Herausforderung zur Freundschaft
Drizzt zog sich über den dunklen Felsen und stellte den Fuß geschickt auf den Vorsprung. Er setzte zum Sprung an, maß mit Blicken die Stelle ab, an der er landen würde, aber dann entspannte er sich und hielt inne, denn er sah, dass Guenhwyvar die Situation vollkommen unter Kontrolle hatte.
Unterhalb des Felsens stand die Drow-Frau, die Waffen in der Hand, aber sie sprach mit der Katze und bat sie, sich zurückzuhalten und sie nicht umzubringen.
»Wenn du die Waffen wegwerfen würdest, würde Guenhwyvar vielleicht nicht so hungrig dreinschauen«, rief Drizzt nach unten, und er war überrascht, wie gut er die selten benutzte Drow-Sprache noch beherrschte.
»Wenn ich das tue, wirst du dann dem Panther befehlen, mich zu töten?«, erwiderte sie.
»Das hätte ich längst tun können«, sagte Drizzt, »und ich selbst könnte ebenfalls schnell unten bei dir sein, das versichere ich dir. Du hast keine Wahl. Ergib dich, oder kämpfe und stirb.«
Die Frau blickte zu ihm auf – selbst aus der Ferne konnte er ihr höhnisches Lächeln sehen –, aber dann schaute sie zurück zu Guenhwyvar und warf wütend Schwert und Dolch auf den Boden.
Der Panther umkreiste sie weiterhin, näherte sich ihr aber nicht.
»Wie heißt du?«, fragte Drizzt und ging den steinigen Weg zu der kleinen Senke hinunter, in der die Katze die Frau gestellt hatte.
»Ich stamme aus der Familie Soldou«, erwiderte sie vorsichtig. »Ist dir dieser Name bekannt?«
»Nein«, erklärte Drizzt und war plötzlich direkt hinter ihr, denn er war rasch um die Senke herumgeeilt. Dass er so plötzlich auftauchte, erschreckte die Frau. »Und dein Nachname ist auch nicht wichtig für mich. Nicht annähernd so wichtig wie der Grund, wieso du hier bist.«
Langsam drehte sie sich zu ihm um. Sie war recht hübsch, bemerkte Drizzt, und trug das Haar so gescheitelt, dass die langen Strähnen die Hälfte ihres Gesichts bedeckten, eingeschlossen eins ihrer rötlichen Augen – nicht ein blutunterlaufenes Auge, wie man es oft bei Orks sah, sondern ein wirklich rotes.
»Ich bin auf ganz ähnliche Weise aus dem Unterreich geflohen wie du, Drizzt Do'Urden«, sagte sie, und obwohl er es gut verbarg, war Drizzt in der Tat überrascht, dass sie von ihm wusste. »Wenn du die Familie Soldou kennen würdest, wüsstest du, dass wir die Gunst der Spinnenkönigin verloren haben, und das auf eigenen Entschluss. Wir haben uns alle von dieser verdammten Dämonenkönigin losgesagt, und daher wurden wir beinahe alle vernichtet.«
»Aber du konntest fliehen.«
»Ich stehe hier vor dir.«
»In der Tat, und du warst in Begleitung eines anderen Drow, der mir wie ein ergebener Diener von Lolth vorkam«, stellte Drizzt fest, brachte Blaues Licht nach oben und ließ die Schneide an der Seite ihres Halses ruhen.
Sie zuckte nicht mit der Wimper.
»Nur um zu überleben«, versuchte sie zu erklären. »Ich habe mich immer noch nicht an diese glühende Kugel gewöhnen können, die ihren Weg über den Himmel brennt.«
»Das braucht Zeit.«
»Was den anderen Drow angeht – sein Name ist Ad'non –«
»War«, verbesserte Drizzt und zuckte die Achseln.
Auch das schien sie nicht zu berühren.
»Ich hätte ihn ohnehin bald umgebracht«, fuhr sie fort. »Ich konnte seine Bösartigkeit einfach nicht mehr ertragen. Sobald er sich ausgezogen hätte, um die gelähmte Elfenfrau zu vergewaltigen, hätte ich ihn getötet.«
Drizzt nickte, obwohl er ihr selbstverständlich kein Wort glaubte. Für eine angebliche Abtrünnige vom Weg der Drow war sie nur allzu bereit gewesen, einen oder zwei Bolzen in seinen Körper zu jagen.
»Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du heißt.«
»Donnia«, antwortete sie, und Drizzt war irgendwie erleichtert, dass zumindest das keine Lüge war. Er hatte schließlich gehört, wie der Mann sie beim Namen gerufen hatte. »Ich bin Donnia Soldou und suche den Segen von Eilistraee.«
Das verdutzte Drizzt ein wenig, und man sah es ihm offenbar an.
»Hast du von der Herrin des Tanzes gehört?«
»Gerüchte«, sagte Drizzt.
Er glaubte immer noch, dass sie log, aber er war gegen seinen Willen fasziniert, denn er hatte tatsächlich von der Göttin Eilistraee und ihren Gefolgsleuten gehört – es waren angeblich Drow, die einem Weg ähnlich dem seinen folgten.
»Es tut mir Leid, dass ich mich in der Elfenhöhle gegen dich gewandt habe«, fuhr Donnia fort. Sie senkte den Blick. »Du musst verstehen, dass mein Begleiter ein mächtiger Krieger war. Wenn er mich für eine Verräterin gehalten hätte, hätte er mich schon lange getötet.«
»Und du hast in all dieser Zeit keine Möglichkeit gefunden, ihn loszuwerden?«
Donnia starrte ihn an.
»Oder ist er nicht der einzige Gefährte, den du gefunden hast?«
»Es gab nur Ad'non«, sagte Donnia. »Na ja, Ad'non und seine Freunde, die Riesen und die Orks. Er ist schon seit vielen Jahren hier draußen, ein Abtrünniger wie du – obwohl er selbstverständlich ganz andere Ziele verfolgt. Er hat sich in den Gängen des oberen Unterreichs und des Grats der Welt herumgetrieben und sein Vergnügen gesucht, wo er es finden konnte.«
»Warum bist du dann nicht deiner eigenen Wege gegangen?«, fragte Drizzt.
Donnia nickte und rieb sich das Gesicht.
»Dann wäre ich allein gewesen«, flüsterte sie. »Allein und hier oben, an diesem Ort, wo ich niemanden kenne. Ich war schwach, Drizzt Do'Urden. Verstehst du das?«
»Ja«, gab Drizzt zu.
Er steckte Eistod ein und nahm Blaues Licht von Donnias Hals. Mit der freien Hand begann er sie abzutasten. Er fand einen Dolch in ihrem Gürtel und nahm ihn ihr ab, ebenso die Armbrust und einen Beutel mit Bolzen. Einer dieser Bolzen kam schnell und lautlos heraus, und der Waldläufer steckte ihn sich in den Gürtel. Dann tastete er auch ihre Beine ab und bemerkte eine winzige Unregelmäßigkeit oben an einem ihrer Stiefel. Er ignorierte das bewusst und fuhr mit der Hand über ihre Fußgelenke. Sie trug selbstverständlich ein Messer im Stiefel, und er tat so, als wäre es ihm bei seiner Inspektion entgangen.
»Deine Waffen sind Drow-Waffen«, stellte er fest und warf den anderen Dolch und die Armbrust neben ihr Schwert und den zweiten Dolch auf den Boden. »Sie werden dir hier oben wenig nutzen, wenn du vorhast, im Sonnenlicht zu bleiben.« Er steckte Blaues Licht ein. »Also komm mit«, befahl er und ging davon, vorbei an den am Boden liegenden Waffen.
Er warf einen Blick zurück zu Donnia, und als er bemerkte, dass sie ihn im Augenblick nicht beachtete, hakte er den Fuß unter die kleine Armbrust und riss sie schnell hoch, so dass er sie mit der freien Hand auffangen und in den Gürtel stecken konnte.
»Komm mit«, sagte er noch einmal und ging weiter.
Er hörte, wie Donnia einatmete, als sie an den Waffen vorbeikam, und er wusste, was sie dachte. Sie glaubte, dass er sie prüfte, dass er bereit war, die Klingen zu ziehen und sich zu verteidigen, falls sie nach einer der Waffen greifen sollte.
Als sie vorbei waren und die Waffen immer noch auf dem Haufen lagen, wusste Drizzt, dass Donnia glaubte, die Prüfung bestanden zu haben. Sie hatte keine Ahnung, dass diese erste Möglichkeit nur ein Trick gewesen war.
»Guenhwyvar«, rief der Waldläufer und versah die Falle mit einem noch besseren Köder. »Ich habe dich zu lange hier aufgehalten. Bitte geh nach Hause.«
Drizzt warf einen Seitenblick zu Donnia und beobachtete sie, während sie zusah, wie der große Panther im Kreis herumging, bis seine Umrisse verschwanden und er zu wehendem grauem Nebel wurde, der zunächst die Gestalt einer Katze hatte, sich aber bald vollkommen auflöste.
»Guenhwyvars Zeit hier ist begrenzt«, erklärte Drizzt. »Sie ermüdet schnell und muss in ihre astrale Heimat zurückkehren, um wieder jung zu werden.«
»Eine wunderbare Begleiterin«, stellte Donnia fest.
»Mit ihr sind wir zu viert«, erwiderte Drizzt. »Oder zu sechst, wenn man die Pegasi mitzählt, und ich versichere dir, sie sollten zählen.«
»Du bist also mit den Oberflächenelfen verbündet?«, fragte Donnia, und bevor Drizzt antworten konnte, fügte sie hinzu: »Das ist gut – sie sind gute Kameraden für die von unserer Art, die sich von der Spinnenkönigin losgesagt haben.«
»Mächtige Kameraden«, stimmte Drizzt zu. »Die Frau ist die Hohe Priesterin eines Elfengottes namens Corellon Larethian. Sie wird zweifellos mit dir sprechen wollen, um festzustellen, ob du die Wahrheit gesagt hast.«
Er bemerkte das geringfügige Zögern in Donnias Schritt, als sie ihm weiter folgte.
»Sie wird dich mit einem Zauber belegen«, fuhr Drizzt fort. »Aber du brauchst keine Angst zu haben; dabei geht es nur darum herauszufinden, ob du lügst. Sobald sie erkannt hat, wer Donnia Soldou ist…«
Mit einer plötzlichen Drehung nach rechts zog er Eistod aus der Scheide an seiner rechten Hüfte. Wie er erwartet hatte, hatte die erschrockene Donnia den Dolch bereits aus dem Stiefel gezogen und den Arm ausgestreckt.
Drizzt packte Donnias Handgelenk mit der rechten Hand, drehte ihre Klinge hoch und zur Seite, und der Krummsäbel stieß fest gegen ihre Rippen und riss eine lange Wunde. Donnia wand sich und versuchte auszuweichen, aber das gelang ihr erst, nachdem sie einen weiteren Schlag auf den ausgestreckten Arm erhalten hatte, hart genug, dass sie den Dolch loslassen musste. Sie umklammerte ihren rechten Arm, drückte ihn fest gegen die Wunde in ihrer rechten Seite und stolperte davon.
Drizzt rannte an ihr vorbei.
»Du hast also gelogen – als würde ich von einer Drow je etwas anderes erwarten!«, rief er und schnitt Donnia, die versuchte auszuweichen, den Weg ab. »Du wirst mir jetzt die Wahrheit sagen, oder du bist deinen Kopf los!«, erklärte er. »Warum bist du hier? Und wie viele von unserem Volk gehören zu deiner Bande?«
»Hunderte!«, schrie Donnia ihn an und versuchte immer noch zu entkommen. »Tausende, Drizzt Do'Urden! Und alle haben den Befehl, der Spinnenkönigin deinen Kopf zu bringen!«
Drizzt beeilte sich, ihr den Weg zu verstellen, und Donnia beschwor eine Kugel aus Dunkelheit herauf.
Sie rannte hinein und nahm an, dass er die Kugel nach der einen oder andern Seite umgehen würde. Sie eilte wieder aus der Kugel heraus und erreichte den Rand einer steilen Klippe. Ohne zu zögern sprang sie hinunter und bediente sich abermals der angeborenen Magie ihres Volkes. Bevor sie noch zwanzig Fuß nach unten gesackt war, begann sie sachte zu schweben.
»Du enttäuschst mich«, hörte sie Drizzt über sich, und sie spürte Ehrlichkeit in seiner Stimme, als hätte er ihre Geschichte wirklich ernst nehmen wollen.
Und tatsächlich, er hatte ihr glauben wollen. Er sehnte sich ungemein nach einem anderen Drow, einem, der so dachte wie er, seine Abenteuer teilte und wirklich die Einsamkeit verstand, die stets in seinem Herzen herrschte.
Donnias Lächeln war kaum vergangen, als sie auch schon das Klicken einer Armbrust über sich hörte, und dann spürte sie den Stich an ihrer Schulter. Sie verharrte noch einen Augenblick schwebend, wirkte der Schwerkraft mit ihrem Zauber entgegen. Dann starrte sie den Bolzen an und spürte, wie das Gift sich in ihrer Schulter ausbreitete.
Sie war reglos, hilflos, hing in der Luft.
Drizzt blickte auf sie herab und seufzte tief. Er ließ die Armbrust fallen – Donnias eigene Armbrust, die er aus dem Waffenhaufen aufgehoben hatte, als sie sich auf den Weg gemacht hatten – und sah zu, wie sie an ihr vorbeifiel, die ganzen zweihundert Fuß, und auf den Steinen unten zerbrach.
Drizzt hockte sich hin und stützte das Kinn auf die Hand. Er wandte den Blick allerdings nicht ab; er war entschlossen, es mit anzusehen.
Die gelähmte Donnia konnte die Magie nicht aufrechterhalten, und sie fiel. Sie konnte nicht einmal schreien, als sie stürzte, denn ihre Stimmbänder kamen nicht gegen das starke Gift an.
Erst im letzten Augenblick wandte Drizzt sich ab, denn er wollte nicht sehen, wie sie aufschlug. Aber dann schaute er wieder hin und sah die Drow-Frau auf den Steinen liegen und die Blutlache, die sie umgab.
Der Waldläufer seufzte erneut, aber er war nicht wirklich überrascht, dass es so zu Ende gegangen war. Dennoch, in diesem Augenblick wurde Drizzt Do'Urden nur von einem einzigen Gefühl beherrscht, nämlich von seinem Zorn darüber, wie vergeblich alles war.
Einen Augenblick später riss er sich zusammen, erinnerte sich daran, dass Tarathiel und Innovindil immer noch ziemlich hilflos sein mussten, und eilte zurück. Er fand sie in Sicherheit, und sie hatten bereits begonnen, sich ein wenig zu regen.
Innovindil griff nach ihrer Kleidung, als Drizzt hereinkam, also hob er die Sachen schnell vom Boden auf und reichte sie ihr, dann zog er sich zum Eingang zurück und begann, Ad'nons Überreste wegzuschaffen.
»Es ist gut, dich wiederzusehen, Drizzt Do'Urden«, sagte Tarathiel. »Und es war für uns eine sehr glückliche Begegnung.«
»Hast du dich um die andere Drow gekümmert?«, fragte Innovindil.
»Sie ist tot«, bestätigte Drizzt ernst. »Sie ist von einer Klippe gestürzt.«
»Hat es dir wehgetan, sie zu töten?«, fragte Innovindil.
Drizzt riss den Kopf zu ihr herum und sah sie aus zusammengekniffenen Augen an.
»Hat es?«, fragte Innovindil abermals, ohne mit der Wimper zu zucken.
Drizzt zuckte die Achseln. »Es tut jedes Mal weh«, gab er zu.
»Dann ist deine Seele noch intakt«, stellte Tarathiel fest. »Wenn das Töten dir nichts mehr ausmacht, dann solltest du Angst haben.«
Wie tiefgründig diese schlichte Bemerkung Drizzt in diesem Moment vorkam, in dem er irgendwo zwischen seinem wahren Ich und dem Jäger gefangen zu sein schien. Er fühlte sich tatsächlich seelenloser, wenn er der Jäger war. Den Jäger störte das Töten nicht. Er hatte nichts als die Befriedigung über seinen Sieg gespürt, als er Ad'non getötet hatte, aber Donnias Tod quälte ihn. Es musste irgendeinen Mittelweg geben, dachte Drizzt, eine Möglichkeit, zu kämpfen wie der Jäger und dennoch seine Seele zu behalten. Er dachte wieder über die vergangenen Jahre nach und glaubte, dass er diesen Ort schon einmal gefunden hatte. Er konnte nur hoffen, dass es wieder geschehen würde.
Drizzt durchsuchte Ad'nons Taschen, suchte nach einem Hinweis, wer dieser Dunkelelf gewesen war und wieso er sich hier aufgehalten hatte. Er fand nichts Besonderes, nur ein paar Münzen, die er nicht kannte. Aber etwas anderes weckte seine Aufmerksamkeit: das hellgraue Seidenhemd, das Ad'non unter dem Umhang trug. Dieses Hemd hatte Drizzts Krummsäbel aufgehalten; er konnte die Kerben sehen, wo seine Klingen getroffen hatten. Außerdem lag Ad'nons Leiche zwar in einer Blutlache, aber nichts davon schien das Hemd zu berühren.
»Starke Magie«, stellte Innovindil fest, und als Drizzt zu ihr hinsah, bedeutete sie ihm, das Hemd an sich zu nehmen. »Für den Sieger«, sagte sie.
Drizzt begann, der Leiche das Hemd auszuziehen. Sein eigenes Kettenhemd, von Bruenor selbst geschmiedet, musste dringend repariert werden, denn viele Kettenglieder waren gebrochen und einige von ihnen rieben ihn wund.
»Wir sind dir sehr dankbar«, erklärte Tarathiel. »Das weißt du natürlich.«
»Ich konnte nicht zulassen, dass sie euch etwas antun, und ich denke, ihr wärt mir ebenso zu Hilfe gekommen – tatsächlich habt ihr es schon einmal getan«, erwiderte Drizzt.
»Wir sind nicht deine Feinde«, sagte Tarathiel, und sein Tonfall ließ Drizzt aufblicken und den Elfen nachdenklich ansehen.
»Es war nie meine Absicht, mir die Feindschaft von Oberflächenelfen zuzuziehen«, erwiderte Drizzt, und sowohl sein Tonfall als auch die Worte waren viel sagend.
Es entging ihm nicht, dass Innovindil und Tarathiel einen Blick wechselten.
»Wir müssen dir leider mitteilen, dass du dir eine von uns tatsächlich zur Feindin gemacht hast«, gab Innovindil zu. »Auch wenn es nicht deine Schuld war.«
»Du erinnerst dich sicher an Ellifain«, fügte Tarathiel hinzu.
»Nur zu genau«, versicherte Drizzt, und er seufzte und senkte den Blick. »Als ich ihr das letzte Mal begegnete, nannte sie sich allerdings Le'lorinel und gab sich als Mann aus.«
Wieder schauten die beiden Elfen einander an, und Tarathiel nickte.
»So ist sie uns in Silbrigmond entkommen«, sagte er zu seiner Gefährtin.
»Sie hat dich verfolgt«, erklärte Innovindil. »Wir wussten, was sie vorhatte, wussten aber nicht, wo du warst. Wir haben versucht sie aufzuhalten – du musst uns glauben, wenn wir sagen, dass Ellifain keiner Vernunft mehr zugänglich war und gegen den Wunsch unseres Volkes handelte.«
»Sie war keiner Vernunft mehr zugänglich«, stimmte Drizzt zu.
»Und du hast mit ihr gekämpft?«, fragte Tarathiel leise und voller Sorge.
Drizzt sah zu ihm auf, aber er senkte den Blick sofort wieder und seufzte tief.
»Ich wollte es nicht … wenn ich es gewusst hätte, hätte ich …«, stotterte er. Er holte tief Luft und sah die beiden an. »Sie war mit ein paar Dieben zusammen, die meine Freunde und mich verfolgten. Ich hatte keine Ahnung, wer sie war – oder auch nur, dass sie eine Frau war –, als wir den Kampf begannen. Es wurde mir erst klar, als …«
»Als du ihr den Todesstoß versetzt hast«, sagte Tarathiel, und Innovindil wandte sich ab.
Drizzts Schweigen war Antwort genug.
»Ich hatte befürchtet, dass es so enden würde«, sagte Tarathiel zu Drizzt. »Wir haben versucht, Ellifain vor sich selbst zu retten – so wie du es zweifellos auch getan hast oder getan hättest, wenn du es gewusst hättest.«
»Aber sie war so voller Zorn, der sie über alle Vernunft hinaustrieb«, fügte Innovindil hinzu. »Mit jeder Geschichte, die wir über deine Erfolge im Dienst guter Völker hörten, wurde sie zorniger und war mehr überzeugt, dass man sie nur anlog. Sie war überzeugt, dass Drizzt Do'Urden eine Lüge war.«
Drizzt zuckte nicht mit der Wimper, als er erwiderte: »Vielleicht bin ich das ja.«
»Glaubst du das wirklich?«, fragte Innovindil, und Drizzt zuckte nur die Achseln.
»Wir können es dir nicht vorwerfen, dass du dich gegen Ellifain verteidigt hast«, erklärte Tarathiel.
»Es würde nichts ändern, wenn ihr es tätet«, sagte Drizzt, und das schien die beiden zu überraschen.
»Und daher können wir für unsere gemeinsame Sache kämpfen«, fuhr Tarathiel unbeirrt fort. »Seite an Seite.«
Drizzt starrte ihn einen Moment lang an, dann wandte er sich Innovindil zu. Es war ein verlockendes Angebot, aber es enthielt eine Verpflichtung, die Drizzt noch nicht eingehen wollte. Er schaute wieder Tarathiel an und schüttelte den Kopf.
»Ich jage allein«, erklärte er. »Aber ich werde da sein und euch helfen, wenn ich darf, in Zeiten, wenn ihr Hilfe braucht.« Er griff nach dem magischen Seidenhemd und setzte dazu an zu gehen.
»Wir werden immer deine Hilfe brauchen«, sagte Tarathiel hinter ihm. »Und wärst du nicht ebenfalls stärker, wenn …«
»Lass ihn gehen«, hörte Drizzt Innovindil zu ihrem Gefährten sagen. »Er ist noch nicht bereit.«
Am nächsten Morgen saß Drizzt Do'Urden auf einem Felsvorsprung und blickte zurück zu der Region, in der sich die Elfenhöhle befand. Er dachte über Tarathiels großzügiges Angebot nach. Er hatte gestanden, dass er ihre Freundin und Verwandte umgebracht hatte, aber die beiden Elfen verurteilten ihn nicht dafür.
Das warf ein ganz neues Licht auf den unseligen Vorfall mit Ellifain, aber Drizzt war nicht sicher, wie dieses Licht scheinen würde.
Außerdem hatte er nun Aussicht auf eine neue Freundschaft oder neue Verbündete, aber obwohl er sich von der Vorstellung angezogen fühlte, erschreckte sie ihn auch zutiefst.
Er hatte einmal wunderbare Freunde gehabt und die besten Verbündeten, die man sich wünschen konnte.
Früher einmal.
Also blieb er sitzen und starrte geradeaus, innerlich zerrissen, und fragte sich, was geschehen würde.
Und wie immer hatte er das Bild des einstürzenden Turms vor sich, der Bruenor in die Tiefe riss.
Drizzt verspürte das intensive Bedürfnis, in seine eigene Höhle zurückzukehren und den Helm mit dem einen Horn in die Hand zu nehmen, Bruenors Duft einzuatmen und sich an seine verlorenen Freunde zu erinnern. Er machte sich auf, um zu gehen.
Aber noch bevor der Tag zu Ende war, saß er wieder auf dem Vorsprung und blickte zu der Höhle von Innovindil und Tarathiel.
Er beobachtete interessiert, wie einer der Pegasi vorbeiflog und Tarathiel zum Höhleneingang brachte. Zu seiner Überraschung stieg der Elf zwar ab, aber er betrat die Höhle nicht sofort, sondern eilte auf den Vorsprung zu und rief: »Drizzt Do'Urden! Ich muss mit dir sprechen! Ich habe Neuigkeiten, die uns alle betreffen!«
Trotz seiner Bedenken, trotz des tiefen Schmerzes, der jede Faser seines Körpers durchdrang, ging Drizzt zu den beiden Elfen.
»Ein weiterer Stamm ist auf dem Weg zu der riesigen Ork-Armee«, sagte Innovindil zu Drizzt, als er die Höhle betrat. »Tarathiel hat gesehen, wie sie durch die Ausläufer des Grats der Welt gezogen sind.«
»Ihr habt mich gerufen, um mir zu sagen, dass es Orks in der Nähe gibt?«, fragte Drizzt ungläubig. »Es gibt keinen Mangel an-«
»Das sind nicht irgendwelche Orks, sondern ein neuer Stamm«, unterbrach ihn Tarathiel. »Wir haben gesehen, wie sie Stamm um Stamm zu dieser Armee stießen. Nun haben wir eine Gruppe gefunden, die sich noch nicht mit ihnen verbunden hat, aber auf dem Weg dazu ist.«
»Wenn wir heftig genug zuschlagen, werden sie sich vielleicht wieder in ihre Höhlen zurückziehen«, erklärte Innovindil. »Das wäre ein großer Sieg für unsere Sache.« Als Drizzt nicht reagierte, fügte sie hinzu: »Es wäre auch ein großer Sieg für die Zwerge, die Mithril-Halle verteidigen.«
»Wie viele?«, fragte Drizzt beinahe gegen seinen Willen.
»Ein kleiner Stamm – vielleicht fünfzig«, erwiderte Tarathiel.
»Wir drei sollen fünfzig Orks töten?«, fragte Drizzt.
»Eher zehn töten und die anderen vierzig in die Flucht schlagen«, sagte Tarathiel.
»Sollen sie in ihren Höhlen darüber flüstern, dass jedem, der sich dem Ork-Anführer anschließen will, der sichere Tod droht«, fügte Innovindil hinzu.
»Die Orks und Riesen haben eine gewaltige Armee zusammengebracht«, erklärte Tarathiel. »Wir fürchten, es sind Tausende von Orks und Hunderte von Riesen, und um ehrlich zu sein, werden sich unsere Anstrengungen gegen eine solche Armee am Ende als unwesentlich erweisen. Aber noch unheilverkündender für alle hier in der Gegend, seien es die Zwerge in Mithril-Halle, die Elfen im Mondwald oder die Bewohner von Silbrigmond, ist die scheinbar grenzenlose Verstärkung, die aus dem Grat der Welt strömt.«
»Zehntausend weitere Orks und Goblins könnten dem Ruf des Anführers dieser Armee folgen«, warf Innovindil ein.
»Aber vielleicht können wir diesen Zufluss von Ungeziefer aufhalten«, sagte Tarathiel. »Schicken wir diese Orks zurück, so dass sie ihre Verwandten davor warnen können, die Berge zu verlassen. Unser Sieg könnte groß sein, wenn wir die Orks so beunruhigen, dass sie lieber nicht mehr mitmachen wollen.« Er hielt inne und warf Drizzt einen fragenden Blick zu. »Das hier ist vielleicht unsere beste Chance, wirklich etwas zu bewirken. Nur wir drei.«
Drizzt konnte nicht leugnen, dass Tarathiels Argumente stichhaltig waren.
»Also schnell«, sagte Tarathiel, als klar wurde, dass Drizzt nicht widersprechen würde. »Wir müssen zuschlagen, bevor sie zu weit von ihren Höhlen entfernt sind, und bevor es Nacht wird.«
Drizzt staunte darüber, wie präzise die beiden Elfen den Anflug ihrer Reittiere berechnet hatten, um sich in einer Linie mit der untergehenden Sonne zu befinden, als sie sich den Orks näherten.
Guervhwyvar, die neben Drizzt saß, knurrte eifrig, aber Drizzt hielt sie zurück.
Die beiden Elfen auf den Pegasi kamen näher, und ihre Bögen surrten. Die Orks kreischten und zeigten zum Himmel.
»Jetzt, Guen«, flüsterte Drizzt und ließ den Panther los.
Guenhwyvar hielt sich nördlich der Orks, während Drizzt in die Gegenrichtung rannte und sich dem Stamm von Süden her näherte. Er geriet schon bald in den ersten Kampf, während er die Orks weiter nördlich vor Entsetzen über die große Katze schreien hörte. Drizzt war auf einen Felsblock gesprungen und starrte auf zwei Orks hinab, die sich vor den Pfeilen der Elfen in Sicherheit gebracht hatten. Er wartete, bis sie zu ihm aufblickten, dann sprang er zwischen sie.
Blaues Licht zuckte vor und versetzte dem linken Ork den Todesstoß, während Drizzt Eistod auf die flache Seite drehte, den Ork heftig damit schlug und in die Flucht jagte.
Links hinter ihm landeten die Pegasi, und die beiden Elfen schossen rasch mehrere Pfeile ab, dann sprangen sie aus dem Sattel und zogen die Schwerter.
»Für den Mondwald!«, hörte Drizzt Tarathiel rufen.
Trotz der Gefahr, die sie auf allen Seiten umgab, grinste der Drow, als er hinter dem Felsblock hervorkam und sich in einem vernichtenden Wirbel auf die nächsten Orks stürzte.
Neben ihm berührten sich Tarathiel und Innovindil an den Unterarmen und begannen mit ihren tödlichen Tanz.
Die Orks wichen zurück. Einer versuchte eine Neuformierung zu befehlen, aber Drizzt warf eine Kugel aus Dunkelheit nach dem Geschöpf.
Ein anderer schrie einen neuen Befehl – und sofort stürzte sich Guenhwyvar auf ihn.
Innerhalb von Augenblicken flohen die Orks wieder dorthin, wo sie hergekommen waren, und als die letzten Sonnenstrahlen verblassten, rannten sie immer noch, flankiert von Guenhwyvar zur Linken, von Drizzt zur Rechten und von Tarathiel und Innovindil und ihren Pegasi von hinten bedrängt.
Bald darauf sah Drizzt, wie die letzten beiden Orks in eine dunkle, weite Höhle rannten. Er folgte ihnen noch ein Stück und rief ihnen Drohungen zu. Als einer langsamer wurde und zurückschaute, eilte der Drow weiter und mähte ihn nieder.
Der andere schaute nicht mehr zurück.
Ebenso wenig wie der Rest des Stammes.
Drizzt stand im Höhleneingang, die Hände auf den Hüften, und starrte in den dunklen Gang. Guenhwyvar erschien auf leisen Pfoten neben ihm, und bald schon hörte er den Hufschlag der Pegasi.
»Genau, wie ich gehofft hatte«, erklärte Tarathiel, stieg ab und stellte sich neben Drizzt.
Er hob die Hand und tätschelte dem Drow die Schulter, und obwohl Drizzt erst ein wenig zusammenzuckte, zog er sich nicht zurück.
»Unsere Technik wird mit einiger Übung noch besser werden«, sagte Innovindil und kam an Drizzts andere Seite.
Der Drow blickte ihr forschend in die Augen und erkannte, dass sie ihn gerade wieder herausgefordert, ihn gerade wieder eingeladen hatte.
Er widersprach ihr nicht offen, und er wich auch nicht zurück, als sie sehr nah zu ihm trat.