Wenn es dunkel wird

Ich sah, wie Obould sein Schwert nach unten riss.

Mein Herz war vollkommen wehrlos. Erneut hatte ich Freunde gefunden, musste abermals zusehen, wie einer von ihnen starb, und abermals wurde mein Herz zerrissen.

Nun ist alles wieder Verwirrung, unterbrochen von Nadelstichen, die in meine verwundbarsten und empfindsamsten Bereiche vordringen, brennende Schmerzen verursachen und mir Bilder sterbender Freunde vor Augen rufen. Ich weiß, ich kann diese Steinmauer wieder errichten, um den Schmerz und die Bilder mit Hilfe von Zorn fern zu halten. Ich kann den Blick abwenden und mein Herz verbergen – aber ich weiß nicht, ob die Erleichterung diesen Preis wert ist.

Dies ist mein Dilemma.

Beim Tod von Tarathiel ging es um Tarathiel. Ich weiß, das ist offensichtlich, aber ich muss mich immer wieder an diese Wahrheit erinnern. Die Welt ist nicht mein Spielplatz, kein Theaterstück, das zu meinem Vergnügen oder meinem Schmerz aufgeführt wird und kein abstrakter Gedanke im Kopf von Drizzt Do'Urden.

Bruenors Sturz war für Bruenor wichtiger als für mich. Das Gleiche gilt für Zaknafeins Tod und den Tod all der anderen. Von dieser Wahrheit einmal abgesehen, gibt es jedoch immer noch meine eigene Empfindsamkeit, meine eigene Wahrnehmung der Ereignisse, meinen eigenen Schmerz, meine eigene Verwirrung. Ich denke, wir können die Welt nur durch unsere eigenen Augen sehen. Ja, es gibt Mitgefühl und Mitleid; häufig unterzieht man sich einer bewussten Anstrengung, um die Welt aus dem Blickwinkel eines Freundes oder sogar eines Feindes zu sehen – es ist ein wichtiges Element in dem Konzept von Wahrheit und Gerechtigkeit, von einer Gemeinschaft, die über unsere eigenen Bedürfnisse und Begierden hinausgeht. Aber am Ende zählt für uns alle doch nur unsere Individualität, und alles, was wir sehen, ist für uns selbst wichtiger als für die anderen, selbst wenn das, was wir sehen, für einen anderen ein kritischer Augenblick ist.

Ich kann die Eigensucht in einem solchen Verhalten nicht abstreiten, aber ich fliehe nicht vor dieser Wahrheit, denn es gibt nichts, was ich oder irgendwer sonst dagegen tun könnte. Wenn wir jemanden verlieren, den wir lieben, ist es auch unser Todesschmerz. Ein Vater und eine Mutter, die ihr eigenes Kind leiden sehen, empfinden ebenso viel Schmerz, wenn nicht sogar mehr als das leidende Kind; davon bin ich vollkommen überzeugt.

Und daher gebe ich mich im Augenblick dieser Eigensucht hin und frage mich, ob Tarathiels Tod eine Warnung oder eine Prüfung darstellte. Ich wagte es, mein Herz zu öffnen, und es wurde abermals zerrissen. Werde ich nun wieder zu diesem anderen Wesen, umhülle meinen Geist mit Stein, um ihn gegenüber solchem Schmerz unempfindlich zu machen? Oder ist dieser plötzliche und unerwartete Verlust eine Prüfung meines Lebenswillens, damit ich zeigen kann, dass ich die Grausamkeit des Schicksals akzeptieren und weitermachen, weiter an meine Prinzipien glauben und selbst angesichts des Schmerzes, den diese Bilder hervorrufen, weiterhin hoffen kann?

Ich denke, wir alle treffen solche Entscheidungen ununterbrochen und in unterschiedlichen Abstufungen. Jeden Tag, jeden Zehntag, stehen wir Missgeschicken gegenüber, und unsere Möglichkeiten zu reagieren, lassen sich für gewöhnlich auf zwei Wege reduzieren: Entweder wir bleiben auf Kurs – dem Kurs, den wir in besseren, hoffnungsvolleren Zeiten, basierend auf Prinzipien und Glauben festgelegt haben –, oder wir beschreiten den scheinbar leichteren und vorteilhafteren Weg einer defensiven Haltung, sowohl körperlich als auch emotional. Sowohl Individuen als auch Gesellschaften reagieren manchmal auf Angst und Schmerz, indem sie sich absondern, indem sie Freiheiten opfern und praktischen Nutzen höher stellen als Prinzipien.

Ist es das, was ich seit Bruenors Tod getan habe? Ist meine Verwandlung in den Jäger nur eine Taktik, um dem Schmerz auszuweichen?

Als ich vor einigen Jahren in Silbrigmond war, habe ich begonnen, die Geschichte dieser Region zu studieren, und einen Blick in die Aufzeichnungen über die vielen Kriege geworfen, die die Bewohner dieser seltsamen Gemeinschaft im Lauf der Jahrhunderte überstanden haben. Wenn Silbrigmond in Zeiten höchster Gefahr seine aufgeklärten Prinzipien beiseite schob – besonders den Gedanken, dass die Taten eines Einzelnen wichtiger sind als der Ruf des Volkes, dem dieser Einzelne angehört –, waren die Geschichtsschreiber alles andere als wohlwollend, das Vermächtnis alles andere als ruhmreich.

Genau das könnte wohl auch jeder, der sich dafür interessierte, über Drizzt Do'Urden sagen.

In der Höhle, in der Tarathiel und Innovindil ihr Lager aufgeschlagen hatten, gibt es einen kleinen Teich, an dem ich nun mit der trauernden Innovindil sitze. Wenn ich mein Spiegelbild in diesem Teich ansehe, fühle ich mich seltsam an Artemis Entreri erinnert.

Wenn ich der Jäger bin, dieser Krieger mit dem zugemauerten Herzen, der nur noch reagiert, macht mich das Entreri ähnlicher. Wenn ich Feinde angreife, nicht um die Gemeinschaft oder mich selbst zu verteidigen, sondern aus Zorn, bin ich diesem gefühllosen, verschlossenen Geschöpf sogar sehr ähnlich. Bei diesen Gelegenheiten werden meine Klingen nicht vom Gewissen geführt und nicht von Gerechtigkeit getrieben.

Nein, sie werden von Schmerz geführt und getrieben von Zorn.

Ich verliere mich selbst.

Ich sehe Innovindil auf der anderen Seite des Teichs, die immer noch um ihren geliebten Tarathiel weint. Sie läuft nicht vor der Trauer und dem Verlust davon. Sie öffnet sich ihnen, nimmt sie in ihr ganzes Wesen auf, macht sie zu einem Teil ihrer selbst, um sie zu besitzen, damit sie nicht von ihnen besessen wird.

Habe ich die Kraft, das Gleiche zu tun?

Ich bete darum, denn nun verstehe ich, dass ich nur durch Schmerz gerettet werden kann.

Drizzt Do'Urden