichtung, sondern geordnet nach Jahrgangsstufen die praktizierte Lebensform schlechthin. Doch auch bei uns laßt sich ein ähnliches Verhalten ausmachen. Nicht nur während des Militärdienstes, sondern auch später in Vereinen, die nur einem Geschlecht zugänglich sind, etwa Fußball- oder Schützenvereinen. Vereinsausflüge, wo das männliche Geschlecht vom weiblichen noch mehr isoliert wird, unterstreichen die Neigung der Männer und Frauen, sich unter sich zusammenzufinden um Ruhe vor dem jeweils anderen Geschlecht zu haben.

Vielleicht ist es die grundsätzliche Unverträglichkeit zwischen Männchen und Weibchen, die ihre Vereinigung dann zu einem Fest werden läßt. Aber längst nicht alle Völker machen darum ein Aufsehen, geschweige denn ein Fest rund um Hochzeit und Monogam-Ehe. Das beste Beispiel dafür sind die Nayar im indischen Bundesstaat Kerala. Die Nayar bilden matrilokale Lebensgemeinschaften. Das heißt, die Großfamilie gruppiert sich rund um eine alte Frau mit ihren Söhnen und Töchtern sowie Enkeln und Enkelinnen. Trotz dieser Lebensweise von Blutsverwandten, umringt von anderen Blutsverwandten, verabscheuen die Nayar die Inzucht. Die Mechanismen, die hier aushelfen, heißen „Scheinhochzeit“ und „Besuchsehe“. Dabei gehen die Nayar-Frauen so vor, daß sie nach einer viertägigen rituellen „Scheinhochzeit“ mit einem Mann nachts entweder diesen Mann oder auch andere Männer aus anderen matrilokalen Verbänden besuchen. Ziel dieser Besuche ist eigentlich nur die Schwangerschaft. Tagsüber unterstehen die Frauen wieder ihrer Großfamilie. Wie wenig den Nayar an Liebe im herkömmlichen Sinne gelegen ist, offenbart sich daraus, daß nach dem Eintreten der Schwangerschaft die nächtlichen Besuche meist eingestellt werden. Die aus diesen Scheinhochzeiten entstandenen Kinder kennen ihre Väter oftmals nicht. Sie unterstehen einem der Brüder ihrer Mutter, der sozusagen die Vaterrolle übernimmt.

Wiederholen sich die Besuche, so spricht man nicht mehr von Scheinhochzeit sondern von Besuchsehen. Dabei neigen die Frauen dazu, besonders zu der geistlichen Kaste der Brahmanen einen regelmäßigen Kontakt aufzubauen. Auch da ist es nicht die Liebe, sondern der materielle Wert der Beziehung zu einem reichen Brahmanen, der sich entscheidend auswirkt.

Der Vorteil der Regelung bei den Nayar liegt darin, daß der Frau eine sexuelle Kontaktaufnahme zu vielen Männern freisteht. Davon profitiert auch der Mann. Er muß nicht mit einer einzigen Frau sein Leben verbringen.

Die Nayar mögen ein Extrembeispiel für die Verschmähung der Kernfamilie sein. Doch auch andere Ethnien neigen eher zur Großfamilie als zur Kernfamilie. Stellvertretend dafür seien die Ashante aus Westafrika genannt. Zwar verbringt der Ashante-Mann die Nächte mit seiner Frau, doch wohler fühlt er sich bei seinen Schwestern mütterlicherseits und seinen Nichten sowie Neffen dort. Allabendlich speist er deshalb bei ihnen. Nur läßt er sich dazu die Speise von seinen eigenen Kindern bringen, zubereitet von seiner eigenen Frau, und zwar nicht nur für ihn, sondern für die ganze Sippschaft seiner Mutterfamilie. Erst spät am Abend kehrt er wieder zurück zu seiner Ehefrau, die mittlerweile, wie jeden Abend, selbst Besuch hatte von ihren Brüdern, die in gleicher Weise zu ihrer Mutterfamilie zum Essen gekommen waren.

Die Frauen hingegen brauchen keine Besuche abstatten, denn sie bleiben nach der Hochzeit im Hause ihrer Mütter.

Diese Gratwanderung zwischen dem Leben mit dem eigenen Ehepartner und dem Leben in seiner Mutterfamilie, also matrilokal rund um die älteste noch lebende Frau, ist problematisch für die Kinder. Sie unterstehen nämlich einerseits dem leiblichen Vater und andererseits einem allabendlich zu Besuch kommenden Mutterbruder. Daß die Vorstellungen von der Erziehung bei zwei erwachsenen Männern durchaus unterschiedlich sein können, braucht nicht eigens betont zu werden. Ganz schön verwirrend für den Nachwuchs. Vorteil der Gratwanderung ist allerdings der enorm große Bekanntenkreis eines jeden Ashante. Genau deshalb wird die aufwendige Essenswanderung von einem Haushalt in den anderen von den Kindern praktiziert. Die das Essen transportierenden Kinder haben dabei Gelegenheit, auch entfernteste Verwandte näher kennenzulernen.

Ein anderes Thema rund um die Ehe ist ihre Kommerzialisierung, besonders die Vermarktung der Braut. Auf Manus innerhalb des Archipels der Admiralitätsinseln geht das sogar so weit, daß die Braut für ihre eigene Hochzeit unwichtig ist. Sie zieht sich auch sofort nach der Bewertung ihrer Mitgift zurück. Peinlich genau wird kontrolliert, ob diese Mitgift auch dem Gegenwert des Brautpreises entspricht. Je nach Aussehen der Braut und je nach ihrem Ruf kann der Brautpreis stark schwanken. Bezeichnend auf Manus ist jedoch, daß der Brautpreis nicht auf einmal gezahlt wird, sondern in zwei Teilen. Der erste Teil wird bei der Hochzeit fällig, der zweite bei der Geburt des ersten Kindes. Somit hat die Frau ihren vollen Wert unter Beweis gestellt.

Die Manus mögen ein auffälliges Brautpreisgebaren an den Tag legen, jedoch eine Ausnahme bilden sie nicht. Der Brautpreis ist global gesehen bei mehr als 50 Prozent der Eheschließungen ein fester Bestandteil.

Bezeichnend für die Bewohner auf Manus ist das Sororat und das Levirat. Eine Regelung, die bereits für die alten Israeliten galt und auf der ganzen Welt sporadisch anzutreffen ist.

Sororat bedeutet nichts weiteres, als daß ein zum Witwer gewordener Mann Anrecht auf eine Ersatzfrau aus der Schwesternschaft seiner verstorbenen Frau hat. Nicht gerade eine Regelung, die sehr viel mit Liebe und Zuneigung zu tun hat; dennoch ist sie sozial. Denn die meisten Gesellschaften mit Sororat praktizieren auch das Levirat. Gemeint damit ist, daß die zu einer Witwe gewordene Frau weiterhin bei der Familie des Mannes bleibt und hier weiterhin ihren materiellen Unterhalt sowie Geborgenheit genießt. Auch unsere eigene Gesellschaft, eine patriarchalische Gesellschaft, handhabte die Witwenversorgung noch bis in das 20. Jahrhundert nach dem bewahrten System des Levirats.

Bleiben wir zunächst noch bei den Fachausdrücken. Und zwar bei der Polygamie (Vielehe), die sich wiederum in Polygynie (Vielweiberei) und Polyandrie (Vielmännerei) unterscheiden läßt. Allerdings ist die Vielmännerei dermaßen selten, daß der Ausdruck Polygamie bald nur noch als Synonym für die Vielweiberei verwendet wird.

In der westlichen Welt hantieren vor allem Juristen mit dem Begriff Polygamie. Nach christlichen Wertmaßstäben ist sie unmoralisch, nach juristischen kriminell, da sie oft Gegenstand von Heiratsschwindel ist. Ein wirklich erfolgreicher Heiratsschwindler begnügt sich aber nicht nur mit der Abfindung aus einer Scheidung, sondern hat Interesse am Gesamtvermögen seines Ehepartners, also an seinem Nachlaß. Die Grenzen zwischen Heiratsschwindel und Mord liegen damit sehr nahe beieinander. Für unsere Polizei und die Staatsanwaltschaft kann Polygamie also nicht nur ein Kavaliersdelikt sein, sondern ein Kapitalverbrechen.

Doch es gibt Gesellschaften, in denen Polygamie per Gesetz erlaubt ist. Die gesamte moslemische Welt ermöglicht dem Manne theoretisch bis zu vier Ehefrauen zu haben. Für die Frau gibt es diese Möglichkeit nicht. Allerdings erschweren andere Gesetze in moslemischen Ländern wiederum die Praxis der Vielweiberei. Die Aufbringung des Brautpreises ist eine Sache, die die meisten Männer nicht mehrfach verkraften können. Doch auch für die Reichen ist es nicht einfach, denn die ständigen Zahlungen an das Finanzamt haben es in sich. Die moslemische Polygamiesteuer erhöht sich mit der Zahl der Ehefrauen und ist so ausgelegt, daß sie mit der vierten Frau das Gesamteinkommen des Mannes verschlingen würde. Ein relativ einfacher staatlicher Eingriff, der die Vielweiberei zwar nicht ächtet, jedoch praktisch unmöglich macht.

Weiter noch als die Moslems gehen die kanadischen Eskimos in ihrer Variation des ehelichen Zusammenlebens. Sowohl die Polygynie als auch die Polyandrie ist bei den Eskimos erlaubt. Beide hängen mit dem unwirtlichen Lebensraum im hohen Norden zusammen, genauso wie der „freiwillige Selbstmord“ und die „Kindestötung“. Einzeln betrachtet zeichnen diese Phänomene ein ziemlich barbarisches Bild von den Eskimos. Betrachtet man alles gemeinsam ergibt sich ein System von lebensnotwendigen Mechanismen. Mit anderen Worten – Polygamie, Selbstmord und Kindestötung sind lebensnotwendig für den Arterhalt.

Dazu Näheres: eine Gesellschaft, die sich ständig am Rande des Überlebens befindet – so eine Gesellschaft muß eigene Regeln haben. Um in Zeiten großer Nahrungsknappheit zu überstehen, praktizierten die Alten und Kranken der Familienverbände Selbstmord. Verschärfte sich die Krise noch, so war schon mal die Kindestötung vonnöten. Auffällig dabei ist, daß vielmehr kleine Mädchen der Kindestötung zu Opfer gefallen sind, als Buben. Kein ungerechter Akt der Männer über die Frauen, sondern nur der natürliche Ausgleich; denn während des gefährlichen Robben- und Walfangs der Eskimos, war das männliche Geschlecht stets größerer Dezimierung ausgesetzt als das weibliche.

Die Rechnung der Eskimos bei ihrer Notstrategie der Kindestötung ging nicht immer auf. So kam es vor, daß Generationen heranwuchsen, denen es an Frauen mangelte, jenen Frauen, die als Mädchen dem Infantizid zum Opfer gefallen sind. Was liegt da näher, als durch die Vielmännerei doch noch jedem Töpfchen sein Deckelchen zu geben.

Ein Singletum, wie es Gesellschaften in freundlicheren Naturräumen kennen, etwa in Form von klösterlichen Wohngemeinschaften oder Einsiedeleien, ist in Nordklimaten undenkbar. Das Schicksal eines jeden einzelnen ist extrem abhängig von der reibungslosen Arbeitsteilung in der Gesellschaft, vor allem zwischen Mann und Frau. Keine andere Ethnie praktiziert die geschlechtliche Arbeitsteilung so perfekt wie die Eskimos.

Welche Frauen sind es aber, die sich den Luxus, mehrerer Männer gleichzeitig zu haben, leisten können? Nicht etwa die Hübschesten sind die Begehrenswertesten, sondern die besten Köchinnen. Auch bei uns geht die Liebe bekanntlich durch den Magen, warum also nicht in Kanada. Die Eskimos, was im indianischen übrigens „Rohfleischfresser“ bedeutet, machen sich in Sachen Liebe nichts vor. Die perfekte Frau ist nicht nur die beste Köchin, sondern gleichzeitig die zäheste Schuhkauerin. Denn das Gerben der Schuhe aus Robbenfell ist ausschließlich Frauenarbeit. Auch die geschickteste Näherin hatte Aussicht auf eine Ehe mit mehreren Männern.

Die Liebe der Eskimos – und natürlich nicht nur ihre – geht also durch den Magen, die Füße und die warme Kleidung.

Oft war die Vielmännerei nur eine zeitlich begrenzte Angelegenheit. Nämlich dann, wenn eine Eskimofrau eine Jagdexpedition begleitete. Diese Begleiterinnen mußten besonders der Wertvorstellung von guter Köchin, Schuhkauerin und Näherin entsprechen, bevor sie als Mitglieder eines Jagdteams die ehelichen Pflichten und Rechte einer ganzen Männerschar erfüllen durften.

Vollkommen legitim für den Eskimo ist es, seine Frau mit einem Verwandten zu teilen. Vor allem jüngere Verwandte, die noch keine eigene Frau abbekommen hatten, waren temporär für ein Glück zu dritt willkommen. Doch die Betonung liegt hier auf temporär. Lange gingen solche Beziehungen nicht gut. Denn die temporäre Aushilfsehe ist eigentlich ihrem Wesen nach keine Ehe, sondern vielmehr dem Bereich Frauentausch hinzuzurechnen. Eine Sitte des hohen Nordens, über die in anderen Kapiteln berichtet wird.

Doch so idyllisch sich das Glück zu dritt auch anhören mag, es hat so seine Tücken. Das Problem ist der Mann. Er ist seinem Wesen nach ein besitzergreifender Wilder. Mord und Totschlag in Ehen der Vielmännerei waren keine Seltenheit. Nicht zuletzt war das ein Grund für die kanadische Regierung die Polygamie zumindest offiziell zu verbieten.

Diese Unverträglichkeit der Männer untereinander ist der ausschlaggebende Grund dafür, daß Vielmännerei verglichen mit Vielweiberei weltweit so selten vorkommt.

Der Besitz mehrerer Ehefrauen hat in Arabien wie im Norden Kanadas vornehmlich etwas mit Prestige zu tun. Doch während sich der Araber seinen Harem nach dem Inhalt seines Geldbeutels zusammenstellt, ergibt sich Prestige bei den Eskimos durch den Erfolg bei der Jagd. So werden den erfolgreichsten Jägern mehrere Frauen zugeteilt.

Neben erfolgreichen Jägern waren es die Schamanen, denen diese Ehre zukam. Der Schamane konnte es sich am ehesten leisten, mehrere Frauen zu versorgen. Denn er selbst wurde als Medizinmann auf Händen getragen und von den anderen Clanmitgliedern mitversorgt. Während bei den Männern das Teilen-Müssen einer Frau oft von Mord und Totschlag begleitet war, scheint den Frauen das Teilen weit weniger auszumachen. Die Frau ist eben verglichen mit dem Mann ein viel sozialeres Wesen. Eine andere Ursache für das Vorherrschen der Vielweiberei gegenüber der Vielmännerei ist der akute Männermangel in fast allen Gesellschaften.

Der bereits beschriebene Frauenmangel aufgrund der Tötung kleiner Mädchen bildet eine Ausnahme. Diese Ausnahme brachte allerdings weitere Ausnahmen mit sich – den „Frauenraub“ mit der „Raubehe“. Sie gelten seit dem missionierenden Einfluß des weißen Mannes als ausgestorben. Doch Forscher berichteten noch um die Jahrhundertwende vom Frauenraub beim Stamm der Copper und der Netselik.

Obwohl die Raubehe auch außerhalb arktischer Klimate vorkommt, die Regel war sie nie und nirgends. Denn nochmals, nicht Frauenmangel, sondern Männermangel kennzeichnet fast alle Gesellschaften. Besonders die älteren Männer raffte es bei der Jagd und in kriegerischen Auseinandersetzungen dahin. Die Witwen mußten irgendwie versorgt werden. Bei den Eskimos blieb nach dem Prinzip des Levirats die Witwe im Familienverband ihres Mannes und wurde als Ehefrau auf den nächstjüngeren Bruder des verstorbenen Gatten übertragen. Deshalb kennt die Eskimosprache keine Übersetzung für das Wort Witwe.

Neben den eigentümlichen Eheregelungen der Eskimos erscheinen uns ihre Verwandtschaftsbestimmungen als obskur. Zum Beispiel werden unehelich geborene Kinder automatisch der Verwandtschaft des zukünftigen Ehemannes zugesprochen. Dabei muß dieser Ehemann keinesfalls auch der wirkliche Vater des Kindes sein. Trotzdem wird die Verwandtschaftszugehörigkeit des Kindes über ihn und nur ihn bestimmt. Das bedeutet, daß die Verwandtschaft der Mutter für das Kind keine eigentliche Verwandtschaft mehr ist. Cousins und Cousinen mütterlicherseits gehören demnach nicht mehr zur Verwandtschaft. Damit stehen sie außerhalb von Inzesttabus und sind potentielle Ehepartner.

Die Verwandtschaftsbestimmung nur über Väter, der Fachausdruck heißt Patrilinearität, und der Umstand, daß voreheliche Kinder aber auch eheliche „Kuckuckseier“ automatisch dem Ehemann, mit dem die Mutter gerade verheiratet ist, zugesprochen werden, kann etwas vollkommen Paradoxes zustandebringen: Wenn beispielsweise die Frauen von zwei Brüdern oft fremdgehen, kann es durchaus passieren, daß ihre sämtlichen Nachkommen eigentlich gar nicht von ihren Ehemännern stammen. Damit sind diese Kinder untereinander nicht blutsverwandt. Trotzdem bilden sie ein Gruppe von Geschwistern, die untereinander nicht heiraten dürfen, da sie durch ihre vermeintlichen Väter als miteinander „blutsverwandt“ gelten.

Und es wird noch bemerkenswerter. Es ist möglich, daß, wenn eine Frau mit mehreren Männern gleichzeitig verheiratet ist und wenn diese Ehemänner nicht miteinander blutsverwandt sind, all ihre Kinder als nicht untereinander verwandt gelten und damit potentielle Ehepartner sind, obwohl sie dieselbe Mutter haben.

Der lockere Umgang mit Sex bringt den Eskimos noch andere Vorteile: so zum Beispiel eine Aushilfsfunktion bei Impotenz. Denn die Kinder aus temporären Ehen, etwa bei den sogenannten „Aushilfsehen“ gegenüber jüngeren Verwandten, werden immer dem Paar zugesprochen, das bei der Geburt des Kindes fest zusammen ist. Weil ihnen der biologische Vorgang der Zeugung nicht wichtig oder auch nicht ganz klar ist, gilt bei ihnen eben auch nicht der tatsächliche Zeuger als Vater, sondern der Geburtsbereiter. Genauso wie den Eskimos wichtig ist, daß das Wachstum des Geistkindes von einem Mann intensiv begleitet wird, so ist es ihnen auch wichtig, wer das Geistkind bei seinem Weg ins Leben begleitet. Nur dieser Begleiter – oft genug nicht der Zeugende selbst – wird deshalb als wirklicher Vater anerkannt.

Eine andere für das gefährliche Leben in der Eiswildnis sinnvolle Einrichtung der Eskimos ist das Frauenleihen. Es wird bei längeren Reisen praktiziert. Dabei kann während langer Reisen eine angemessenen Unterbringung der eigenen Frau bei Verwandten oder Bekannten erwartet werden. Verwandte sind von Vorteil, weil die Rückgabe der Frau problemlos ist. Bekannte sind deshalb mit Vorsicht zu genießen, da während einer langen Abwesenheit des Ehemannes, Annäherungsversuche nicht blutsverwandter Männer grundsätzlich berechtigt sind.