Schönheitsideale

Ein altes Wort bewährt sich leider auch an mir, daß Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereinen.

Goethe

 

Schon bei Tieren wird die Fortpflanzung nicht allein durch Instinkte eingeleitet, sondern durch Vorlieben für bestimmte Ausprägungen. Dabei können solche Ausprägungen höchst merkwürdige Dimensionen annehmen. So zum Beispiel bei den Nasenaffen Borneos. Die Riesennase männlicher Tiere soll sich von einer Generation auf die andere vererbt haben, so lange bis Tiere mit kurzen Nasen gänzlich ausgerottet waren. Dabei war entscheidend, daß Nasenaffen in Paschahorden zusammenleben. In solchen Horden hat der männliche Führer das alleinige Recht auf Kopulation. Um aber Führer zu werden, genügte womöglich nicht alleine die physische Überlegenheit, sondern war auch so etwas wie ein Schönheitsideal gefragt. Irgendwann haben die Weibchen angefangen, langnasige Leittiermännchen zu bevorzugen. Das Erbgut von Kurznasen verbreitete sich deshalb nicht weiter, während die Langnasen den Auslesewettbewerb gewannen: Nur wer die Nase vorn hatte, wurde gewählt – obwohl das Merkmal selbst keinen Zweck hat. Dieses Prinzip könnte man „Wahlverhaltens-Prinzip“ nennen. Ähnlich wirkt das „Handicap-Prinzip“. Es ist ebenfalls anwendbar auf die Nasenaffen und auch auf die Menschen. Denn auch in menschlichen Gesellschaften leisten sich Herrscher so unnützen Dekor, wie eine schwere Schleppe, um ihre Macht zu demonstrieren. Analog signalisieren Tiermännchen, die ein Handicap, wie z.B. eine zu lange Nase, haben und sich dennoch gegenüber Geschlechtsgenossen durchsetzen, daß sie körperlich und sozialstrategisch besonders fit sind. Weibchen wiederum schätzen solche Kandidaten.

Das Thema Schönheitsideale der Menschheit ist fast ebenso unerschöpflich wie die Menschheit selbst. Nur wenige, besonders auffallende Vorstellungen von der Schönheit des jeweils anderen Geschlechts sollen uns interessieren:

Daß zum Indianer lange Haare gehören, weiß man seit Karl May. Die Anasazi, ein untergegangener Stamm im Südwesten der USA, erkannten aber den produktiven Wert von Haar. Besonders aus dem viel kräftigeren Frauenhaar wurden Köcher für den Fang von Tieren geknüpft. Auch als Polstermaterial war das Frauenhaar gut geeignet. Folge dieser wirtschaftlichen Nutzung war, daß sich das kurze Haar bei Frauen als ein Schönheitsideal durchsetzte.

Die vornehme Blässe war immer wieder „in“. Auch auf der Südseeinsel Tonga gilt helle, weiche Haut als ein Zeichen des Adels. Deshalb halten sich Aristokratentöchter im Schatten der Palmen auf und werden ständig geölt, gebadet und gemästet. Dickleibigkeit gehört nämlich ebenfalls zum Ideal. Selbst im Schlaf wissen die Tonga-Schönheiten ihre Schönheit zu pflegen. Sie schlafen auf der Seite. Das schützt die Ellenbogen vor Abrieb. Rauhe Ellenbogen gelten nämlich als Makel und Zeichen von niedriger Herkunft. Außerdem werden den Aristokratentöchtern nachts die Beine verbunden, was nun allerdings weniger eine Maßnahme zur Erhaltung der Schönheit ist, als ein Schutz vor sexueller Belästigung durch herumstreunende Jünglinge.

In Burma dagegen liebt man Frauen mit langen Hälsen. Deshalb werden bereits kleinen Mädchen Ringe um den Hals gelegt, damit der Hals schlank bleibt. Mit fortschreitendem Alter bekommen die Mädchen und später die Frauen in regelmäßigen Abständen mehr und mehr Halsringe angepaßt. Auf diese Weise streckt sich im Laufe der Zeit das Genick bis auf eine Länge von 30 Zentimetern. Die Ringe, die in ihrer Gesamtheit die Halsstreckkrause bilden, können nicht mehr abgenommen werden. Denn die Bandscheiben zwischen den Halswirbeln sind überstreckt, und der gedehnte Hals würde ohne die stützende Krause in sich zusammenfallen.

Manche Stämme Afrikas gehen heute noch so weit, ihre Frauen durch das Durchlöchern der Ohrläppchen und Lippen zu schmücken. In die Löcher werden Tonplatten eingesetzt. Diese verformen sowohl die Ohrläppchen als auch die Lippen zu riesigen Lappen und gelten als geschmackliche Vollendung schlechthin. Allerdings ließ sich bei Befragungen der Stämme mit derlei Sitten nicht feststellen, ob diese Ohren und Lippenform tatsächlich ihren Bildern von Schönheit entspricht. Diese Befragungen ergaben eher ein ganz anderes Schönheitsideal. Die Wissenschaftler begannen zu zweifeln. Nach umfangreichen Untersuchungen wissen wir heute mehr. Die „Frauenverschandelung“, so hat man herausgefunden, geht auf die Versklavung und den damit verbundenen Frauenraub zurück. Noch vor dem arabischen und dem europäischen Sklavenhandel war die Sklaverei bereits ein Begriff innerhalb der afrikanischen Stämme. Schnell wurde begriffen, daß es vor allem die schönen Frauen waren, die, von anderen Stämmen geraubt, in die Harems der arabischen Fürsten oder in die Salons der europäischen Sklavenhändler geschleppt wurden. Also sah man sich notgedrungen gezwungen, eben diese Schönheit zu zerstören und die Frauen im Gesicht derart zu verunstalten, daß jedem Sklavenhändler die Lust zum Frauenraub verging. Daß eine Frau, mit derart verformten Lippen und Ohrläppchen, kein sonderlich attraktives Verkaufsobjekt war, dürfte wohl außer Frage stehen.

Ähnliches gilt auch für das künstliche Verlängern der kleinen Schamlippen bei den Hottentotten. Den Männern gefällt es angeblich, jedoch der ursprüngliche Sinn dieser Verschandelung lag im Schutz vor Frauenraub durch andere Stämme. Junge Frauen mit ausgeleierten Schamlippen zählten nämlich bei den umliegenden Gesellschaften nicht zu den Wunschobjekten der Begierde. Die Hottentotten aber hatten sich so einen wirkungsvollen Schutz gegen Frauenraub geschaffen. An die unumgängliche Abkehr von ihrem eigenen Schönheitsideal haben sie sich dann im Laufe der Zeit einfach gewöhnt. So seltsam das Schamlippendehnen auch ist, bei den Arapesh auf Papua-Neuguinea ist es ein Schönheitsideal und wird in den Menstruationshütten praktiziert. Es herrscht die Vorstellung, daß die Größe der Klitoris mit der sexuellen Fähigkeit korreliert; gemeint ist wohl die sexuelle Erfahrung, die ja auch bei uns einen direkten Bezug zur Größe der Schamlippen hat. Jedenfalls sind Frauen mit großen Kitzlern und Schamlippen bei den Arapesh besonders begehrt. Künstliche Verlängerungen bei Mädchen sind deshalb nichts Außergewöhnliches, vergleichbar etwa dem Aufkleben von falschen Wimpern bei unseren Mädchen. Verbreitet auf Papua sind Ritzungen auf Bauch und Unterleib. Diese Ritzungen sind Tätowierungen mit Relief. Das heißt, selbst nach Jahren kann und soll man sie noch spüren. Beim Ritzen mit einem scharfen Knochen wird in die frische Wunde Asche gestreut. Diese Verunreinigung der Wunde führt zu Entzündungen mit entsprechenden Vernarbungen und ergibt so das begehrte Relief. Das wiederum wirkt als Anreiz zum Spielen an den erogenen Zonen also bewirkt eine Stimulanz bei den Männern. Tatsächlich finden die Papuas die Ritzungen ihrer Frauen schön, doch haben sie außer der Erotik und der Ästhetik noch weitere Erklärungen für die Tattoos: Die erste Tätowierung wird mit dem Einsetzen der Monatsregel angebracht. Mit der immer wiederkehrenden Tattoo-Behandlung soll das schlechte weibliche Blut von dem guten männlichen Skelett getrennt werden. Laut Vererbungsmythos vieler Papua-Stämme vererbt nämlich der Vater seine Knochen und die Mutter ihr Fleisch und Blut dem Neugeborenen. Das Blut der Mädchen ist aber schlecht, weshalb der Körper es immer wieder abstoßen muß. Mit Ritzungen am Unterleib helfen die Papuas der Natur nach und verstärken den natürlichen Blutverlust während der Menstruation. Therapeutisch gesehen, sollen Ritzungen Beschwerden während der Mensis verhindern.

Mögen uns manche dieser Schönheitsideale auch recht merkwürdig vorkommen, unsere eigenen Kriterien sind es ebenso. Auch bei uns schwanken die Maßnahmen, die für die Erfüllung vermeintlicher Schönheitsideale ergriffen werden zwischen Komik und Tragik. Angefangen bei durch Muskelberge überwucherten Männerkörpern über eingepflanzte Silikonattrappen zur Erlangung jener monströsen Ballontitten, bis zu den magersüchtigen Models, die unendlich viele Frauen in die wahnwitzigsten und hin und wieder sogar tödlichen Diäten treiben.