Knochen und Steine

König Obould Todespfeil erkannte sofort das Problem, als man ihm berichtete, was in den Bergen östlich seiner derzeitigen Stellung geschah. Er widerstand seinem ursprünglichen Impuls, dem elenden Goblin, der die Botschaft überbracht hatte, den Schädel einzuschlagen, ballte nur die Faust und hob sie in einer für ihn typischen Haltung vor den Mund mit den gewaltigen Hauern, zu einer Geste, die gleichermaßen von Nachdenken und brodelnder Wut kündete.

Was ziemlich genau umriss, in welcher Stimmung der Ork-König sich tatsächlich befand.

Trotz des katastrophalen Endes der Belagerung von Senkendorf, als sich die dreckigen Zwerge in einer hohlen Statue von Gruumsh Einauge aufs Schlachtfeld gestohlen hatten, verlief der Feldzug wunderbar. Die Nachricht von König Bruenors Hinscheiden hatte Dutzende neuer Stämme aus ihren Höhlen zu Oboulds Armee geführt, was selbst die lästige Gerti Orelsdottr und ihre eingebildeten Eisriesen zum Schweigen gebracht hatte. Oboulds Sohn Urlgen scheuchte die Zwerge vor sich her – nach seinem letzten Bericht hatten sie schon den Rand von Mithril-Halle erreicht.

Dann trafen die ersten Nachrichten über Feinde hinter Oboulds Linien ein. Bei einem Angriff auf ein Ork-Lager waren die meisten Orks getötet und die anderen wieder in ihre Berghöhlen zurückgetrieben worden. Obould kannte seine Leute gut genug, um zu wissen, dass in diesem kritischen Augenblick die Moral das Wichtigste war – und es vermutlich auch während des gesamten Feldzugs bleiben würde. Die Orks waren ihren Feinden im Norden zahlenmäßig erheblich überlegen und konnten es im Kampf Mann gegen Mann durchaus mit Menschen und Zwergen und sogar mit Elfen aufnehmen. Ihre größte Schwäche lag in ihrem Mangel an Koordination zwischen den einzelnen Truppen und dem grundlegenden Misstrauen zwischen rivalisierenden Stämmen. Siege führten zu mehr Zusammenhalt, aber Berichte wie der über diese niedergemetzelte Gruppe konnten dafür sorgen, dass viele potenzielle Krieger sich wieder in die Sicherheit ihrer Höhlen unter den Bergen zurückzogen.

Es war kein guter Zeitpunkt für solche Nachrichten. Obould hatte von einer weiteren Versammlung der Schamanen mehrerer ziemlich großer Stämme gehört, und negative Bemerkungen von diesen Schamanen könnten den Zulauf zu Oboulds Heer gewaltig verringern.

Eins nach dem anderen, sagte er sich, und dachte genauer über die Worte des Goblin-Boten nach. Er musste herausfinden, was los war, und zwar schnell. Zum Glück befand sich eine Person in seinem Lager, die ihm vielleicht helfen konnte.

Er schickte sowohl den Goblin als auch seine Diener weg und ging zum Südende des großen Lagers, zu der Besucherin, die er schon viel zu lange hatte warten lassen.

»Ich grüße dich, Donnia Soldou«, sagte er.

Die Drow drehte sich um – sie hatte bereits gespürt, dass er in der Nähe war, das wusste er –, spähte unter der Kapuze ihres magischen Piwafwi hervor, und in ihren rötlichen Augen lag ein ebenso strahlendes und boshaftes Lächeln wie auf ihren Lippen.

»Du hast viel erreicht, höre ich«, stellte sie fest und bewegte leicht den Kopf, was ihr weißes Haar über ein Auge fallen ließ.

Geheimnisvoll und verführerisch wie immer.

»Es wird noch viel besser werden«, behauptete Obould. »Urlgen scheucht die Zwerge wieder in ihr Loch, und wer wird dann die Siedlungen verteidigen?«

»Einen Feldzug ordentlich beenden und erst dann mit dem nächsten beginnen?«, fragte Donnia. »Ich hätte dich für ehrgeiziger gehalten.«

»Wir können nicht einfach nach Mithril-Halle rennen und uns niedermetzeln lassen«, entgegnete Obould. »War das nicht die Taktik, die deine eigenen Leute angewandt haben?«

Donnia lachte nur über diese beleidigend gemeinten Worte, denn es waren nicht »ihre« Leute gewesen. Die Drow von Menzoberranzan hatten Mithril-Halle angegriffen und waren vernichtend geschlagen worden, aber das interessierte Donnia Soldou nicht wirklich, denn sie kam nicht aus der Spinnenstadt und mochte sie nicht besonders.

»Hast du von dem Gemetzel im Lager des Reißzahnstamms gehört?«, fragte Obould.

»Ja. Sieht so aus, als wären sie einem Furcht erregenden Feind – oder mehreren – begegnet«, erwiderte Donnia. »Ad'non ist schon auf dem Weg dorthin.«

»Bring mich ebenfalls hin«, verlangte Obould, was Donnia offensichtlich überraschte. »Ich will es selbst sehen.«

»Wenn du zu viele Krieger mitnimmst, wird das die Nachrichten von dem Gemetzel nur weiter verbreiten«, wandte Donnia ein. »Willst du das riskieren?«

»Wir beide werden gehen«, erklärte Obould. »Wir allein.«

»Und wenn diese Feinde, die den Reißzahnstamm niedergemetzelt haben, noch in der Nähe sind? Das könnte gefährlich werden.«

»Wenn diese Feinde noch in der Nähe sind und sie Obould angreifen, wird es für sie gefährlich, und zwar sehr«, knurrte der Ork-König, was Donnia ein Lächeln entlockte. Weiße Zähne blitzten vor ebenholzfarbener Haut.

»Also gut«, gab sie nach. »Sehen wir mal, was wir über unseren geheimnisvollen Feind herausfinden können.«

Der Schauplatz des Gemetzels war nicht weit entfernt, und Donnia und Obould erreichten ihn noch am gleichen Tag. Sie stießen dort nicht nur auf Ad'non Kareese, sondern auch auf Donnias Mitverschwörer Kaer'lic Suun Wett und Tos'un Armgo.

»Es können nur wenige Angreifer gewesen sein«, erklärte Ad'non den beiden Neuankömmlingen. »Wir haben gehört, dass in dieser Gegend zwei Elfen auf Pegasi unterwegs sind, und wir nehmen an, dass sie für das Gemetzel verantwortlich waren.«

Während Ad'non diese Worte aussprach, teilte er Donnia mit Hilfe der geheimen Fingersprache der Drow etwas vollkommen anderes mit.

Das hier war die Arbeit eines Drow, signalisierte er.

Donnia wusste, um wen es sich handelte, denn sie und ihre Gefährten hatten bereits gehört, dass König Bruenor von Mithril-Halle einen sehr ungewöhnlichen Dunkelelfen zum Freund hatte, einen Abtrünnigen, der vom Weg der Spinnenkönigin und seines finsteren Volkes abgewichen war. Offensichtlich war Drizzt Do'Urden aus Senkendorf entkommen, wie sie schon nach den Berichten von Gertis Eisriesen angenommen hatten, und offensichtlich war er nicht nach Mithril-Halle zurückgekehrt.

»Elfen«, wiederholte König Obould angewidert, und das Wort wurde zu einem lang gezogenen Knurren, bei dem der Ork abermals die geballte Faust vor den Mund hob.

»Wenn sie wirklich auf geflügelten Pferden unterwegs sind, werden sie nicht schwer zu finden sein«, versicherte Donnia Soldou Obould.

Der Ork-König knurrte weiterhin wütend und starrte mit blutunterlaufenen Augen zum Horizont, als erwartete er, dass die Pegasi-Reiter dort jeden Moment auftauchen würden.

»Du kannst es den anderen Anführern gegenüber als isolierten Angriff darstellen«, schlug Ad'non vor. »Donnia und ich werden dafür sorgen, dass Gerti sich nicht zu viele Gedanken darüber macht.«

»Verwandle die Angst in eine Herausforderung«, fügte Donnia hinzu. »Biete eine hohe Belohnung für jeden an, der dir die Köpfe der Täter bringt. Das allein wird genügen, um die anderen Stämme zu größerer Wachsamkeit zu veranlassen, wenn sie auf dem Weg zu deiner Hauptstreitmacht sind.«

»Und was das Wichtigste ist: Hier hat eine kleine Gruppe zugeschlagen, die aus dem Hinterhalt arbeitet, aber für größere Truppenteile sollte keine Gefahr bestehen«, fuhr Ad'non fort. »Diese Orks waren nicht wachsam genug, und so wurden sie getötet. Das ist im Grunde nichts Neues.«

Oboulds Knurren hatte langsam nachgelassen, und er nickte seinen Drow-Beratern zustimmend zu. Dann machte er sich auf, um das Lager und die toten Orks zu inspizieren, und die beiden Drow gesellten sich zu ihren Freunden und taten das Gleiche.

Kein Oberflächenelf, bedeuteten Ad'nons Finger seinen drei Drow-Gefährten, obwohl Kaer'lic Suun Wett nicht auf ihn achtete und sich etwas von der Gruppe entfernt hatte. Bei den Wunden handelt es sich überwiegend um Schnittwunden, nicht um die Stiche eines Elfenschwerts. Keiner wurde von Pfeilen getötet, und die Oberflächenelfen, die nördlich von Senkendorf gegen die Riesen gekämpft haben, taten das mit Pfeil und Bogen und vom Himmel aus.

Tos'un Armgo ging vorsichtig um die Leichen herum, bückte sich und untersuchte sie genauer.

»Drizzt Do'Urden«, flüsterte er den anderen zu, und als Obould zu ihnen zurückkehrte, kommunizierte er in der Zeichensprache weiter. Drizzt verwendet Krummsäbel.

Kaer'lic stieß kurz nach Obould ebenfalls wieder zu der Gruppe, und auch sie bediente sich der Fingersprache: Katzenspuren rings um das Lager.

Drizzt Do'Urden, wiederholte Tos'un.

Von einer Anhöhe im Nordosten beobachtete Urlgen Dreifaust die große, dunkle Masse von Orks, die den Hang hinaufstürmten. Seine Leute hatten die Zwerge bis an den Rand der steilen Klippe gedrängt, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als sie alle dort hinunterzustürzen. Urlgen hatte genügend Hochachtung vor der Zähigkeit und der Arbeitsmoral seiner Feinde, um zu begreifen, dass sie sich mit jeder Stunde, in der sie dort oben ungestört waren, besser verschanzen würden. Seine eigenen Leute waren auf einen solchen Angriff kaum vorbereitet: Die Riesen hatten sie noch nicht eingeholt, und viele der Krieger waren neu in seiner Truppe und kannten sich noch nicht mit Formationen und Befehlshierarchie aus.

Urlgen würde schon bald mehr Krieger und mehr Waffen erhalten, was eine andere Taktik ermöglichte, aber in der gleichen Zeit würden die Zwerge weiter an ihren Verteidigungsanlagen arbeiten.

Nachdem er das alles abgewogen hatte, hatte der Ork-Anführer, den der unerwartete Ausbruch der Feinde aus Senkendorf immer noch ärgerte, seine Leute erneut in den Kampf geschickt. Er ging davon aus, dass ein Angriff die Zwerge zumindest davon abhalten würde, sich besser vorzubereiten.

Dennoch, er verzog das Gesicht, als sich die Spitze seiner Ork-Massen dem Rand des Steilhangs näherte, denn die Zwerge fielen mit solcher Wut über sie her! Als Erstes kamen Steine, die geworfen oder gerollt wurden, und dazu diese vernichtenden silbrigen Pfeile, die Urlgens Streitmacht schon bei Senkendorf so dezimiert hatten. Der Ork-Anführer wusste, dass seine Leute dutzendweise starben. Viele, die die erste Angriffswelle überlebt hatten, gerieten in Panik, und die Verwirrung und Angst der Orks machten den Zwergenangriff nur noch wirkungsvoller und gestatteten es dem bärtigen Volk, tief in Urlgens Linien einzudringen.

Die Orks, die fliehen wollten, wurden von den nachdrängenden Truppen davon abgehalten, und dieses Durcheinander kam den aggressiven Zwergen sehr entgegen.

Es regnete weiterhin Pfeile, und nun trieb am östlichen Ende der Zwergenfront außerdem eine hoch aufragende Gestalt die Orks ungestraft vor sich her.

»Was sollen wir machen?«, fragte ein dünner Ork Urlgen und sprang hektisch auf und ab. »Was sollen wir bloß machen?«

Ein weiterer Anführer kam zum Sohn des Königs gerannt.

»Was sollen wir machen?«, fragte auch er.

Und dann erschien ein dritter: »Was sollen wir machen?«

Urlgen beobachtete weiterhin die wilde Schlacht an dem felsigen Abhang. Ja, einige Zwerge fielen, aber es waren überwiegend Orks, die am Boden lagen. Die Schlacht war in vollem Gange, und Urlgens Leute dachten nicht einmal daran, akzeptable Formationen zu bilden, während sich die Zwerge in zwei Karrees aufgestellt hatten, die einen Keil flankierten. Als dieser Keil vordrang, verband sich seine breite Basis mit den Ecken der Karrees, und auch die Karrees bewegten sich weiter vorwärts. Eine Reihe jedes Karrees löste sich, verband sich mit dem Keil und verwandelte diesen in ein weiteres Karree, während die flankierenden Zwerge sich zu offensiveren Formationen aufstellten.

Urlgen erschienen diese Bewegungen wie ein Wunder, denn hier wurden mit unglaublicher Präzision und Disziplin all jene Manöver vollzogen, die er und sein Vater versucht hatten, ihren Ork-Horden einzubläuen. Wenn man dieses einseitige Gemetzel betrachtete, hatten seine Soldaten offensichtlich noch viel zu lernen.

Urlgen war so gebannt von den paradeähnlichen Manövern der erfahrenen Zwerge, dass er seine drei Unterführer lange Zeit kaum beachtete, während sie weiterhin um ihn herumsprangen und immer wieder »Was sollen wir machen?« schrien.

Erst nachdem schon lange klar war, dass der Kampf eindeutig zugunsten der Zwerge ausgehen würde, wandte er sich ihnen zu.

»Rückzug!«, befahl er. »Holt sie zurück, holt sie alle zurück. Wir warten ab, bis Gertis Riesen hier sind.«

In den nächsten Minuten beobachtete Urlgen, wie der Befehl weitergegeben wurde und seine Soldaten darauf reagierten. Es war nicht zu übersehen, dass seine Leute beim Rückzug viel besser waren als beim Angriff.

Sie ließen viele zurück, als sie über die Steine wieder hangabwärts stürmten – über Steine, die rutschig waren von Blut. Unzählige Orks lagen dort tot oder sterbend, und die Verwundeten schrien und stöhnten, bis die Zwerge vorbeikamen und dem Schreien mit einem festen Schlag auf den Kopf für immer ein Ende bereiteten.

Aber es lagen auch tote Zwerge auf den blutigen Steinen, und Orks störten sich wenig an Verlusten. Urlgen nickte. Seine Streitmacht würde weiter wachsen, und er hatte vor, sie immer wieder gegen die Zwerge anstürmen zu lassen, deren Reihen gelichtet waren. Der Ork-Anführer wusste, was sich hinter der Stellung der Zwerge befand.

Er wusste, er hatte sie in die Enge getrieben. Um diese Gruppe zu retten, würden viele aus Mithril-Halle kommen und einen umständlichen Weg nach Osten oder Westen nehmen müssen, oder die Zwerge dort oben mussten ihre Stellung aufgeben und einen Ausbruch versuchen. Ganz gleich, was geschah, Urlgens Truppen würden die von Obould gestellte Aufgabe auf jeden Fall erfüllen können.

Und das würde seine Position in dem wachsenden Ork-Heer weiter stärken.

»Wir wissen, dass es Drizzt Do'Urden war, aber wir sagen Obould, dass Oberflächenelfen diese Orks getötet haben«, erklärte Tos'un Armgo den anderen Drow, nachdem sie sich in eine gemütliche Höhle zurückgezogen hatten, um die neuesten Entwicklungen zu besprechen.

»Und das führt dazu, dass Obould die Oberflächenelfen nur noch mehr hasst«, erwiderte Donnia und verzog den Mund zu einem hinreißenden Lächeln, das beinahe die weißen Haarsträhnen erreichte, die ihr diagonal in das wie gemeißelte Gesicht fielen.

»Dazu braucht es nicht viel Überredung«, stellte Kaer'lic fest.

»Aber was wichtiger ist, Obould soll nicht annehmen, dass es Drow gibt, die gegen ihn arbeiten«, sagte Ad'non Kareese.

»Er weiß bereits bis zu einem gewissen Grad von Drizzt«, wandte Kaer'lic ein.

»Ja, aber vielleicht können wir das Problem des Abtrünnigen ein wenig herunterspielen, bevor es schwerwiegend genug wird, um Obould gegen uns aufzubringen«, sagte Ad'non. »Er denkt offenbar in Kategorien von Völkern und nicht von Individuen.«

»Ebenso wie Gerti«, erklärte Kaer'lic. »Und wir.«

»Ja, es sieht so aus, als wären Drizzt und seine Freunde die Einzigen, die nicht so denken«, sagte Tos'un, und diese schlichte Aussage verblüffte alle.

Die vier Drow sahen einander an, aber angesichts der dringlichen aktuellen Probleme konnten sie sich nicht lange den philosophischen Erkenntnissen widmen, die möglicherweise mit dieser Aussage verbunden waren.

»Glaubst du, wir sollten etwas unternehmen, um Drizzt Do'Urden zu beseitigen?«, fragte Kaer'lic Ad'non. »Denkst du, dass er ein Problem für uns darstellt?«

»Ich befürchte, er könnte eins werden«, erwiderte Ad'non.

»Es könnte große Vorteile haben, ihn zu eliminieren.«

»Das dachte man in Menzoberranzan ebenfalls«, erinnerte ihn Tos'un Armgo. »Ich glaube, die Stadt hat sich von dieser Idee immer noch nicht erholt.«

»Menzoberranzan hat gegen mehr gekämpft als gegen Drizzt Do'Urden«, wandte Donnia ein. »Wäre sein Tod nicht auch der Wunsch von Lady Lolth?«

Bei dieser Frage wandte Donnia sich an Kaer'lic, die Priesterin der Gruppe, und Ad'non und Tos'un folgten ihrem Beispiel. Kaer'lic schüttelte jedoch den Kopf.

»Drizzt Do'Urden ist nicht unser Problem«, sagte sie, »und wir würden gut daran tun, außer Reichweite seiner Krummsäbel zu bleiben. Lady Lolths wichtigste Forderung an uns ist stets, dass wir vernünftig bleiben, und ich möchte ebenso wenig Drizzt Do'Urden angreifen, wie Obould überhastet nach Mithril-Halle schicken. Wir haben diese ganze Geschichte nicht mit so großem Aufwand angefangen, um sie nun leichtfertig wieder aufs Spiel zu setzen. Ihr erinnert euch doch noch an unsere Wünsche und unseren Plan, oder? Ich werde nicht zulassen, dass der Spaß, den ich hier habe, an der Spitze von einem von Drizzt Do'Urdens Krummsäbeln endet.«

»Und wenn er nach uns sucht?«, fragte Donnia.

»Das wird er nicht, solange er nichts von uns weiß«, erwiderte Kaer'lic. »Und außerdem sind meine liebsten Kriege jene, die ich aus der Ferne beobachten kann.«

Donnias säuerliche Miene war schwer zu übersehen, ebenso wenig wie Ad'nons eindeutige Enttäuschung.

Aber Kaer'lic hatte einen sehr überzeugenden Verbündeten.

»Ich bin ganz ihrer Meinung«, sagte Tos'un. »Seit seinen Tagen in Menzoberranzan war Drizzt für alle, die ihm gegenüberstanden, nichts als ein Problem, und häufig ein tödliches. Als ich nach der Katastrophe beim Angriff auf Mithril-Halle durch das obere Unterreich wanderte, hörte ich viele Geschichten über die Auswirkungen der ganzen Sache auf Menzoberranzan. Offenbar ist Drizzt kurz nach dem Angriff auf Mithril-Halle nach Menzoberranzan zurückgekehrt, wurde von Haus Baenre gefangen genommen und in den Kerker geworfen.«

Die anderen sahen ihn gespannt an, denn das mächtige und gnadenlose Haus Baenre war überall im Unterreich bekannt.

»Und dennoch gelang es ihm, zu seinen Freunden zurückzukehren, und in Menzoberranzan hinterließ er nur Zerstörung«, fuhr Tos'un fort. »Manchmal kommt es mir so vor, als wäre er ein grausamer Scherz von Lady Lolth, ein Instrument des Chaos in verräterischem Gewand. Die Drow von Menzoberranzan haben mehr als einmal die Vermutungen angestellt, dass Drizzt von der Herrin des Chaos selbst geleitet wird und sie sich an seinen Taten erfreut.«

»Bei jeder anderen Gottheit wären solche Worte Blasphemie«, erwiderte Kaer'lic und lachte leise über die Ironie der Situation.

»Du kannst doch nicht glauben …«, setzte Donnia an.

»Ich brauche es nicht zu glauben«, unterbrach Tos'un sie. »Drizzt Do'Urden ist entweder erheblich furchterregender, als wir bisher ahnten, oder er hat gewaltiges Glück, oder er steht tatsächlich in der Gunst der Göttin. Wie auch immer, ich habe nicht vor, mich mit ihm anzulegen.«

»Ganz deiner Meinung«, sagte Kaer'lic.

Donnia und Ad'non wechselten noch einen Blick, aber dann zuckten beide die Achseln.

»Das hier ist ein prächtiges Spiel«, sagte Banak Starkamboss zu Felsenfuß, der neben ihm stand. »Nur, dass so viele dabei umkommen.«

»Zumindest sterben mehr Orks als Zwerge«, stellte Felsenfuß fest.

»Immer noch nicht genug Orks, und zu viele Zwerge. Sieh sie dir an! Sie kämpfen voller Wut, stecken ihre Wunden ein, ohne sich zu beschweren, und sie werden sterben, wenn die Götter das wünschen.«

»Sie sind Krieger«, erinnerte ihn Felsenfuß. »Zwergenkrieger. Das hat etwas zu bedeuten.«

»Selbstverständlich«, stimmte Banak ihm zu.

»Dein Plan hat funktioniert; wir haben die Orks in die Flucht geschlagen«, stellte Felsenfuß fest.

»Es war nicht mein eigener Plan«, erklärte der Kommandant. »Er stammt von diesem Felsenschulter-Bruder – dem normalen –, und Torgar aus Mirabar hat mir ebenfalls geholfen. Wir haben da ein paar gute Freunde gefunden.«

Felsenfuß nickte und beobachtete weiter die präzise Zusammenarbeit der drei verbundenen Formationen, die sich den Hang hinunter bewegten und die Orks vor sich hertrieben.

»In ein paar hundert Jahren wird ein Kind des einen oder anderen Volks hierher kommen«, sagte Banak kurz darauf. Er beobachtete den Kampf nicht einmal mehr, sondern betrachtete die Leichen, die auf den Steinen lagen. »Es wird die bleichen Knochen jener sehen, die hier gekämpft haben. Zunächst wird es sie für Steine halten, aber dann erkennt es sie als das, was sie sind, und es wird wissen, dass es sich am Schauplatz einer großen Schlacht befindet. Wird so weit in der Zukunft noch irgendwer wissen, was wir hier getan haben? Oder warum? Werden sie wissen, um was es uns ging, oder was die Orks wollten?«

Felsenfuß starrte Banak Starkamboss lange und forschend an. Der hoch gewachsene, kräftige Zwerg war seit Jahrhunderten eine beeindruckende Gestalt in der Heldenhammer-Sippe, obwohl er sich für gewöhnlich zurückhielt und selten Vorschläge machte, solange Anführer wie Bruenor oder Dagna ihn nicht darum baten. Aber es gab auch noch eine andere Seite von Banak, die ihn wirklich von seinen Verwandten unterschied. Er sah die Welt mit anderen Augen und schien gegenwärtige Ereignisse stets im Zusammenhang mit dem wahrzunehmen, was ein Historiker in der Zukunft daraus machen würde.

Ein Schrei rechts von ihnen lenkte die Aufmerksamkeit der beiden in diese Richtung, wo sie die hervorragende Zusammenarbeit von Wulfgar und Catti-brie beobachten konnten, die die Flanke hielten. Orks näherten sich dem Paar eher zögernd, und viele wurden ein Opfer von Catti-bries tödlichem Bogen und ihrem endlosen Nachschub an Pfeilen. Jene, die dem raschen Tod durch diese Geschosse entgingen, wünschten sich schon bald, sie wären getroffen worden, denn sie bekamen es mit dem Barbaren Wulfgar und seinem vernichtenden Hammer zu tun, dem wundersamen Aegis-fang, den Bruenor Heldenhammer persönlich geschmiedet hatte. Noch während Banak und Felsenfuß sich auf die beiden konzentrierten, schlug Wulfgar einem Ork so fest auf den Kopf, dass dessen Schädel einfach explodierte und den Barbaren und die anderen angreifenden Orks mit Blut und Gehirnmasse bespritzte.

Ein Pfeil schoss an Wulfgar vorbei und traf einen weiteren Ork, und der in weitem Schwung geführte Aegis-fang ließ die verbliebenen zwei taumeln; einer fiel sofort um und der andere stolperte rückwärts.

Catti-brie erwischte den zweiten; ein Schlag von Aegis-fang erledigte den am Boden.

»Diese beiden schaffen Legenden, die Jahrhunderte weiterleben werden«, stellte Felsenfuß fest.

»Bis zu einem gewissen Punkt«, sagte Banak. »Dann wird man auch sie vergessen.«

Felsenfuß sah ihn neugierig an, überrascht von dieser düsteren Aussage.

»Ich höre«, sagte Banak, »dass König Bruenor auf dem Weg nach Hause durch den Gräuelpass marschiert ist.«

Felsenfuß nickte. Immerhin war er selbst dabei gewesen.

»Habt ihr dort Knochen gefunden?«, fragte Banak.

»Mehr, als wir zählen konnten«, erwiderte der Priester.

»Denkst du nicht, dass vielleicht auch einige von denen, die in dieser lange vergangenen Schlacht standen, sich durch besonderen Mut und erstaunliche Geschicklichkeit hervortaten?«

Felsenfuß dachte einen Augenblick über die Frage nach, dann nickte er und zuckte mit den Schultern.

»Kennst du ihre Namen?«, fragte Banak. »Weißt du, wer sie waren und um was es ihnen ging? Weißt du, wie viele Orks und andere Monster sie in dieser Schlacht getötet haben? Weißt du, wie viele den Kopf eines Freundes im Schoß hielten, während dieser starb?«

Der Priester begriff. Er wandte sich wieder der Hauptschlacht zu, wo die Zwerge die Orks in die Flucht trieben.

»Keine Verfolgung hangabwärts!«, befahl Banak.

»Sie haben vor Angst den Verstand verloren«, sagte Felsenfuß leise.

»Sie haben sowieso keinen Verstand«, erklärte der Zwergenkommandant. »Sie wollten nur verhindern, dass wir uns weiter verschanzen. Und die Vorbereitungen auf weitere Angriffe dürfen nicht warten, bis wir diese Bande durch die Berge zurückgetrieben haben. Wir bringen all unsere Jungs sofort wieder hierher zurück und machen uns an die Arbeit. Das hier war nur ein Scharmützel. Der eigentliche Kampf steht uns noch bevor.«

Banak blickte über die Schulter zum Klippenrand und hoffte, dass die Ingenieure bei ihrer Arbeit mit den Strickleitern nicht nachgelassen hatten.

»Nur ein Scharmützel«, wiederholte er, während der Kampf noch weiterging.

Er sah die Toten und Verwundeten auf den blutigen Steinen liegen.

Er dachte an die Knochen, die schon bald auf diesem Boden liegen würden, so dicht gestreut und so still wie Steine.