Der Schüler wird zum Meister

»Das war beeindruckend«, gab Kaer'lic Suun Wett bedrückt zu.

Tos'un schnaubte, und Donnia und Ad'non saßen immer noch still da und hatten den Mund halb geöffnet.

»Es sind einfach nur Orks«, sagte der missratene Spross des Hauses Barrison Del'Armgo. »Es war alles Illusion, alles aufgebauschte Emotionen.«

Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Kaer'lic Tos'un schlagen.

»Selbstverständlich«, stimmte Donnia mit geringschätzigem Lachen zu. »Die Stimmung, das Gedränge – die Zeremonie wurde verstärkt durch die Intensität von –«

»Still!«, verlangte Kaer'lic so herrisch, dass sowohl Donnia als auch Ad'non die Hände unwillkürlich an die Waffen legten. »Wenn wir Obould jetzt unterschätzen, könnte sich das als katastrophal erweisen. Dieser Schamane, Arganth vom Stamm Fauch … er war inspiriert. Göttlich inspiriert.«

»Das ist eine ziemlich gewagte Behauptung«, sagte Ad'non ruhig.

»Ich habe so etwas schon einmal erlebt, bei einer Zeremonie, bei der mehrere Yochlol erschienen«, versicherte ihm Kaer'lic. »Und ich habe es als das erkannt, was es war: göttliche Inspiration.« Sie wandte sich Tos'un zu. »Wieso fällt es dir so leicht, dir einzureden, dass du etwas, was tatsächlich passiert ist, nicht wirklich gesehen hast?«

»Ich verstehe den Trick mit der Stimmung«, erwiderte Tos'un zögernd.

»Er hatte den Hals des Stiers vollkommen herumgedreht«, tadelte Kaer'lic und bestätigte den anderen noch einmal: »Dieses Geschöpf war tot, und dann lebte es wieder, und eine solche Wiedererweckung geht einfach über die Kraft von Schamanen hinaus.«

»Normalerweise ja«, sagte Ad'non. »Vielleicht ist es ja Arganth, den wir nicht unterschätzen sollten.«

Kopfschüttelnd erwiderte Kaer'lic: »Arganth ist tatsächlich nicht schlecht, jedenfalls für einen Ork. Er ist fanatisch in seiner Hingabe an Gruumsh und hat den zufälligen Tod von Achtel schlau ausgenutzt. Aber wenn er wirklich die Macht hatte, die beiden toten Tiere wiederzuerwecken, dann hätte er sich auch schon lange vor Achtels Tod über sie und ihre Zweifel hinwegsetzen können. Das hat er nicht getan – er hat es nicht einmal versucht.«

»Du glaubst, dass Achtels Tod nur ein glücklicher Zufall war?«, fragte Donnia.

»Sie wurde von Drizzt Do'Urden umgebracht«, antwortete Kaer'lic. »Daran besteht kein Zweifel. Man hat ihn erkannt, bis hin zu seinen Krummsäbeln. Er hat sich ins Lager geschlichen, hat Achtel und viele andere Orks getötet und ist wieder verschwunden. Ich bezweifle, dass er ein Werkzeug von Gruumsh ist. Aber Arganth hat es gegenüber diesen dummen Orks so dargestellt, sehr zu seinem und Oboulds Vorteil.«

»Und jetzt wissen wir, dass sich Drizzt mit den Oberflächenelfen verbündet hat«, stellte Tos'un fest.

»Aber in welchem Ausmaß?«, fragte Donnia, die trotz der Berichte über den Kampf am Fluss nicht so recht überzeugt war.

»Das ist unwichtig«, erinnerte Kaer'lic sie gereizt. »Drizzt Do'Urden sollte uns nicht interessieren!«

»Das sagst du immer wieder«, unterbrach Ad'non sie.

»Weil es so aussieht, als würdet ihr das nicht verstehen«, erwiderte die Priesterin. »Drizzt ist nicht unser Problem, und wir sind nicht seins, solange er nichts von uns weiß. Er ist Oboulds und Gertis Problem, und wir sollten ihn am besten ihnen überlassen. Besonders jetzt, da Obould so reich von Gruumsh beschenkt wurde.«

Die beiden immer noch zweifelnden Drow, die Kaer'lic gegenübersaßen, schnaubten abfällig.

»Es wäre gefährlich, Obould jetzt zu unterschätzen«, sagte Kaer'lic. »Er ist sichtlich stärker geworden, und er ist ausgesprochen schnell. Selbst Tos'un, der glaubt, dass man ihn getäuscht hat, kann das nicht leugnen. Obould ist viel furchterregender geworden.«

Tos'un nickte widerstrebend.

»Obould war immer schon Furcht erregend«, erwiderte Ad'non. »Selbst vor dieser Zeremonie hätte ich ihm nicht im offenen Kampf begegnen wollen. Und sicher möchte sich keiner von uns mit Gerti Orelsdottr anlegen. Aber haben die Schamanen den Ork-Königs schlauer und klüger gemacht? Das glaube ich kaum!«

»Sie haben ihm vor allem Selbstvertrauen und die Überzeugung gegeben, dass sein Gott mit ihm ist«, erklärte Kaer'lic. »Auch das solltet ihr nicht unterschätzen. Obould wird jetzt keine inneren Zweifel haben, die wir nach Belieben ausnutzen können. Er wird selbstsicher, stark und von seiner Sache überzeugt sein. Er wird sich jeden Vorschlag, der gegen seine Instinkte verstößt, viel genauer ansehen, selbst wenn es um Dinge geht, die nur geringfügig von seinen eigenen Ideen abweichen. Er ist nun ein Fluss mit viel stärkerer Strömung, einer, den man viel schwerer vom Kurs abbringen kann.«

Das zweifelnde Grinsen wurde zu Stirnrunzeln.

»Andererseits glaube ich, dass wir diesen Fluss ohnehin bereits in die richtigen Bahnen gelenkt haben«, fuhr Kaer'lic fort. »Wir brauchen Obould nicht mehr zu manipulieren, denn er ist ohnehin entschlossen, genau den Krieg zu führen, den wir uns gewünscht haben – und nun ist er noch besser im Stande, das zu tun.«

»Und wir werden zu distanzierten, amüsierten Zuschauern?«, fragte Tos'un.

Kaer'lic zuckte die Achseln und erwiderte: »Ich könnte mir ein schlimmeres Schicksal vorstellen.«

Donnia und Ad'non wechselten einen zweifelnden Blick, und Ad'non schüttelte den Kopf. »Da ist immer noch Gerti«, warf er ein. »Und diese Zeremonie wird die Riesin noch wachsamer machen. Mit anzusehen, wie Obould wächst, wird die Ork-Stämme besser zusammenhalten, aber es wird auch gewaltige Zweifel in Gerti wecken. Bei aller Macht, die der Ork-König angeblich gewonnen hat, wird er immer noch Gertis Riesen brauchen, um die Zwerge wieder in ihre Löcher zu treiben und das umliegende Land zu verwüsten.«

»Dann sollten wir dafür sorgen, dass Gerti Obould weiterhin folgt«, sagte Tos'un.

Die anderen drei warfen ihm säuerliche Blicke zu und waren insgeheim verärgert, weil er es einfach nicht verstand. Er nahm ihre Reaktion mit angemessener Demut entgegen, denn immerhin war er der Jüngste der Gruppe und hatte in solchen Angelegenheiten bei weitem die geringste Erfahrung.

»Nein, sie soll ihm nicht folgen«, verbesserte Donnia. »Wir müssen dafür sorgen, dass sie weiter mit ihm zusammenarbeitet, und er sollte begreifen, dass er mit ihr zusammen marschiert und sie nicht anführt.«

Die anderen nickten; es war ein subtiler Unterschied, aber ein wesentlicher.

Ad'non und Donnia machten sich auf, sobald die Sonne untergegangen war, und verließen die tiefe Höhle nicht weit östlich der Ruinen von Senkendorf, die die vier als zeitweiligen Wohnsitz betrachteten. Die beiden Dunkelelfen blinzelten mehrmals, als sie an die Oberfläche kamen, denn obwohl kein Mond schien, war ihnen die relative Helligkeit der Oberflächennacht zunächst stets unangenehm.

Donnia blickte nach Osten über die steilen Hänge und Klippen, wo sich der Surbrin nach Süden wand und sich die funkelnden Sterne im Wasser spiegelten. Dahinter lag der dunkle Mondwald, wo, wie Donnia wusste, viele Elfen lebten. Soweit die vier Drow wussten, hatten sich nur zwei von ihnen in die Angelegenheiten von Obould eingemischt, da der Ork-König auf Anraten der Drow den Surbrin nicht mit größeren Truppenteilen überquert hatte.

»Vielleicht werden sie ihren Wald ja bald verlassen«, sagte Ad'non zu Donnia, denn er wusste, woran sie dachte.

Er grinste boshaft und lachte leise.

Sie hofften beide, dass die Elfen den Wald verlassen würden. Obould könnte problemlos mit einem kleineren Klan fertig werden, und wie wunderbar wäre es, ein paar von diesen Feen tot zu Füßen der Orks liegen zu sehen! Noch besser wäre es selbstverständlich – wagte sie wirklich, es zu hoffen? –, Feen als Gefangene zu haben, die Obould Donnia und ihrer Bande zu deren Vergnügen überließ.

»Kaer'lics Angst vor Drizzt ist beunruhigend«, stellte Ad'non fest.

»Tos'un sagt, der Abtrünnige sei ein schrecklicher Gegner.«

»Ich bezweifle nicht, dass unser Freund aus Menzoberranzan Recht hat«, sagte Ad'non. »Dennoch …«

»Kaer'lic scheint in der letzten Zeit vor ziemlich vielem Angst zu haben«, stimmte Donnia ihm zu. »Sie hat regelrecht gezittert, als sie von Obould sprach. Und er ist nur ein Ork!«

»Vielleicht war sie zu lange von unserem Volk entfernt. Vielleicht sollte sie für einige Zeit ins Unterreich zurückkehren – zurück nach Ched Nasad oder sogar nach Menzoberranzan, wenn Tos'un uns einen Weg dorthin bahnen kann.«

»Aber in Menzoberranzan wären wir nur heimatlose Abtrünnige, bis die eine oder andere Oberinmutter uns Zuflucht gewährt – im Austausch gegen Sklavendienste«, sagte Donnia missmutig, und Ad'non konnte bei dieser Aussicht nur die Achseln zucken.

»Kaer'lic wäre nicht froh, wenn sie wüsste, was wir heute Nacht vorhaben«, stellte sie einen Augenblick später fest.

Wieder zuckte Ad'non die Achseln und sagte: »Ich brauche nicht auf Kaer'lic Suun Wett zu hören.«

»Nicht einmal, wenn das, was sie sagt, vernünftig ist?«

Ad'non hielt inne und dachte eine Weile darüber nach.

»Wir sind ohnehin nicht auf der Suche nach Drizzt Do'Urden«, sagte er schließlich.

Das stimmte – zumindest in gewisser Weise. Die beiden hatten sich in den Kopf gesetzt, dem Ärger, den Oboulds Nachhut in den letzten Zehntagen hatte, ein Ende zu bereiten. Selbstverständlich wussten sie, dass Drizzt Do'Urden im Mittelpunkt dieses Ärgers stand, aber es war nicht er, der die beiden Drow aus ihrer tiefen Höhle gelockt hatte, und das sowohl wegen Kaer'lics Argumenten und Tos'uns Warnungen als auch, weil es nach Ansicht von Donnia und Ad'non bessere Beute gab. Gertis Riesen hatten zwei Oberflächenelfen auf geflügelten Pferden gesehen – was für eine Trophäe diese Reittiere abgeben würden!

Innerhalb einer Stunde hatten die beiden Drow den Schauplatz des letzten Angriffs erreicht, nahe dem kleinen Fluss durch die Berge. Hier lagen immer noch Ork-Leichen, denn niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu begraben. Die beiden Drow folgten den Spuren des Massakers und erkannten bald, in welche Richtung sich Drizzt bewegt hatte, und schließlich erreichten sie eine Stelle, an der viele Ork-Leichen im Kreis lagen. Hier hatten sich offenbar die beiden Oberflächenelfen dem Kampf angeschlossen.

Mehr als zwanzig tot, und das nur durch drei Krieger, teilte Donnia mit Handsignalen mit, denn sie wollten keinen Lärm verursachen.

Die meisten hatte Drizzt bereits umgebracht, bevor die beiden Elfen eintrafen, antwortete Ad'non.

Sie hielten sich noch eine Weile auf dem Schlachtfeld auf und versuchten sowohl aus den Stellen, an denen die Toten lagen, als auch aus der Art der Wunden so viel wie möglich über den Kampfstil der Krieger zu erfahren. Mehr als einmal verlieh Donnia mit einem Zeichen ihrer Bewunderung für diese Schwertarbeit Ausdruck, und mehr als einmal stimmte Ad'non zu. Und nachdem die Nacht schon beinahe zur Hälfte vergangen war, verließen sie das Schlachtfeld und bewegten sich im weiteren Umkreis, weil sie herausfinden wollten, in welche Richtung sich die drei entfernt hatten.

Zu ihrer Überraschung und ihrem Entzücken fanden sie schon bald eine Spur und konnten aus den Fußabdrücken und geknickten Halmen schließen, dass zumindest zwei ihrer drei Feinde hier vorbeigekommen waren.

Die Oberflächenelfen, bedeutete Ad'non. Ich hätte erwartet, dass sie ihre Spuren besser verbergen.

Es sei denn, sie haben angenommen, dass nur Orks sie verfolgen würden, erwiderte Donnia. Nur wenige Orks könnten diese subtilen Spuren finden, so offensichtlich sie unseren geübten Augen auch erscheinen mögen.

Unseren geübten Augen und denen von Drizzt Do'Urden vielleicht?, fragte Ad'non.

Donnia grinste und bückte sich, um ein Gebüsch näher zu betrachten. Ja, das war eine Erklärung. Die Spur war für die scharfen Augen der im Spurenlesen geübten Dunkelelfen leicht zu erkennen, aber Orks würden sie nicht finden und verfolgen können. Dennoch, Donnia hatte genug Erfahrung mit Oberflächenelfen, um zu wissen, dass diese Spur wirklich sehr deutlich war. Je näher sie hinschaute, desto wahrscheinlicher schien Ad'nons Theorie, dass die Elfen absichtlich so klare Hinweise zurückgelassen hatten, damit Drizzt sie finden konnte. Sie waren davon ausgegangen, dass ihre Feinde Orks, Goblins und Riesen waren, und hielten einen Dunkelelf für ihren Verbündeten. Die überlebenden Orks hatten berichtet, dass sich die Oberflächenelfen und der Dunkelelf sofort nach dem Kampf getrennt hatten; vielleicht hatten die Oberflächenelfen dafür sorgen wollen, dass Drizzt Do'Urden sie fand, wenn er sie brauchte.

Wie wäre es mit ein bisschen Spaß?, fragte Ad'non mit den Fingern.

Donnia hob die Hände vor sich, eine Bewegung, die die Aussage betonte und einem Ausruf gleichkam, und drückte die Außenseiten ihrer Daumen gegeneinander.

Ja!

Die Atmosphäre in Oboulds großem Zelt war angespannt, als Kaer'lic und Tos'un hereinkamen. Ein Blick auf Gerti, die im Schneidersitz zwischen zwei grimmigen Wachen saß (und mit dem Kopf immer noch beinahe an die hohe Hirschlederdecke reichte), sagte den beiden Drow, dass das Treffen bisher nicht gut verlaufen war.

»Nesme ist überrannt worden«, erklärte Gerti, nachdem die beiden Neuankömmlinge ihre Plätze rechts von Obould und gegenüber der Riesin eingenommen hatten. »Proffit und seine Trolle sind schneller und besser vorangekommen als wir.«

»Ihre Feinde waren auch nicht annähernd so zäh wie die unseren«, entgegnete Obould. »Die Trolle sind in offenen Siedlungen gegen Menschen angetreten, während wir versuchen, Zwerge in ihren Höhlen zu bekämpfen.«

»Höhlen?«, brüllte Gerti. »Wir sind nicht einmal in der Nähe von Mithril-Halle. Du und dein wertloser Sohn, ihr hattet es bisher nur mit kleinen Siedlungen und einer kleinen Streitmacht von Zwergen auf offenem Gelände zu tun! Und Urlgen ist nicht einmal im Stande, eine Hand voll Zwerge über diese Steilwand und zurück nach Mithril-Halle zu treiben. Das ist kein Sieg! Es ist Stillstand, und das, während sogar der elende Proffit aus den Trollmooren Erfolg hat!«

Proffit?, fragte Tos'un Kaer'lic mit Hilfe der Handzeichensprache.

Anführer der Trolle, erwiderte Kaer'lic, was selbstverständlich nur Spekulation war, denn sie wusste wenig davon, was im Süden geschah.

Sie hatte während dieses kurzen Austauschs die Riesin und den Ork-König weiterhin aufmerksam beobachtet, und Oboulds Miene ließen in ihrem Geist Alarmlocken läuten.

»König Oboulds Sohn konnte bereits den Kopf von Bruenor Heldenhammer als Kriegstrophäe beanspruchen«, warf die Drow-Priesterin nun ein, um die Situation ein wenig zu entschärfen.

Kaer'lic begann erst jetzt, wirklich zu verstehen, wie sehr sich der Ork-König verändert hatte, und sie befürchtete, dass seine neu gewonnene Kraft ihn veranlassen würde, Gerti herauszufordern und seine Armee auf die Riesin und ihre Leute zu hetzen.

»Ich habe keinen Heldenhammer-Kopf gesehen!«, erwiderte Gerti scharf.

»Sein Tod wurde von vielen bezeugt«, erklärte Kaer-lic beharrlich. »Er starb, als der Turm fiel.«

»Meine Riesen hatten daran ebenfalls großen Anteil.«

»Das stimmt«, erwiderte Kaer'lic, bevor Obould explodieren konnte. »Und daher sind unsere Siege in der letzten Zeit durchaus mit denen dieses Trolls zu vergleichen. Wie heißt er noch – Proffit?«

»Proffit«, bestätigte Obould. »Er hat die Trolle und die Sumpfkerle unter seinem Befehl zusammengebracht und sie in größerer Anzahl als je zuvor aus den Trollmooren geführt.«

»Wird er nun Mithril-Halle von Süden her angreifen?«, fragte Kaer'lic.

Obould beugte sich vor, stützte den Kopf in die Hand und dachte darüber nach.

»Es wäre besser, wenn er unterirdisch vorginge«, sagte Tos'un, und die drei Anführer wandten sich ihm zu. »Soll Proffit doch die Zwerge bedrängen«, fuhr der Drow fort. »Er und seine Leute sollen in den Höhlen gegen sie kämpfen, nachdem wir sie nach Mithril-Halle zurückgetrieben haben. Wir werden ihre oberirdischen Befestigungen schleifen und unsere Grenzen sichern, und dann können wir uns den belagerten Zwergen zuwenden.«

Kaer'lics Miene blieb gleichmütig, aber sie gab Tos'un ein dankbares Handzeichen für seinen schlauen Einfall.

»Der Fall von Nesme und die Anwesenheit der Trolle wird wahrscheinlich auch Silbrigmond in den Kampf hineinziehen«, fügte Kaer'lic hinzu. »Und das wollen wir im Augenblick auf keinen Fall. Also sollten sich die Trolle unter die Erde begeben und gegen Mithril-Halle kämpfen, wie der Sohn von Barrison Del'Armgo vorschlägt. Vielleicht werden dann unsere mächtigeren Feinde denken, dass Proffit und seine schrecklichen Geschöpfe sich wieder in die Trollmoore zurückgezogen haben, wohin nicht einmal Lady Alustriel sie verfolgen würde.«

Obould nickte, aber Kaer'lic war immer noch beunruhigt über Gertis missmutige Miene und die Tatsache, dass sie den Blick keinen Moment von König Obould abwandte. Hier ging es um mehr als den Mangel von Fortschritten im Kampf gegen Mithril-Halle. Vor allem kochte Gerti wegen der offensichtlichen Veränderung Oboulds. War es Eifersucht? Angst?

Was immer es sein mochte, es erschreckte Kaer'lic. Ein Bruch zwischen Riesen und Orks in einem solch kritischen Augenblick könnte es den Zwergen gestatten, sich neu zu formieren und die bisherigen Gewinne der Orks und ihrer Verbündeten zunichte zu machen.

Das war jedoch nur ein flüchtiger Gedanke, denn dann fiel Kaer'lic ein, dass es tatsächlich ein interessantes Schauspiel sein könnte, wenn Riesen und Orks gegeneinander kämpften – vielleicht sogar besser als zuzusehen, wie ihre vereinten Kräfte die Zwerge überrollten.

»Dieser Vorschlag interessiert mich«, sagte Obould zu Tos'un. »Wir werden noch ausführlicher darüber sprechen. Ich habe Proffit angewiesen, zum Surbrin und nach Norden zum Osttor von Mithril-Halle zu ziehen, wo wir uns mit ihm zusammentun und die Zwerge in ihr Loch scheuchen werden.«

»Wir sollten uns lieber direkt nach Süden wenden und die Truppen hinwegfegen, die deinem nutzlosen Sohn Widerstand leisten«, schlug Gerti vor. »Urlgens Leute werden abgeschlachtet, und es stört mich im Prinzip nicht zuzusehen, wie Orks und Goblins niedergemetzelt werden, aber ich fürchte, die Verluste sind einfach zu hoch.«

Obould reagierte auf diese Bemerkungen mit einem vollkommen verächtlichen Blick, und Kaer'lic begann sofort, einen Bann vorzubereiten, der ihr und Tos'un Deckung geben würde, damit sie fliehen konnten, falls der Ork-König sich auf Gerti stürzen sollte.

Aber man musste es ihm lassen, Obould beruhigte sich wieder und starrte die Riesin nur an.

»Meine Armee ist seit Senkendorf um das Dreifache angewachsen«, erinnerte der Ork-König Gerti.

»Und die Zwerge metzeln die Leute deines Sohnes nieder«, erwiderte sie.

»Die Zwerge müssen dabei selbst schwere Verluste hinnehmen«, sagte der Ork-König. »Und sie werden müde, denn sie bekommen nur wenig Verstärkung, während sich Urlgen jeden Tag neue Krieger anschließen. Wenn mehr Riesen an diesem Kampf beteiligt wären, wären die Verluste der Zwerge noch höher.«

»Ich opfere meine Krieger nicht.«

Obould lachte leise und sagte: »Bei diesem Feldzug werden auch Riesen sterben, Gerti Orelsdottr.«

Bereits sein Tonfall bewirkte, dass Kaer'lic den Kopf zur Seite neigte und den Ork-König noch genauer studierte. Die Zeremonie hatte Obould eindeutig verändert, hatte ihm das Selbstvertrauen gegeben, mit Gerti auf eine Weise umzugehen, die über alles hinausging, was die Drow-Priesterin erwartet hätte.

»Es bleibt deine Entscheidung«, fuhr Obould fort. »Wenn du Angst vor Verlusten hast, dann zieh dich in die Sicherheit von Leuchtendweiß zurück. Wenn du an Beute interessiert bist, mach weiter. Wir werden die Heldenhammers in ihre Löcher zurücktreiben, und dann gehört der Grat der Welt uns. Sobald wir unsere Eroberungen gesichert haben, vertreiben wir die Zwerge auch aus Mithril-Halle, und sie wird in Zitadelle Todespfeil umbenannt werden.«

Diese Neuigkeit überraschte alle Nicht-Orks im Zelt. Seit sie Obould kannte, hatte Kaer'lic immer wieder feststellen können, dass er von einem einzigen überwältigenden Wunsch getrieben wurde: die verlorene Zitadelle Felbarr zurückzuerobern. Hatte er diese Idee aufgegeben und konzentrierte sich jetzt auf die näher gelegene Zwergensiedlung Mithril-Halle?

»Und was wird König Emerus Kriegerkron dazu sagen?«, fragte Gerti listig, denn selbstverständlich war ihr die gleiche Diskrepanz aufgefallen, und daher erinnerte sie Obould alles andere als subtil an sein ursprüngliches Ziel.

»Wir können den Surbrin nicht überqueren«, entgegnete Obould ohne das geringste Zögern. »Ich werde nicht zulassen, dass sich die größeren Mächte des Nordens gegen uns zusammentun – nicht jetzt. Die Zitadelle Felbarr wird der Heldenhammer-Sippe selbstverständlich Krieger und andere Hilfe schicken, aber da König Bruenor tot ist, wird es den Zwergen im Osten wahrscheinlich lieber sein, wenn die Flüchtlinge aus Mithril-Halle sich nach Felbarr zurückziehen. Sobald die Verbindungsgänge gesichert sind, wird unser Sieg vollständig sein, und alles Land von den Bergen bis zum Surbrin südlich der Trollmoore wird uns gehören.«

Ein kleinerer Bissen, signalisierte Tos'un Kaer'lic.

Ein weiserer Kurs, war Kaer'lics Kommentar. Obould will inzwischen offenbar mehr als Rache und Kampf. Er will den Sieg.

Das verblüffte Kaer'lic, noch während sie es Tos'un mit Hilfe der Fingersprache übermittelte. Obould war Kaer'lic immer so primitiv vorgekommen. Seit sie einander begegnet waren, hatte der Ork-König beinahe ausschließlich davon gesprochen, die Zitadelle Felbarr zurückzuerobern, was nach der Erneuerung der Zwergenherrschaft in Mithril-Halle und der Festigung des Bündnisses zwischen den drei Zwergensiedlungen – Mithril-Halle, Zitadelle Felbarr und Zitadelle Adbar – vollkommen unmöglich schien. Während sie das Bündnis zwischen Orks und Eisriesen und den Feldzug vorbereiteten, hatten die vier intriganten Dunkelelfen stets angenommen, Obould hätte es einzig auf seine Rache abgesehen, selbst wenn es ihn in die Katastrophe trieb. Kaer'lic und die anderen Drow hatten nie an einen echten und lang andauernden Sieg gedacht eher an schlichtes Chaos, von dem sie profitieren konnten.

Hatte die Zeremonie des Schamanen Arganth dem Ork-König etwa auch größere Einsicht verschafft? Sollte die blasphemische Nutzung des Abbilds von Gruumsh durch die Zwerge den Ork-König und seine wachsende Schar von Anhängern tatsächlich einem wahren und dauerhaften Sieg näher gebracht haben?

Kaer'lic achtete darauf, solche Gedanken nicht außer Kontrolle geraten zu lassen, und erinnerte sich daran, dass sie es hier immerhin nur mit Orks zu tun hatte, ganz gleich, wie viele von ihnen es gab. Sie musste nur einen Blick auf Gertis vor Hass blitzende Augen werfen, um zu erkennen, dass Oboulds Pläne immer noch sehr gefährdet waren.

»Zu Beginn des Winters wird diese Region unter unserer Herrschaft stehen und gesichert sein«, erklärte Obould. »Wir treiben die Zwerge in ihr Loch und nehmen uns all ihr Land an der Oberfläche bis zur Biegung des Gebirgszugs. Und im Winter kämpfen wir in den Gängen von Mithril-Halle weiter.«

»Die Zwerge werden in ihren unterirdischen Hallen noch gefährlicher sein«, sagte Kaer'lic.

»Aber wie lange werden sie dort Widerstand leisten?«, fragte Obould. »König Bruenor ist tot, und sie werden keinen Handel treiben können, solange es ihnen nicht gelingt durchzubrechen.«

Das alles war durchaus vernünftig, musste Kaer'lic zugeben – ein ebenso erfreulicher wie Furcht erregender Gedanke. Vielleicht war Obould zu vernünftig geworden. Die Drow-Priesterin, die immer schon skeptisch gewesen war, was dieses ganze Unternehmen anging, sah ebenso die Möglichkeit zu einem höheren Aufstieg wie die zu einem tieferen Fall.

Das Schlimmste jedoch war, begreifen zu müssen, dass König Obould plötzlich erheblich weniger empfänglich für die Intrigen und Täuschungen der Dunkelelfen war.

Was ihn gefährlich machte.

Kaer'lic warf noch einen Blick zu Gerti und erkannte, dass die Riesin offenbar zu dem gleichen Schluss gekommen war.

Befreiung**:

In einem der seltenen ruhigen Augenblicke lehnte sich Wulfgar an einen Felsblock und blickte aufs Tal der Hüter und zum Westtor von Mithril-Halle.

»Du denkst an Bruenor«, sagte Catti-brie.

»Ja«, flüsterte der Barbar. Er warf ihr einen Blick zu und hätte beinahe gelacht, obwohl es ein Lachen reiner Resignation gewesen wäre, das nichts mit wirklicher Heiterkeit zu tun hatte. Denn Catti-brie war blutüberströmt, das blonde Haar klebte ihr am Kopf, ihre Kleidung war fleckig und ihre Stiefel waren nass von Blut. »Ich fürchte, dein Schwert schneidet zu tief«, sagte er.

Catti-brie fuhr sich durch das klebrige Haar und seufzte hilflos. »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal genug davon haben könnte, Orks und Goblins zu töten«, sagte sie. »Und ganz gleich, wie viele wir umbringen, für jeden, der fällt, tauchen ein Dutzend neue auf.«

Wulfgar nickte nur und schaute wieder ins Tal hinab.

»Regis hat nun allen Priestern den Befehl gegeben, keine Versuche zu Bruenors Heilung mehr zu unternehmen«, erinnerte ihn Catti-brie.

»Sollten wir nicht bei ihm sein, wenn er stirbt?«, fragte Wulfgar, und er musste sich anstrengen, damit seine Stimme nicht brach.

Er hörte, wie Catti-brie näher kam, drehte sich aber nicht um, denn er fürchtete, sobald er ihr in die Augen sah, würde er in Schluchzen ausbrechen. Und das ging nicht, das konnten sie sich beide nicht leisten.

»Nein«, sagte Catti-brie und legte tröstend die Hand auf Wulfgars breite Schulter. »Wir haben ihn schon verloren«, flüsterte sie. »Wir haben in Senkendorf gesehen, wie er gefallen ist. Bruenor ist schon damals gestorben; er stirbt nicht erst jetzt, wenn sein Körper den letzten Atemzug tut. Die Priester haben ihn um unseretwillen am Leben erhalten und nicht in seinem eigenen Interesse. Bruenor ist schon lange tot, sitzt wahrscheinlich mit Gandalug und Dagnabbit zusammen und ärgert sich, weil wir weinen.«

Wulfgar legte seine große Hand auf die von Catti-brie und drehte sich nun doch zu ihr um, um ihr wortlos für die beruhigenden Worte zu danken. Er war immer noch nicht sicher, hatte immer noch das Gefühl, Bruenor zu verraten, wenn er nicht an der Seite des Zwergenkönigs war, wenn dieser in die andere Welt ging. Aber wie sollten Banak und die anderen ohne ihn und Catti-brie auskommen? Ihre Anstrengungen hatten viel dazu beigetragen, dass die Zwerge die Orks zurücktreiben konnten.

Und würde Bruenor ihm nicht einfach eine Kopfnuss versetzen, wenn er von solchen Gedanken hörte?

»Ich konnte mich nicht einmal wirklich von ihm verabschieden«, sagte Wulfgar.

»Als wir dachten, die Yochlol hätten dich umgebracht, trauerte Bruenor viele Zehntage lang«, erklärte Catti-brie. »Es hat ihm das Herz zerrissen.« Sie stellte sich vor den Barbaren, nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und sah ihm in die Augen. »Aber er hat weitergemacht. Und in diesen ersten Tagen, als die mörderischen Dunkelelfen von allen Seiten angriffen, hat er sich von seinem Zorn leiten lassen. Keine Zeit zum Trauern, hat er immer wieder gemurmelt, wenn er glaubte, dass ihm niemand zuhörte.«

»Und wir müssen ebenso stark sein«, stimmte Wulfgar ihr zu.

Sie waren das alles selbstverständlich schon mehrmals durchgegangen, hatten dabei beinahe die gleichen Worte gewechselt. Wulfgar verstand, dass er und Catti-brie dieses Gespräch immer wieder führten, weil ihre Zweifel und Ängste so tief verwurzelt waren, weil die Situation so vollkommen außer Kontrolle geraten war.

»Bruenor Heldenhammer wird leichter bei seinen Ahnen ruhen können«, fuhr er fort, »wenn er weiß, dass Mithril-Halle gesichert ist und dass seine Freunde und seine Sippe in seinem Namen und für unsere gemeinsame Sache weiterkämpfen.«

Catti-brie küsste ihn auf die Stirn und umarmte ihn, und mit einem tiefen Einatmen ließ Wulfgar seinen Schmerz los – wenn auch nur kurzfristig, wie er genau wusste. Seine ganze Welt hatte sich verändert, und die ganze Welt würde sich abermals verändern, und nicht zum Besseren, wenn sie König Bruenor neben seinen Ahnen begruben. Catti-bries Worte waren vernünftig, und Wulfgar verstand, dass Bruenor im Kampf um Senkendorf so ruhmreich gestorben war, wie ein Zwerg sterben sollte und wie der Zwergenkönig es sich selbst gewünscht hätte.

Diese Erkenntnis machte es irgendwie leichter.

Aber nur ein wenig.

»Und was ist mit dir?«, fragte Wulfgar. »Du machst dir solche Sorgen darum, wie alle anderen sich fühlen, und dennoch sehe ich den Schmerz in deinen Augen, liebe Freundin.«

»Was für ein Geschöpf wäre ich, wenn ich den Zwerg verlöre, der mich wie sein eigenes Kind aufgezogen hat, und es mich nicht schrecklich quälte?«, erwiderte Catti-brie.

Wulfgar hob die Hand und packte sie fest am Unterarm. »Ich rede von Drizzt«, sagte er leise.

»Ich glaube nicht, dass er tot ist«, war ihre Antwort.

Wulfgar stimmte ihr aus ganzem Herzen zu. »Orks und Riesen?«, sagte er. »Nein, Drizzt ist am Leben, und wahrscheinlich bringt er da draußen ebenso viele Feinde um wie wir hier mit der gesamten Armee.«

Catti-brie nickte, aber als sie den Mund verzog, hatte das mehr mit zusammengebissenen Zähnen als mit einem Lächeln zu tun.

»Aber das meinte ich nicht«, fuhr Wulfgar fort. »Ich weiß, wie durcheinander du sein musst, so wie es alle wissen, die dich kennen und dich lieben.«

»Sei nicht albern«, erwiderte Catti-brie und versuchte sich abzuwenden.

Wulfgar hielt sie fest. »Liebst du ihn?«, fragte er.

»Ich könnte dir die gleiche Frage stellen und bin sicher, ich würde die gleiche Antwort erhalten.«

»Du weißt, was ich meine.« Wulfgar gab nicht auf. »Selbstverständlich liebst du Drizzt als Freund, so wie ich und Regis es tun. Ich wusste, dass ich einen Weg aus der Trunksucht und aus meiner Qual herausfinden konnte, als ich zu euch vieren, meinen Freunden, zurückkehrte. Zu meinen wahren Freunden, zu meiner Familie. Aber du verstehst, was ich dich nun frage. Liebst du ihn?«

Er ließ Catti-brie los, und sie trat einen Schritt zurück, auch wenn sie den Blick nicht abwandte und nicht einmal blinzelte.

»Als du weg warst…«, begann sie.

Wulfgar lachte über ihren offensichtlichen Versuch, ihn zu schonen. »Das hat nichts mit mir zu tun!«, erklärte er. »Wenn man einmal davon absieht, dass wir Freunde sind. Freunde, die einander sehr gern haben. Bitte, um deiner selbst willen, weiche nicht aus. Liebst du ihn?«

Catti-brie seufzte tief, und dann senkte sie den Blick. »Drizzt«, sagte sie, »ist mir auf eine Weise wichtig, die über das hinausgeht, was ich für die anderen in unserer Gruppe empfinde.«

»Und ihr liebt euch?«

Diese persönliche Frage bewirkte, dass Catti-brie ruckartig wieder zu dem Barbaren aufblickte. In seinen blauen Augen lag jedoch nichts als echtes Mitgefühl, und so wurde sie nicht wütend.

»Wir haben Jahre miteinander verbracht«, sagte sie leise. »Als wir annehmen mussten, dass du gefallen und für uns verloren warst, haben Drizzt und ich Jahre miteinander verbracht, auf der Jagd und auf Deudermonts Schiff.«

Wulfgar lächelte sie an und hob die Hand, um ihr mitzuteilen, dass er genug gehört hatte, dass er verstand, was sie meinte.

»War es Liebe oder Freundschaft, was dich in diesen Jahren und auf diesen Straßen geleitet hat?«, fragte er.

Catti-brie blickte in die Ferne und dachte eine Weile darüber nach.

»Die Freundschaft war immer da«, sagte sie schließlich. »Wir beide haben sie nie verloren. Es waren vor allem Freundschaft und Kameradschaft, was mich und Drizzt unterwegs am Leben erhalten hat.«

»Und nun quälst du dich, weil es für dich mehr als das geworden ist«, vermutete Wulfgar. »Und als du dachtest, du wärst so gut wie tot, als dich die Orks umzingelt hatten, hat es nur umso mehr wehgetan, weil du mehr zu verlieren hattest.«

Catti-brie blickte ihn an und versuchte nicht einmal zu antworten.

»Also sag mir, liebe Freundin, bist du bereit, die Straße aufzugeben?«, fragte Wulfgar. »Bist du bereit, den Abenteuern zu entsagen?«

»Nicht mehr, als es Bruenor war!«, fauchte Catti-brie ohne das geringste Zögern.

Wulfgar grinste breit, denn nun wurde ihm alles klar, und er glaubte, seiner Freundin tatsächlich helfen zu können.

»Möchtest du Kinder haben?«, fragte er.

Catti-brie starrte ihn ungläubig an. »Was ist denn das für eine Frage?«

»Eine Frage, die ein Freund stellen würde«, sagte Wulfgar und wiederholte sie noch einmal.

Die Strenge in Catti-bries Blick verschwand, und Wulfgar wusste, dass sie wirklich tief in sich hineinsah und sich diese Frage vielleicht zum ersten Mal selbst stellte.

»Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Ich dachte immer, es würde eine leichte Entscheidung sein, und dass ich selbstverständlich Kinder haben wollte. Aber nun bin ich nicht mehr so sicher, obwohl mir langsam die Zeit für eine solche Entscheidung ausgeht.«

»Und du möchtest Drizzts Kinder haben?«

Nun lag Panik in ihrem Blick. Sie riss mit offensichtlichem Entsetzen die Augen auf, aber ihre Züge wurden bald weicher. Sie war hin und her gerissen, wie Wulfgar schon erwartet hatte. Denn dies war die Crux, der Haken an ihrer Beziehung. Drizzt war ein Drow. Wollte Catti-brie wirklich Kinder haben, die halbe Drow waren? Sicher war die Antwort hier zwiespältig, ein tief empfundenes Ja und ein logisches Nein, und beide waren sehr nachdrücklich.

Wulfgar begann leise zu kichern.

»Du lachst über mich«, warf Catti-brie ihm vor, und Wulfgar bemerkte wieder einmal, wie sehr sie in den Zwergenakzent zurückfiel, wenn sie aufgeregt war.

»Nein, nein«, versicherte Wulfgar und hob abwehrend die Hände. »Ich dachte nur an die Ironie der Situation, und es amüsiert mich, dass du dir meinen Rat auch nur anhörst: Immerhin habe ich meine Frau an einem sehr merkwürdigen Ort gefunden und ziehe ein Kind groß, das weder meins noch das meiner merkwürdigen Frau ist.«

Als sie begriff, was er meinte, begann auch Catti-brie zu lächeln.

»Und wir stammen beide aus einer Familie mit einem Zwergenvater, der zwei Menschenkinder wie seine eigenen aufgezogen hat«, sagte sie.

»Muss ich jetzt noch aufzählen, worin die ironischen Aspekte in Drizzts Leben bestehen?«, fragte Wulfgar.

Catti-brie lachte so laut, dass sie sich den Bauch halten musste.

»Man könnte behaupten«, keuchte sie, »dass Regis der einzig Normale unter uns ist.«

»Ein wahrhaft Furcht erregender Gedanke«, erwiderte Wulfgar dramatisch, und Catti-brie lachte noch lauter. »Vielleicht ist es ja gerade diese Ironie, die uns auf dem Weg, für den wir uns entschieden haben, immer weitertreibt.«

Catti-brie wurde bei dieser Bemerkung ein wenig ernster, dann hörte sie auf zu lachen, und ihre Miene wurde grimmig – Wulfgar verstand, dass das Gespräch sie genau zu dem Thema zurückgeführt hatte, mit dem sie begonnen hatten: dem Zustand von Bruenor Heldenhammer.

»Mag sein«, stimmte sie zu. »Zumindest war es bisher so, aber nun ist Bruenor tot und Drizzt allein dort draußen.«

»Nein!«, erklärte Wulfgar beharrlich und richtete sich auf. »Es ist immer noch so.«

Catti-brie seufzte und setzte zu einer Erwiderung an, aber Wulfgar schnitt ihr das Wort ab.

»Ich denke an meine Frau und mein Kind in Mithril-Halle«, sagte der Krieger. »Jedes Mal, wenn ich hier heraufkomme, weiß ich nicht, ob ich Delly und Colson je wieder sehen werde. Und dennoch gehe ich, weil der Weg mich lockt – und du hast gerade zugegeben, dass es für dich genauso ist. Bruenor ist tot, das müssen wir akzeptieren, und Drizzt …. Nun, wer weiß schon, wo der Drow sich befindet? Wer weiß, ob ein Ork-Speer seinen Weg in sein Herz gefunden und ihn uns für immer entrissen hat? Wir wissen es beide nicht, obwohl wir darum beten, dass es ihm gut geht und er bald zu uns zurückkehren wird. Aber selbst wenn dem nicht so ist, und selbst wenn Regis auf Dauer Verwalter bleibt oder vielleicht Berater, wenn Banak Starkamboss König von Mithril-Halle wird, werde ich meinen Weg nicht aufgeben. Das hier ist mein Leben, mit dem Wind im Gesicht und den Sternen über mir. Es ist mein Schicksal, gegen Orks und Riesen und alle anderen zu kämpfen, die das gute Volk dieser Region bedrohen. Ich genieße dieses Leben, und das werde ich tun, bis ich zu alt bin, um mich noch auf den Bergpfaden zu bewegen, oder bis eine feindliche Klinge mich fällt. Delly weiß das. Meine Frau akzeptiert, dass ich nur wenig Zeit bei ihr in Mithril-Halle verbringen werde.« Der Barbar lachte selbstkritisch und fragte: »Kann ich sie unter solchen Umständen überhaupt als meine Frau bezeichnen? Und Colson als meine Tochter?«

»Du bist Delly ein guter Mann und der Kleinen ein guter Vater.«

Wulfgar nickte, um sich für ihre Worte zu bedanken. »Und dennoch werde ich dieses Leben nicht aufgeben«, sagte er, »und Delly Curtie würde das auch nicht wollen. Das ist es, was ich an ihr am meisten liebe. Deshalb verlasse ich mich darauf, dass sie sich um Colson kümmern wird, falls ich umkommen sollte, und sie zu dem erzieht, was Colson vorbestimmt ist.«

»Ihrem Wesen getreu?«

»Unabhängigkeit ist wichtiger als alles andere«, erklärte Wulfgar. »Und es ist viel schwieriger, von unseren inneren Fesseln unabhängig zu sein als von denen, die andere uns anlegen.«

Diese schlichten Worte warfen Catti-brie beinahe um. »Ich habe einmal das Gleiche zu einem unserer Freunde gesagt«, erklärte sie.

»Drizzt?«

Sie nickte.

»Dann folge jetzt deinen eigenen Worten«, riet Wulfgar ihr. »Du liebst ihn, und du liebst die Freiheit hier draußen. Warum solltest du mehr als das brauchen?«

»Wenn ich Kinder haben will…«

»Dann wirst du das wissen, und du wirst dein Leben entsprechend verändern«, sagte Wulfgar. »Oder es könnte sein, dass das Schicksal an deiner statt entscheidet, trotz aller Vorsicht, und du wirst bekommen, was du willst und vielleicht auch nicht willst.«

Catti-brie hielt die Luft an.

»Und wäre das wirklich so schlimm?«, fragte Wulfgar. »Ein Kind von Drizzt Do'Urden zu bekommen? Wenn das Kind auch nur die Hälfte seiner Fähigkeiten und ein Zehntel seines Herzens hat, würde es zu den Größten hier im Norden gehören.«

Wieder seufzte Catti-brie und hob die Hand, um sich die Augen zu wischen.

»Wenn Bruenor zwei so freche Menschengören aufziehen konnte …«, sagte Wulfgar grinsend und ließ den Satz unvollendet.

Catti-brie lachte und lächelte ihn voller Wärme und Dankbarkeit an.

»Liebe und finde Freude, so gut es geht«, riet Wulfgar. »Mach dir nicht so viele Sorgen um die Zukunft, dass das Heute dir vollkommen entgeht. Du bist glücklich an Drizzts Seite. Brauchst du mehr als das?«

»Du klingst genau wie er«, sagte Catti-brie. »Aber nicht, wenn er mir einen guten Rat gab, sondern wenn er mit sich selbst sprach. Du rätst mir, an den gleichen Ort zu gehen, den Drizzt für sich gefunden hat; du willst, dass ich Freude im Hier und Jetzt finde, und zur Hölle mit dem Rest.«

»Und sobald Drizzt diesen Ort gefunden hatte, haben deine Zweifel begonnen«, sagte Wulfgar lächelnd. »Als er sich selbst akzeptieren konnte, waren alle Hindernisse verschwunden, und daher hast du eins errichtet – deine Angst –, damit alles weiterhin unentschieden bleibt.«

Catti-brie schüttelte den Kopf, aber Wulfgar sah, dass sie ihm im Grunde zustimmte.

»Folge deinem Herzen«, sagte er leise. »Minute um Minute und Tag für Tag. Lass den Fluss fließen, wie er will, statt dich in Ängste zu verstricken, die du vielleicht nie wirklich durchschauen wirst.«

Catti-brie blickte zu ihm auf und nickte schließlich. Froh, dass er ihr ein wenig hatte helfen können, beugte sich Wulfgar vor und drückte seiner Freundin einen Kuss auf die Stirn.

Das ließ Catti-brie erneut liebevoll lächeln, und sie schien zum ersten Mal seit langer Zeit mit sich selbst im Reinen zu sein. Er hatte ihre Gefühle zurück in die Gegenwart gezwungen, das wusste er, und sie von den Ängsten befreit, die sie nur durcheinander gebracht hatten. Warum sollte sie ihre gegenwärtigen Freuden – das wilde Land, das Zusammensein mit ihren Freunden und die Liebe von Drizzt – aus Angst vor unsicheren zukünftigen Wünschen opfern?

Er sah, wie sie sich sichtlich entspannte, sah, wie ihr Lächeln echter und dauerhafter wurde. Er konnte sehen, wie ihre emotionalen Fesseln von ihr abfielen.

»Wann bist du so weise geworden?«, fragte sie.

»In der Hölle und danach«, erwiderte Wulfgar. »In der Hölle, die Errtu mir bereitet hat, und in meiner eigenen.«

Catti-brie neigte den Kopf zur Seite und starrte ihn forschend an.

»Und du bist frei?«, fragte sie. »Tatsächlich frei?« Wulfgars Lächeln war so strahlend wie zuvor das ihre, sogar noch strahlender, ein jungenhaftes Lächeln, so liebevoll und, ja, so frei.

»Komm, lass uns ein paar Orks umbringen«, sagte er – Worte, die für Catti-bries Ohren tröstliche Musik waren.