Zeit gewinnen

»Das ist alles? Wir gehen einfach?«, fragte Nanfoodle Shoudra.

Der kleine Gnom stand trotzig da, die Arme verschränkt und ungeduldig mit dem Fuß tippend, wobei seine Zehen, die nicht zu sehen waren, gegen die Vorderseite seines roten Gewandes stießen.

»Sollen wir nach deinen Enthüllungen gegenüber Verwalter Regis etwa wieder reingehen?«, erwiderte die Sceptrana und zeigte über Nanfoodles Schulter hinweg auf das verschlossene Tor von Mithril-Halle. »Wenn es dir recht ist, würde ich es vorziehen, Markgraf Elastul persönlich Bericht zu erstatten – und nicht indem ihm die Heldenhammer-Sippe meinen Kopf auf einem Tablett liefert.«

Nanfoodle wurde bei der Erinnerung daran, dass er es gewesen war, der sie verraten hatte, ein wenig kleiner und hörte auf, so nachdrücklich mit dem Fuß zu tippen.

»Es … es war einfach die Wahrheit«, stotterte er. »Und wenn sie die ganze Wahrheit hören, werden sie es verstehen – ich hatte ohnehin nie vor, Markgraf Elastuls dummen Auftrag auszuführen.«

»Also bist du einfach zu Regis spaziert und hast ihm alles erzählt«, sagte Shoudra. »Ich bin sicher, sie werden dir glauben.«

Nanfoodle murmelte etwas und nahm wieder seine trotzige Haltung ein.

»Selbstverständlich können wir jetzt nicht wieder reingehen!«, sagte der Gnom. »Jedenfalls noch nicht. Wir müssen den Zwergen beweisen, dass wir auf ihrer Seite stehen – und warum auch nicht? Wir sind unter einem Vorwand und mit bösen Absichten hergekommen. Also zeigen wir ihnen die Wahrheit über Nanfoodle und Shoudra und wie sich diese Wahrheit von der des Markgrafen unterscheidet.«

»Leicht gesagt.« Shoudras Worte trieften vor Sarkasmus. »Was sollen wir tun – die Ork-Horden besiegen? Also gut, tun wir das, und vielleicht können wir dann schon fürs Nachmittagsbier mit Kuchen in die Halle zurückkehren.«

Sie hielt inne, als sie sah, wie Nanfoodle die Augen aufriss, und zunächst glaubte sie, dass er sie ungläubig anstarrte. Aber dann hörte sie das leise Jammern hinter sich, fuhr herum und sah drei Zwerge von Norden her auf sie zukommen. Zwei flankierten den grünbärtigen Zwerg in der Mitte, wobei der Zwerg zu Pikel Felsenschulters Rechter ihn unter der Schulter gepackt hatte und der zu seiner Linken, sein Bruder Ivan, ein blutiges Tuch auf den Stumpf drückte, der von Pikels linkem Arm übrig geblieben war.

»Oooh«, jammerte Pikel.

Nanfoodle und Shoudra eilten auf die drei zu.

»Oooh«, sagte Pikel.

»Sie haben meinen Bruder erwischt«, rief Ivan. »Haben ihm mit einem dieser Schieferstücke sauber den Arm abgeschnitten. Ein verdammt unglücklicher Wurf.«

»Sie sind nun oben auf dem Gebirgskamm, und sobald sie ihre Katapulte gebaut haben, werden viele fallen«, erklärte der andere Zwerg, der Pikel stützte. »Diese Wunde hier ist eine Kleinigkeit im Vergleich mit dem, was dann passieren wird.«

Die drei eilten vorbei, direkt aufs Tor zu, und Shoudra und Nanfoodle waren klug genug, sich wieder zu verstecken.

»Wir können sie in diesen schweren Zeiten nicht allein lassen«, betonte Nanfoodle.

Shoudra spähte um einen Felsen, als sich die großen Tore öffneten und die drei eingelassen wurden. Sie zog sich allerdings schnell wieder zurück, als zwei Wachen herauskamen und sich überall umsahen.

»Was sollen wir denn tun, Alchemist Nanfoodle?«, fragte sie. Sie lehnte sich an den Felsblock, und irgendwie sah es aus, als könnte sie diese Stütze im Augenblick wirklich gebrauchen. »Vielleicht sollten wir uns mit den Orks zusammentun, und du kannst ihre Waffen mit deinem Gebräu schwächen.«

Das hatte sie selbstverständlich nicht ernst gemeint, aber Nanfoodle starrte sie an und begann zu strahlen. Er schnippte mit den kurzen Fingern.

»Das wäre eine Idee!«, verkündete er. Sofort machte er sich in Richtung Norden auf, wobei er sich dicht in der Deckung der halb eingestürzten Mauer hielt.

»Was redest du denn da?«, fragte Shoudra, die ihn schnell eingeholt hatte.

»Sie brauchen uns da oben, also lass uns gehen und sehen, wo wir helfen können«, erwiderte der Gnom.

Shoudra packte ihn an der Schulter und hielt ihn zurück.

»Dort hinauf?«, fragte sie und zeigte auf den Rand der Klippe im Norden. »Dort hinauf, wo die Schlacht tobt?«

Wieder verschränkte Nanfoodle die Arme vor der Brust und begann mit dem Fuß zu tippen. »Dort hinauf«, antwortete er.

Shoudra schnaubte.

»Du weißt, dass ich Recht habe«, erklärte der Gnom. »Du weißt, dass wir es der Heldenhammer-Sippe schuldig sind –«

»Wir sind es ihnen schuldig?«, fragte die Sceptrana.

»Ja, selbstverständlich«, sagte Nanfoodle, und nun war es an ihm, seine Worte in Sarkasmus zu baden. »Also gut, wir schulden ihnen gar nichts. Nicht einmal wegen der gemeinsamen Sache gegen Armeen von Ungeheuern. Nicht einmal, wenn sie das Einzige sind, was noch zwischen diesen Horden von Riesen und Orks und Mirabar steht. Nicht einmal, weil sie Torgar Hammerschlag und seine Freunde wie Brüder aufgenommen haben. Nicht einmal, weil sie uns in ihrem Heim willkommen geheißen und uns vertraut haben, obwohl sie eigentlich keinen Grund dafür hatten. Nicht einmal, weil –«

»Genug, Nanfoodle«, sagte Shoudra und hob abwehrend die Hände. »Es reicht.«

Die hoch gewachsene, schöne Frau seufzte tief, als sie zu der steilen Klippe hinaufschaute, an der Strickleitern von Sims zu Sims führten.

»Also, dort hinauf«, sagte sie leise.

»Du kennst vielleicht einen Zauber, der uns nach oben bringt«, erwiderte der Gnom hoffnungsvoll.

Shoudra schüttelte den Kopf.

Nanfoodle wirkte einen Augenblick lang erschüttert, aber das wich schnell neuer Entschlossenheit, und der kleine Alchemist ging voran zum Fuß der Klippe und zur nächsten Strickleiter. Er warf noch einmal einen Blick über die Schulter, dann begann er zu klettern.

Die beiden brauchten mehr als eine Stunde, um nach oben zu gelangen, weil sie auf jedem Sims Rast machten. Als sie schließlich nahe der Kante waren, waren die ersten Gesichter, die sie sahen, zu ihrer Überraschung nicht die von Zwergen.

»Hat Regis euch geschickt?«, fragte Catti-brie und starrte die beiden an.

Sie reichte Nanfoodle eine helfende Hand, während Wulfgar sich neben ihr flach auf den Boden legte und seinen starken Arm zu Shoudra ausstreckte.

»Wir sind aus eigenem Entschluss hier«, antwortete Shoudra, nachdem sie oben angekommen war und sich den Steinstaub so gut wie möglich abgewischt hatte. »Wir wollten schon gehen – zurück nach Mirabar –, aber wir dachten, wir sollten hier oben vorbeischauen und nachsehen, ob wir uns vielleicht nützlich machen können.«

»Wir können jede Hilfe gebrauchen«, erklärte Wulfgar. Er drehte sich um und trat ein Stück zur Seite, was den beiden Gelegenheit gab, das Land im Norden zu überblicken, wo sich die gewaltige Armee aus Orks und Goblins gerade neu formierte. »Sie haben uns immer wieder angegriffen, mehrmals am Tag.«

Als Shoudra das abfallende Gelände zwischen den Zwergen und den Orks betrachtete, sah sie, wie Recht der Barbar hatte, denn der Boden war mit den Leichen von Orks und Goblins übersät. Tatsächlich war das Gelände so mit Blut getränkt, dass es aussah, als hätte selbst der graue Stein eine dunklere rötliche Färbung angenommen.

»Wir töten zwanzig von ihnen für jeden Gefallenen auf unserer Seite«, erklärte Catti-brie. »Aber sie greifen trotzdem immer wieder an.«

Shoudra warf Nanfoodle einen Blick zu, und der Gnom nickte finster.

»Wir werden tun, was wir können«, versicherte die Sceptrana König Bruenors Adoptivkindern.

»Am meisten würde es uns helfen, wenn ihr eine Möglichkeit fändet, mit diesen Riesen dort fertig zu werden«, rief ein Zwerg, der auf die beiden neuen Rekruten zukam – Banak Starkamboss, der Kommandant der Truppen hier oben. Er drehte sich leicht und zeigte auf den Gebirgskamm weit im Westen, einen Ausläufer des Grats der Welt, der sich nach Süden zog.

»Sie können uns mit ihren Steinen nicht erreichen«, sagte Catti-brie. »Aber sie werden besser, und derzeit werfen sie flache –«

»Schiefersplitter«, beendete Shoudra den Satz und nickte. »Wir haben unten im Tal den armen Pikel Felsenschulter getroffen.«

»Armer Pikel«, sagte Catti-brie ebenfalls.

»Die Riesen werden schon bald ein noch größeres Problem darstellen«, warf Banak ein. Er erläuterte es nicht weiter, aber das war auch nicht nötig, denn als Shoudra sich die Stellungen im Nordwesten näher ansah, konnte sie erkennen, dass man große Baumstämme dort hinaufgebracht und einige bereits zu breiten Plattformen zusammengefügt hatte. Shoudra Sternenglanz brauchte nicht zu raten, was die Riesen da bauten.

»Der Schiefer ist unangenehm«, sagte Wulfgar, »aber glücklicherweise können sie die Stücke meist nicht weit genug werfen. Pikels Missgeschick war wirklich Pech. Aber sobald sie diese Katapulte fertig gebaut und ausgerichtet haben, werden wir hier keine Deckung vor ihrem Beschuss finden können.«

»Und es sieht ganz so aus, als würden ein paar schon morgen fertig sein«, fügte Banak hinzu.

»Und dann werden sie euch von der Klippe treiben«, schloss Nanfoodle, und niemand widersprach ihm.

»Nun, wir sind froh, euch hier zu haben«, sagte Banak plötzlich energisch, was die niedergedrückte Stimmung wieder ein wenig aufhellte. Er wandte sich an Wulfgar und Catti-brie.

»Ihr beide führt sie ein wenig herum, damit sie herausfinden, wo sie am besten helfen können.«

Trotz der vielen Vorstöße ihrer Feinde hatten die Zwerge bei den Verteidigungsanlagen gute Arbeit geleistet, wie Shoudra und Nanfoodle bald erkannten. Die Mauern hier waren weder hoch noch dick, aber sie waren in günstigen Winkeln errichtet worden, um vor fliegendem Schiefer zu schützen und den bärtigen Kriegern zu gestatten, sich in den Gräben dahinter von Stellung zu Stellung zu bewegen.

Aber vor allem hatten die Zwerge nahe dem Klippenrand eine Reihe von Engpässen errichtet – Bereiche, in denen die zahlenmäßige Überlegenheit der Orks durch Mangel an Raum zunichte gemacht wurde. Shoudra konnte sich gut vorstellen, dass der letzte Ork-Angriff, der die Zwerge über die Klippe treiben sollte, die Angreifer teuer zu stehen kommen würde.

Und es war eindeutig, dass sich die Zwerge auf diesen Rückzug vorbereiteten. Da mehrere Hundert zu evakuieren waren, bestand die Gefahr, dass viele auf dem Weg die Strickleitern hinab umkommen würden – getroffen von Wurfgeschossen von oben, und vielleicht würden die Feinde auch die Seile durchschneiden. Shoudra erkannte, dass viele Zwerge, überwiegend Ingenieure aus Mirabar, an einem Ausweg aus diesem Dilemma arbeiteten. Sie gruben einen Tunnel oder genauer gesagt eine Rutsche mit einem weiten Einsprungsbereich, der in einen schmaleren Kanal überging, der parallel zum Klippenrand nach unten führte.

»Passt du da hinein?«, fragte Shoudra den riesenhaften Barbaren.

»Sie haben auch Seile befestigt, an denen wir uns runterlassen können«, sagte Wulfgar. »Die Rutsche ist für die letzten Zwerge, die die Stellung verlassen.«

»Glaubt ihr, ihr habt einen guten Zauber oder zwei, um die Rutsche einzufetten?«, erklang eine vertraute Stimme aus dem Einsprungsloch.

Nanfoodle legte sich flach auf den Boden und spähte in das Loch, wo Shingles McRuff gerade nach oben kletterte.

»Schön, dich bei so guter Gesundheit zu sehen«, sagte Shoudra, als der Zwerg herausgeklettert war.

»Ja, mir geht es gut«, bestätigte Shingles. »Aber wir haben viele Freunde verloren, als die hässlichen Riesen die Höhlen im Westen eingenommen haben.«

»Höhlen?«

»Unter dem Gebirgskamm«, erklärte Catti-brie. »Torgar, Shingles und die anderen aus Mirabar haben versucht, die Riesen zurückzuhalten, aber der Angriff war zu heftig.« Sie blickte zu dem schmutzigen Zwerg. »Aber es sind allemal mehr Orks als Zwerge umgekommen; das ist ein Trost.« Das entlockte Shingles ein Lächeln.

»Höhlen unter dem Kamm?«, fragte Nanfoodle.

»Ein ziemlich großes Netz von Gängen sogar«, antwortete Shingles. »Sie sind nicht weit verzweigt, aber sie ziehen sich von einem Ende zum anderen.«

Nanfoodles Augen begannen plötzlich zu blitzen, und er blickte zu Shoudra auf.

»Und dieser Kamm ist ziemlich schwer zugänglich«, warf Catti-brie ein, »falls du daran denkst, wir sollten die Gänge zurückerobern und die Riesen verscheuchen.«

Nanfoodle nickte nur und begann, mit dem Finger gegen sein Kinn zu tippen. Er ging ein paar Schritte weit zurück zum Klippenrand und blickte ins Tal hinab.

»Was hat er vor?«, fragte Shingles.

»Wer weiß das schon bei ihm?«, antwortete Shoudra schulterzuckend. »Bitte sag mir, alter Freund, wie geht es Torgar?«

»Gut«, erwiderte Shingles.

Er schaute hinab nach Nordosten, zu einer Gruppe von Zwergen, die sich in enger Formation hinter einer niedrigen Mauer aufgestellt hatten, bereit, hervorzuspringen und sich jedem Ork-Angriff zu stellen. Als Shoudra zu der Gruppe spähte, glaubte sie, die vertraute Gestalt von Torgar Hammerschlag erkennen zu können.

»So gut es eben geht«, fuhr Shingles fort. »Er ist nicht froh darüber, die Gänge verloren zu haben.«

»Zu viele Orks«, sagte Catti-brie. »Und zu viele Riesen, von denen einige auch noch Zauberkraft hatten. Die Zwerge aus Mirabar haben die Gänge so lange gehalten wie irgend möglich.«

»Schon gut«, erwiderte Shingles.

»Vielleicht werdet ihr ja Gelegenheit erhalten, sie zurückzuerobern«, sagte Nanfoodle, der wieder zu der Gruppe gestoßen war.

»Das wäre eine gute Sache, aber ich sehe keine Möglichkeit«, entgegnete Shingles. »Außerdem wird es uns nicht dabei helfen, die Riesen loszuwerden, und derzeit sind es die Riesen, von denen wir den größten Ärger befürchten. Ich wüsste nicht, wie wir sie aufhalten sollten.«

Nanfoodle warf Shoudra einen Blick zu, die ihrerseits seufzte, ein paar Schritte nach Nordwesten machte, die Augen mit der Hand abschirmte und zu dem hohen Gebirgskamm spähte.

»Lösungen sind häufig kompliziert«, sagte Nanfoodle mit einem breiten Grinsen. »Es sei denn, man geht logisch vor, immer einen kleinen Schritt nach dem anderen.«

»Woran denkst du dabei?«, fragte Catti-brie.

»Ich denke, man hat mir ein Problem vorgelegt. Eines, das schnell gelöst werden muss.« Immer noch lächelnd wandte sich der Gnom wieder Shoudra zu – genauer gesagt ihrem Rücken, denn sie betrachtete weiterhin den Kamm. »Ich denke, ich weiß, was du denkst, Shoudra«, sagte er.

»Ich denke, ich weiß, was du mit Metall machen kannst, mein Freund«, antwortete die Sceptrana. »Hättest du auch ein Mittel für Holz?«

Nanfoodle sah die verwirrten Gesichter von Catti-brie, Wulfgar und Shingles.

Wieder grinste er breit.

Zu fliegen war eine seltsame Erfahrung für Wulfgar – beinahe so seltsam wie der Bann, mit dem Shoudra ihn belegt hatte, damit er in der Nacht ebenso gut sehen konnte wie ein Elf. Er war der Einzige, dem ihr Zauber die Macht zu selbständigem Fliegen gegeben hatte – die anderen schwebten einfach –, also führte er die Gruppe an und zog sie über das zerklüftete Gelände des Kamms. Er schaute jedoch immer wieder zurück, denn da sie unsichtbar waren, konnte er weder sie noch die Seile erkennen. Er wusste jedoch, dass sie da waren, denn er konnte den Widerstand an allen vier Seilen spüren: Catti-brie, Torgar, Shoudra und Nanfoodle.

Er erinnerte sich an Shoudras Warnung, dass ein magischer Flug ziemlich unberechenbar war, also landete er, sobald er den Eindruck hatte, dass der verbliebene Weg zu den Riesen und ihren Belagerungsmaschinen von hier an einigermaßen einfach zurückzulegen war. Er hockte sich so hin, dass er nicht leicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden konnte, und duckte sich, denn er wusste, dass die vier Schwebenden wahrscheinlich über ihn hinaussegeln würden. Einen nach dem anderen fing er sie ein und brach ihren Schwung, als die unterschiedlich langen Seile sich wieder spannten, und obwohl sich alle bemühten, ruhig zu bleiben, erklang von Nanfoodle ein leises Grunzen, das alle erschrocken den Atem anhalten ließ.

Die Riesen hatten offenbar nichts gehört. Die fünf brauchten eine Weile, bis sie die Seile aufgeknotet hatten, denn nur Shoudra und Nanfoodle, denen ein Zauber magische Sehkraft verlieh, konnten die anderen sehen. Aber schließlich hockten sie alle hinter einem kleinen Felsvorsprung.

»Es war gut, jetzt schon herzukommen«, sagte Shoudra. »Die Katapulte sind beinahe fertig.«

»Ich brauche fünf Minuten«, flüsterte Nanfoodle.

»Das ist nicht lange«, sagte Shoudra.

»Länger als du denkst, mit zwanzig Riesen in der Nähe«, flüsterte Catti-brie.

Nanfoodle machte sich auf den Weg, und Shoudra führte ihre drei unsichtbaren Gefährten zur Ostseite des Riesenlagers, an eine Stelle, wo sie sich besser verteidigen konnten.

»Sag einfach, wann wir anfangen sollen«, bat Catti-brie.

»Sobald ihr angreift, wird der Unsichtbarkeitsbann sich auflösen«, erinnerte Shoudra sie.

Zur Antwort hob Catti-brie Taulmaril über den Rand des Vorsprungs und richtete ihn auf die nächste Gruppe von Riesen. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie mit einer unsichtbaren Waffe nicht richtig zielen konnte.

»Wir machen uns auf den Weg«, kündigte Shoudra an. »Ihr werdet die ersten Geräusche schon bald hören.«

Die Sceptrana griff nach Torgars Hand und führte ihn weg, noch weiter nach Osten und um das Riesenlager herum.

»Ich würde mich ein bisschen besser fühlen, wenn ich dich neben mir sehen könnte«, flüsterte Catti-brie Wulfgar zu.

»Ich bin hier«, versicherte er ihr.

Dann schwieg er, und sie tat es ihm gleich, denn eine Riesin kam ganz in ihrer Nähe vorbei.

Viele Minuten vergingen in angespanntem Schweigen, das nur vom leisen Flüstern des Winds an den Steinkanten unterbrochen wurde. Selbst der Wind war in dieser Nacht zurückhaltend, als hielte die ganze Welt erwartungsvoll den Atem an.

Und dann begann es. Catti-brie und Wulfgar zuckten überrascht zusammen, als es im Norden plötzlich laut wurde: ein gewaltiger Lärm, der sich anhörte, als griffe eine ganze Armee von Zwergen an. Die Riesen reagierten sofort, sprangen auf und spähten nach Norden.

Catti-brie ließ die Riesin in ihrer Nähe noch ein paar Schritte weitergehen, dann schoss sie einen zischenden blauen Pfeil ab, der die Gigantin mitten in den Rücken traf. Die Verwundete heulte auf und hatte gerade dazu angesetzt, sich umzudrehen, als Aegis-fang sie an der Schulter traf und vornüber auf den felsigen Boden warf.

»Moradin!«, erklang ein lautes Brüllen – Torgars Stimme, aber von Magie verstärkt, wie Catti-brie erkannte. Dann zuckte ein Blitz auf, zerriss die Dunkelheit und brachte eine Hand voll Riesen zum Stolpern.

Catti-brie jagte einen weiteren Pfeil in den Körper der Riesin, und sobald Wulfgars magischer Kriegshammer wieder in seine Hand zurückgekehrt war, griff der Barbar den nächsten Riesen an, der zu seiner niedergestreckten Kameradin geeilt war.

Mehr Schreie zum Zwergengott erklangen aus dem Norden, ein weiterer Blitz erhellte die Nacht, dann begann plötzlich ein Unwetter, und Schneeregen peitschte gegen die Felsen in der Nähe von Wulfgar und Catti-brie.

Catti-brie schoss weiter, Pfeil um Pfeil, und viele Riesen drehten sich um und rannten auf die Stellung der Bogenschützin zu.

Und viele Riesen rutschten auf den glatten Steinen aus. Einer hätte es beinahe den ganzen Weg geschafft, aber dann traf ihn Aegis-fang an der Brust. Der Riese steckte den Schlag erstaunlich gut weg, aber selbst sein geringfügiges Taumeln genügte, um ihn schließlich doch ausrutschen zu lassen. Catti-brie traf ihn mit einem Pfeil ins Gesicht, als er auf den nassen, glänzenden Steinen saß.

Eine große Hand erschien vor ihr, denn die am Boden kriechende Riesin hatte die andere Seite des Vorsprungs erreicht. Sie zog sich mit einem Brüllen hoch, und Catti-brie wurde plötzlich nach hinten gerissen.

Das hatte nichts damit zu tun, was die Riesin tat, erkannte sie sofort. Wulfgar hatte sie einfach beiseite gestoßen und ihren Platz eingenommen, und als die Riesin den Kopf über den Vorsprung hob, stieß der Barbar seinen Kampfschrei aus und riss Aegis-fang nach unten.

Catti-brie zuckte zusammen, als sie das Geräusch hörte – es klang, als schlüge Stein gegen Stein, und die Riesin verschwand aus ihrem Blickfeld.

Aber nun waren weitere Feinde auf dem Weg zu ihnen, so schnell sie sich über die rutschige Oberfläche bewegen konnten. Einige entschieden sich für einen anderen Weg, hoben Steine auf und warfen sie nach den beiden. Jetzt war es an Cattibrie, Wulfgar beiseite zu ziehen. Sie duckte sich hinter den Vorsprung, riss ihn dabei an seinem dicken blonden Haar mit sich und zwang ihn neben sich auf den Boden. All das geschah keinen Augenblick zu früh, denn der Barbar war kaum auf dem Boden gelandet, als auch schon ein großer Stein die Kante des Vorsprungs traf und abprallte.

Die beiden versuchten schnell, sich wieder aufzurappeln, und beide schrien überrascht auf, als eine blaue Linie vor ihnen im Dunkeln erschien und sich bis zu einer Höhe von etwa sechs Fuß nach oben ausdehnte. Dann wurde die Linie breiter und bildete ein Tor aus Licht, aus dem Shoudra und Torgar traten.

»Lauft!«, schrie Shoudra, rannte sofort in Richtung Süden und riss Catti-brie dabei mit sich.

»Nanfoodle?«, rief Catti-brie.

»Lauft!«, wiederholte Shoudra.

Es sah wirklich so aus, als hätten sie keine andere Wahl, denn die Riesen kamen näher und würden den vereisten Bereich bald hinter sich haben. Außerdem flogen inzwischen erheblich mehr Steine.

Die vier rannten und stolperten, und wann immer einer fiel, hoben die anderen ihn auf und zogen ihn weiter. Einmal, als sie vor einer ziemlich breiten und scheinbar bodenlosen Felsspalte standen, packte Wulfgar Catti-brie und warf sie hinüber. Der protestierende Torgar war der Nächste, dann Shoudra. Als Letzter sprang Wulfgar selbst, und rings um ihn her krachten von Riesen geschleuderte Steine auf die Felsen.

Sie liefen weiter, ohne sich auch nur umzudrehen. Nach und nach ließ der Hagel von Wurfgeschossen nach, und die empörten Schreie hinter ihnen verklangen.

Schwer atmend blieben sie hinter einem Felsen stehen.

»Nanfoodle?«, fragte Catti-brie abermals.

»Wenn wir Glück haben, wissen die Riesen nicht einmal, dass er da war«, erklärte Shoudra. »Er hat ein paar Zaubertränke dabei, die ihm gestatten sollten, mit Leichtigkeit zu entkommen.«

»Und wenn wir kein Glück haben?«, fragte Wulfgar.

Shoudras finstere Miene genügte als Antwort. Wulfgar hatte in seinem Leben schon genug mit Riesen zu tun gehabt, besonders mit Eisriesen. Er wusste, was für ein Schicksal Nanfoodle blühte, falls die Feinde ihn bemerken sollten.

»Ich weiß nicht … ob wir welche getötet haben … aber es gibt zumindest eine … die sich wünscht … wir wären nicht hergekommen«, keuchte Catti-brie.

»Ich bin sicher, dass ich mit meinem Blitz ein paar getroffen habe«, fügte Shoudra hinzu. »Aber ich bezweifle, dass sie ernsthaft verletzt sind.«

»Darum ging es schließlich auch nicht, oder?«, erinnerte Torgar sie. »Kommt schon, verschwinden wir von diesen Felsen, bevor die Orks wieder angreifen. Ich hatte keine Gelegenheit, mich mit den Riesen anzulegen, aber ich habe vor, mir noch ein paar Ork-Köpfe zu holen!« Er stapfte davon, und die anderen folgten ihm, aber sie blickten immer wieder zurück, in der Hoffnung, den Gnom hinter sich zu entdecken.

Sie hätten stattdessen nach vorn schauen sollen, denn als sie wieder im Hauptlager eintrafen, war Nanfoodle bereits dort, bequem an einen Stein gelehnt, eine übergroße Pfeife im Mund und breit grinsend.

»Es sollte ein interessanter Morgen werden«, erklärte der Gnom, und sein Grinsen dehnte sich beinahe von einem Ohr zum anderen.

Bald nach der Morgendämmerung des nächsten Tages begannen die Riesen mit ihrem Beschuss – oder sie versuchten es zumindest.

Alle Zwerge sahen zu, wie in der Ferne zwei große Katapulte mit Körben voller Steine beladen wurden und die Riesen sich daran machten, sie zu spannen.

Von drunten am Abhang heulten die Orks und begannen ihren Angriff, denn sie hofften, dass die Zwerge verwundbarer sein würden, sobald die Riesen ihre Steine schleuderten.

Balken knarrten … und brachen.

Die Riesen versuchten, die Steine abzuschießen, aber die Katapulte fielen einfach auseinander.

Alle Blicke wandten sich Nanfoodle zu, der vergnügt vor sich hinpfiff, eine Phiole aus dem Beutel an seinem Gürtel nahm, sie hochhob und eine grüne Flüssigkeit darin herumschwappen ließ.

»Nur eine einfache Säure«, erklärte er.

»Du hast uns ein wenig Aufschub verschafft«, gratulierte Banak Starkamboss dem kleinen Gnom und blickte den Hang hinab, wo die Orks hartnäckig angriffen. »Zumindest vor den Riesen.«

Dann machte sich der Zwerg davon und brüllte Befehle, die die Zwerge in Formation aufmarschieren ließen.

»Sie werden viele neue Stämme brauchen, wenn sie ihre Belagerungsmaschinen neu bauen wollen«, versicherte Nanfoodle den anderen.

Selbstverständlich war keiner von ihnen überrascht, als Späher später am Tag berichteten, dass tatsächlich bereits neues Holz auf den Kamm im Nordwesten geschafft wurde.

»Sie sind eben ein störrischer Haufen«, stellte der kleine Gnom fest.