Spionage, Sabotage

Regis drückte Bruenors Hand und schaute auf seinen Freund hinab. Er fragte sich, ob dies seine letzte Gelegenheit sein würde, den Zwergenkönig lebendig zu sehen. Bruenors Atem wirkte flacher, und die Gesichtsfarbe des Zwergs war so grau, als bestünde er aus Stein. Stumpet und Cordio hatten Regis gesagt, dass es wahrscheinlich nicht mehr lange dauern würde, und er sah es nun deutlich mit eigenen Augen.

»Ich bin es dir einfach schuldig.« Der Halbling war nur mit Mühe in der Lage, die Worte an dem Kloß in seinem Hals vorbeizuzwingen. »Das sind wir alle, und du solltest wissen, dass Mithril-Halle nicht fallen wird. Ich werde es nicht zulassen.«

Der Halbling drückte noch einmal sanft die Hand seines Freundes, dann legte er sie zurück auf die Brust des Zwergs. Einen Augenblick lang schien sich Bruenors Brust nicht mehr zu bewegen, und Regis fragte sich, ob der Zwerg ihn gehört und endlich aufgehört hatte, sich ans Leben zu klammern.

Aber dann atmete Bruenor wieder.

Regis tätschelte die Hände des Zwergenkönigs und verließ dann schnell das Zimmer, überwältigt von Gefühlen und kaum im Stande, sich zu fassen. Er musste sich beeilen, denn er war schon spät dran für das Treffen mit Galen Firth aus Nesme. Er hatte immer noch keine Ahnung, was er mit dem Mann machen sollte. Welche Hilfe konnte Mithril-Halle der Nachbarstadt anbieten, wenn es selbst so schwer bedrängt wurde? Das Osttor war versiegelt – die Zwerge hatten sogar die Gänge dahinter zum Einsturz gebracht, um dafür zu sorgen, dass alle Feinde, die auf diesem Weg eindringen wollten, sich durch mehr als zwanzig Fuß Stein graben mussten.

Die Berichte aus dem Norden klangen nicht ermutigender. Banak Starkamboss hatte deutlich gemacht, dass er seine Position nicht mehr lange halten könnte. Die Riesen bauten auf dem Bergkamm im Westen Katapulte, und Banak befürchtete, dass seine Truppe schon bald unter schwerem Beschuss stehen würde.

Er hatte Regis gebeten, die Zwerge, die sich am westlichen Ende des Tals der Hüter eingegraben hatten, nach Norden zu schicken, um den Gebirgskamm vom Westen her anzugreifen, aber die Bitte war mit dem Hinweis verbunden gewesen, das nur dann zu riskieren, wenn wirklich Aussicht auf Erfolg bestand. Selbst Banak, dessen Situation immer verzweifelter wurde, erkannte, wie gefährlich ein solches Vorgehen wäre. Regis würde damit nicht nur eine seiner beiden Oberflächenarmeen der möglichen Vernichtung aussetzen, sondern sie auch aus ihrer Verteidigungsposition im Tal der Hüter abziehen und damit das Westtor von Mithril-Halle einem direkten Angriff preisgeben.

Und Nesme wurde heftig bedrängt, war vielleicht schon überrannt worden, weshalb der Halbling dafür sorgen wollte, dass wenigstens der westliche Weg nach Mithril-Halle offen und vor möglichen Feinden aus dem Süden geschützt blieb.

Zu viele Probleme gingen dem Halbling-Verwalter durch den Kopf. Er musste sich mit zu vielen Dingen gleichzeitig abgeben. Die meiste Zeit wusste er kaum mehr, wo er war, und eigentlich hatte er nur noch den Wunsch, ordentlich zu essen und sich dann in ein warmes Bett legen zu können. Und wenn er erst ausgiebig geschlafen hätte, wollte er keiner schwierigeren Entscheidung gegenüberstehen als der, was er wohl zum Frühstück essen sollte.

Mit all diesen Bürden auf seinen schmalen Schultern machte sich Regis auf den Weg, aber dann blieb er noch einmal stehen und blickte zurück zu dem kerzenbeleuchteten Zimmer, in dem König Bruenor lag, und erinnerte sich an das, was er seinem sterbenden Freund gerade gesagt hatte.

Sofort straffte Regis die Schultern, gestärkt von seinem Pflichtgefühl. Er hatte sein Versprechen ernst gemeint, und er war Bruenor zumindest so viel schuldig.

Eins nach dem anderen, sagte er sich und ging nun rasch und entschlossen zu seiner Besprechung mit Galen Firth. Er fand den Mann in dem verabredeten Audienzzimmer, einem kleineren, persönlicheren Raum als dem großen Saal. Hier gab es drei bequeme, dick gepolsterte Sessel, die auf einem weichen Teppich mit dem Bierkrugwappen der Heldenhammer-Sippe standen, und in der steinernen Feuerstelle brannte ein kleines gemütliches Feuer.

Trotz dieser angenehmen Umgebung ging Galen Firth unruhig auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt, die Finger nervös zuckend, den Blick zu Boden gerichtet. Regis fragte sich, ob dieser Mann immer so unruhig war.

»Ich freue mich, Euch wieder zu sehen, Galen Firth aus Nesme«, sagte der Halbling-Verwalter, als er hereinkam. »Verzeiht die Verspätung; ich bin im Augenblick mit vielen dringlichen Problemen beschäftigt.«

»Eure Verspätung heute ist verzeihlicher als die Verspätung einer Reaktion von Mithril-Halle auf Nesmes verzweifelten Ruf«, erwiderte der unangenehme Mensch barsch.

Regis seufzte, ging an Galen vorbei und setzte sich auf einen der Sessel. Es sah so aus, als wollte der Krieger stehen bleiben, also zeigte der Halbling auf einen Sessel ihm gegenüber, rechts vom Feuer.

Ohne den Blick von Regis abzuwenden, ging der Reiter aus Nesme zu dem Sessel.

»Was erwartet Ihr von mir?«, fragte Regis, als Galen sich endlich hingesetzt hatte.

»Schickt eine Armee von Zwergen nach Nesme, damit wir die Trolle wieder in ihr Sumpfwasser zurücktreiben und meine Stadt befreien können.«

»Und wenn diese Armee nach Süden marschiert und eine größere Armee von Orks und Riesen sie verfolgt, was tun wir dann?«, fragte Regis, und Galen kniff die Augen zusammen. »Denn genau das wird geschehen. Die Orks bedrängen uns im Norden und haben das Osttor nach Mithril-Halle versiegelt – von diesem letzten Kampf habt Ihr inzwischen doch sicher gehört, oder? Ich habe eine Streitmacht oben auf der Klippe nördlich vom Tal der Hüter, die täglich von den Orks angegriffen wird, aber wenn die Berichte über die Größe der Streitmacht im Osten auch nur annähernd der Wahrheit entsprechen, werden meine Krieger bald noch schwerer bedrängt werden und ihre Stellungen wahrscheinlich aufgeben müssen. Ihr versteht offenbar nicht ganz, was rings um uns vor sich geht«, sagte der Halbling.

Galen Firth starrte ihn grimmig an.

»Es ist kein Zufall, dass Nesme gerade jetzt angegriffen wurde«, erklärte Regis. »Die feindlichen Kräfte im Norden und Süden haben sich zusammengetan.«

»Das ist unmöglich!«

»Habt Ihr denn keine Einzelheiten über den Fall des Osttors von Mithril-Halle gehört?«

»Nur wenige, und es interessiert mich auch nicht –«

»Die Zwerge dort wurden von Riesen und Orks aus dem Norden und von einem Heer von Trollen aus dem Süden angegriffen«, unterbrach ihn Regis, und Galen riss erst erstaunt den Mund auf, dann sackte er sichtlich zusammen.

»Es scheint, als versuchten unsere gemeinsamen Feinde, alles Land vom Surbrin bis nach Nesme, von den Trollmooren bis zum Grat der Welt zu erobern«, fuhr Regis fort. »Damit bleiben nur eine Hand voll Siedlungen übrig, solange wir von unseren Nachbarn keine Hilfe erhalten.«

»Dann seid Ihr also auch der Ansicht, dass wir uns zusammentun müssen«, sagte Galen. »Ihr erkennt, wie wichtig es ist, schnell Leute nach Nesme zu schicken.«

»Ja«, erwiderte Regis. »Wir müssen zusammenhalten, und das werden wir auch, aber ich glaube, Euer Wunsch, dass wir Euch helfen, in Nesme die Stellung zu halten, ist eine Illusion. Mithril-Halle wird standhalten, aber außerhalb unserer Tore ist alles verloren – oder wird es bald sein.«

»Was soll das?«, fragte Galen unwillig und sprang auf. Seine Augen blitzten vor Zorn.

»Wir kämpfen um jeden Zoll«, sagte Regis. Seine Stimme bebte kein bisschen, und er wich auch nicht vor dem viel größeren Mann zurück. »Und wenn wir draußen nicht standhalten können, ziehen wir uns in die besser zu verteidigenden Höhlen und Stollen von Mithril-Halle zurück. Hier werden wir die Gänge zur Zitadelle Felbarr offen halten; sie werden in der Außenwelt unsere Augen, Ohren und Münder sein. Von hier aus werden wir weiterhin Silbrigmond und Sundabar bitten, ihre Armeen zu mobilisieren. Ich habe bereits Botschafter ausgeschickt, die unter der Erde auf dem Weg zu Lady Alustriel von Silbrigmond und zu den Anführern von Sundabar sind. Von hier aus werden wir uns weiter den Angriffen dieser monströsen Feinde widersetzen.«

»Während meine Leute sterben?«, fauchte Galen Firth.

»Nein«, sagte Regis. »Nicht, wenn wir etwas dagegen tun können. Seit Ihr hier eingetroffen seid, habe ich bereits Späher nach Südwesten geschickt, die einen Weg nach Nesme suchen. Sie kommen gut voran, und ich erwarte, dass sie schon bald einen Ausgang zur Oberfläche finden, der nahe genug an Eurer Stadt liegt, um zu Euren Leuten zu stoßen.«

»Dann schickt eine Armee auf diesen Weg, und wir treiben die Trolle zurück!«

»Ich werde sehen, was ich entbehren kann, aber ich erwarte, dass es nicht genug Leute für die Aufgabe sind, die Ihr Euch vorstellt«, sagte Regis.

»Was bleibt dann noch?« Die Stimme des Kriegers war plötzlich leiser geworden, und er sackte wieder in seinen Sessel.

Er drehte sich um, stützte das Kinn in die Hand und starrte in die Flammen.

»Wir werden Eure Leute finden und ihnen so gut wie möglich helfen«, erklärte Regis. »Wir werden neben ihnen kämpfen, wenn das eine Möglichkeit ist. Und wenn nicht, oder wenn es schlimmer wird, werden wir uns zusammen mit Euren Leuten ins Unterreich zurückziehen, zurück nach Mithril-Halle. Meine Zwerge sind vielleicht nicht im Stande, unsere Feinde an der Oberfläche zu besiegen, aber ich bin sicher, dass sie hier in den Gängen standhalten können.«

Galen Firth schwieg und starrte ins Feuer.

»Ich wünschte, ich hätte mehr anzubieten«, fuhr Regis fort. »Ich wünschte, ich könnte alle Zwerge aus Mithril-Halle nach Süden schicken, um die Trolle zu überrennen. Aber das kann ich nicht. Das müsst Ihr verstehen.«

Galen blieb eine Weile schweigend sitzen, dann wandte er sich wieder Regis zu. Seine Miene war ein wenig freundlicher geworden.

»Ihr glaubt wirklich, dass die Orks und Riesen mit den Trollen aus den Trollmooren zusammenarbeiten?«

»Der Fall des Osttors weist deutlich darauf hin«, erwiderte der Halbling.

»Das bedeutet auch, dass meine Leute in einer verzweifelten Lage sind«, sagte Galen. »Wenn die Trolle sich sicher genug fühlten, eine Truppe so weit nach Nordosten zu schicken, dass sie Euer Tor am Surbrin erreichen …«

»Dann solltet Ihr nicht länger warten«, sagt Regis. Er griff in seine Weste und zog ein aufgerolltes Pergament heraus, das er dem Mann zuwarf. »Bringt das in die Unterstadt, zu Tasker Blasebalg. Meine Leute werden noch heute aufbrechen.«

Galen Firth starrte erst das Pergament und dann Regis an, der wieder von seinem Sessel kletterte. Er sagte nichts mehr, aber in seinem Nicken lag genug Anerkennung für den Halbling, um Regis mitzuteilen, dass der Mann seine Gründe verstanden hatte, selbst wenn er nicht unbedingt der gleichen Ansicht war.

Firth verbeugte sich und ging, und der Halbling-Verwalter seufzte erleichtert und dachte, dass er jetzt zumindest ein Problem weniger hatte.

Er ließ sich wieder auf den Sessel sinken und wandte sich dem Feuer zu, aber bevor er sich entspannen konnte, ließ ein Klopfen an der Tür ihn herumfahren.

»Herein«, sagte er und erwartete, dass Galen Firth noch einmal zurückkehrte.

Die Tür ging auf, und herein kam ein rußbedeckter Zwerg: Miccarl Eisenhammer war einer der besten Grobschmiede von Mithril-Halle. Er war so schmutzig, dass die Farbe seines breiten, kurzen Barts unmöglich festzustellen war – Gerüchte behaupteten jedoch, er sei rot. Miccarl trug eine dicke Lederschürze und ein schwarzes Hemd mit nur einem Ärmel, der seinen linken Arm vollkommen bedeckte und an den ein schwerer, hitzebeständiger Handschuh genäht war. Sein nackter rechter Arm war von Ruß überzogen und doppelt so dick wie der linke, muskulös von vielen Jahren der Hammerarbeit.

»Schon wieder der Gnom?«, fragte Regis.

Miccarl war im letzten Zehntag schon zweimal zu ihm gekommen und hatte berichtet, dass der kleine Besucher aus Mirabar ausgesprochen neugierig in der Unterstadt herumschnüffelte.

»Der Kleine hat sich wieder Landkarten angesehen«, erklärte Miccarl.

»Die gleichen wie zuvor?«

»Die Gänge im Westen, die überwiegend nicht mehr benutzt werden.«

»Wo ist er jetzt?«

»Als ich ihn zum letzten Mal sah, war er auf dem Weg zu diesen Gängen«, erklärte Miccarl. »Ich denke, er glaubt, etwas entdeckt zu haben.«

»Und was könnte das sein?«

»Keine Ahnung, und auch sonst kann sich niemand vorstellen, um was es ihm gehen könnte. Diese Gänge sind schon seit Hunderten von Jahren versiegelt – es sei denn, die Duergar, die die Halle zusammen mit dem Drachen erobert hatten, haben sie geöffnet –, und keiner, der seit unserer Rückkehr dort gewesen ist, hat etwas Brauchbares finden können.«

»Was könnte er suchen? Einen Weg nach draußen – einen Weg, um eine Armee aus Mirabar hierher zu führen?«, fragte Regis. »Einen Weg, um gestohlenes Erz nach Mirabar zu schaffen?«

»In diesen Gängen gibt es nichts – nicht mal gutes Erz«, antwortete Miccarl. »Es gab dort nie was anderes als Schiefer und Kohle für die Schmieden. Wenn der Kleine den langen Weg hierher zurückgelegt hat, um danach zu suchen, ist er dümmer, als ich dachte, denn das Zeug ist nicht viel wert, und Mirabar hat genug Kohle.«

»Gänge nach Mirabar?«

Miccarl schnaubte und sagte: »Wir haben genug Gänge dorthin, die bereits bekannt sind. Wir könnten innerhalb eines Tages nach Westen ziehen, hinter den feindlichen Linien wieder an die Oberfläche steigen und nach Mirabar gelangen. Der Kleine muss das doch wissen!«

»Was also sonst?«, fragte Regis abermals, aber diesmal leiser und mehr an sich selbst als an den Zwerg gewandt.

Was hatte Nanfoodle vor? Während er über die Möglichkeiten nachdachte, hob der Halbling instinktiv die Hand zu der Kette um seinen Hals.

»Suche Nanfoodle und bitte ihn, zu mir zu kommen«, wies er den Zwerg schließlich an.

»In Ordnung«, sagte Miccarl. »Soll ich ihn herzerren oder bewusstlos schlagen und ihn tragen?«

»Ich möchte, dass du ihn überredest«, erwiderte Regis. »Sag ihm, ich habe eine Botschaft für Mirabar und brauche seinen Rat.«

»Das macht viel weniger Spaß«, murrte Miccarl und verließ den Raum.

Nach dem Schmied kamen eine ganze Reihe weiterer Zwerge mit Informationen aus dem Osten und dem Westen, mit Berichten über die Kämpfe draußen und die Fortschritte bei der Absicherung der Gänge. Regis hörte allen aufmerksam zu, wog die Möglichkeiten ab und merkte sich eine Reihe von Fragen, die er seinen Zwergenberatern stellen würde. Ihm war klar, dass er eher ein Sammelpunkt für Informationen war als einer, der Entscheidungen traf, obwohl er in der letzten Zeit festgestellt hatte, dass seine Ratschläge von den Zwergen immer ernster genommen wurden, je mehr sie lernten, sich auf ihn zu verlassen.

Das freute ihn, aber es machte ihm auch Angst.

Man brachte ihm sein Essen ins Audienzzimmer, und dann traf ein weiterer Bote ein, der berichtete, dass sich fünfzig Zwerge zusammen mit Galen Firth nach Süden aufgemacht hatten.

Regis lud den Zwerg ein, mit ihm zu essen, oder setzte zumindest dazu an, aber dann erschien Miccarl Eisenhammer wieder an der Tür.

»Mehr Arbeit«, erklärte Regis dem Boten.

Er zuckte entschuldigend die Achseln und zeigte auf die Teller mit Essen auf dem kleinen Tisch zwischen den Sesseln.

»In Ordnung«, sagte der Bote, ging zum Tisch, lud sich ein paar Pfund Fleisch auf einen Teller und füllte eine bauchige Flasche bis zum Rand mit Met.

Dann nickte er Regis zu, wobei er ein wenig Met vergoss, und ging hinaus.

Miccarl und Nanfoodle kamen herein.

»Ich habe zu tun«, verkündete der rußige Schmied, und nachdem er sich ebenfalls mit Fleisch und Met versorgt hatte, verabschiedete er sich.

»Setz dich, iss und trink«, bat Regis den Gnom.

»Sie haben nicht viel übrig gelassen«, stellte Nanfoodle grinsend fest, aber noch während er das sagte, ging die Tür auf, und zwei Zwerge brachten Nachschub.

Sowohl der Halbling als auch der Gnom wollten sich von keinem Zwerg in Sachen Appetit übertreffen lassen und begannen mit einer langen, herzhaften Mahlzeit.

»Man hat mir gesagt, du hättest eine Botschaft aus Mirabar oder für Mirabar«, sagte Nanfoodle zwischen zwei Schlucken von der goldfarbenen Flüssigkeit. »Meister Eisenhammer war nicht besonders gesprächig.«

»Ich habe eine Bitte an Mirabar«, erklärte Regis zwischen zwei Bissen. »Ich hoffe, du verstehst, in welchem Dilemma wir uns derzeit befinden.«

»Viele Ungeheuer da draußen, ja«, erwiderte Nanfoodle und aß ein Stück Lammbraten, das er mit einem weiteren Schluck Met herunterspülte.

»Mehr als du ahnst«, sagte Regis. »Sie bedrohen die gesamte Region. Dein Markgraf hat sicher schon gehört, dass Nesme belagert und inzwischen wahrscheinlich bereits überrannt wurde. Ich weiß nicht, wie lange wir uns noch an der Oberfläche halten können, also sollte Mirabar seine Streitkräfte mobilisieren.«

»Zum Nutzen von Mithril-Halle?«, fragte der Gnom.

Er war so überrascht, dass ihm ein paar Tropfen Met aus dem Mund flossen. Schnell wischte er sie mit der Serviette ab und trank einen weiteren Schluck.

»Zum Nutzen von Mirabar«, verbesserte Regis. »Oder glaubst du wirklich, dass diese Ungeheuer ihren Feldzug hier beenden werden?«

Es kam ihm vor, als schaute der Gnom nun ein wenig besorgter drein, und die Nervosität veranlasste Nanfoodle, mehr und mehr zu trinken und weniger zu essen. Regis hielt das für vorteilhaft, und so sprach er eine Weile weiter, berichtete in Einzelheiten vom Fall des Osttors und von seinen Befürchtungen, dass sich die Trolle aus dem Süden mit den Orks und Riesen aus dem Norden verbünden würden oder vielleicht schon die ganze Zeit zusammengearbeitet hatten. Er ersparte dem Gnom keine Einzelheit und zog das Gespräch in die Länge, während Nanfoodle mehr und mehr trank.

Als die beiden Zwerge mit mehr Essen und Getränken hereinkamen, rief Regis einen von ihnen zu sich und flüsterte ihm ins Ohr: »Gieß ein bisschen Knochenbrecher in seinen nächsten Becher.« Der Halbling warf einen Blick zu dem Gnom und versuchte abzuschätzen, was der Kleine verkraften konnte. »Aber nicht zu viel«, erklärte er, denn schließlich wollte er nicht, dass der arme Gnom umfiel.

Eine Stunde später sprach Regis immer noch, und Nanfoodle trank.

»Aber du und deine Sceptrana, ihr behauptet, dass ihr hergekommen seid, um nach Torgar zu sehen und die Verbindung zwischen unseren Städten zu stärken«, sagte Regis plötzlich und ein wenig lauter. Er hatte das Gespräch schon seit einer Weile in diese Richtung gelenkt, hatte weniger von den Orks, Riesen und Trollen und mehr von den Beziehungen zwischen Mirabar und Mithril-Halle gesprochen. »Das stimmt doch, oder?«

Nanfoodle riss die Augen weit auf – oder zumindest so weit, wie ein reichlich angesäuselter Gnom es konnte.

»N-nun… ja«, stotterte er. »Deshalb bin ich schließlich hier.«

»In der Tat«, sagte Regis.

Er rutschte auf dem Sessel nach vorn und beugte sich nahe zu Nanfoodle. Er fischte seine Halskette aus dem Hemd, nestelte an dem Rubinanhänger und drehte ihn ein wenig.

»Das wollen wir selbstverständlich alle«, sagte er und bemerkte, dass Nanfoodle den Rubin anstarrte, dann sein Gesicht, dann wieder den Rubin. »Bessere Beziehungen, meine ich.«

»Ja, ja, selbstverständlich«, erwiderte der Gnom und konzentrierte den Blick mehr und mehr auf den verzauberten Rubinanhänger.

Regis hätte so etwas normalerweise nicht getan. Torgar und Shingles McRuff hatten ihm bestätigt, dass Nanfoodle ein brillanter Alchemist war, und es hieß, dass er sich auch mit Illusionszaubern auskannte. Wenn man dann noch bedachte, dass Gnome angeblich solchen Zaubern wie dem des Rubins gegenüber beinahe immun waren, hätte der Anhänger eigentlich nicht funktionieren sollen.

Aber Nanfoodle war betrunken.

Er wandte seinen Blick nun nicht mehr von dem Anhänger ab, vollkommen im Bann des Glitzerns und Drehens.

»Und du suchst die Verbesserung dieser Beziehungen in den westlichsten Gängen von Mithril-Halle?«, fragte Regis lässig.

»Wie?«, fragte Nanfoodle.

»Du bist doch dort gewesen, oder?«, hakte Regis nach, aber ganz ruhig, weil er nicht wollte, dass der Gnom Verdacht schöpfte und der Bann dadurch brach. »In den Gängen im Westen, meine ich. Du hast dich dort recht oft aufgehalten, wie ich höre. Die Zwerge finden das merkwürdig, ja sogar amüsant, denn dort gibt es nichts zu sehen … oder doch?«

»Versiegelte Gänge, mit Pech bestrichen«, antwortete Nanfoodle zerstreut.

»Was haben sie also einem Gnom mit deiner Mission zu bieten, der von so weit her gekommen ist?«, fragte der Halbling. »Immerhin wolltest du nur nach Torgar sehen, oder nicht? Und die Beziehungen zwischen Mirabar und Mithril-Halle fördern.«

Nanfoodle schüttelte den Kopf und schnaubte.

»Ich wünschte, es wäre so«, sagte er.

Regis erstarrte und kämpfte gegen das Bedürfnis an, sich nach hinten sinken zu lassen. Er drehte den Rubin weiter.

»Ja, wenn das nur so wäre!«, stimmte er begeistert zu. »Also sag mir, guter Gnom, wieso bist du wirklich hier?«

Shoudra Sternenglanz verspürte ein unerklärliches Kribbeln im Nacken, als ein Zwerg sie informierte, dass ihr Freund bei Verwalter Regis saß, und das schon seit über zwei Stunden. Die Sceptrana durchquerte die Flure halb im Laufschritt, aber dann wurde sie wieder langsamer, als sie versuchte nachzudenken. Wieso war sie so nervös? Nanfoodle war schließlich ausgesprochen zuverlässig.

Sie kam in ein Vorzimmer, wo drei Zwerge in entspannter Haltung standen, aber unangenehm aussehende Hellebarden bereithielten.

»Seid gegrüßt«, sagte einer von ihnen zu Shoudra, und er deutete auf die Tür zum Audienzzimmer.

Ein zweiter Zwerg, der neben der Tür stand, schob sie auf, und Shoudra hörte von drinnen Lachen und sah ein gemütliches Feuer flackern. Dennoch, all das beruhigte sie nicht; irgendetwas stimmte hier nicht. Sie ging zur Tür und spähte hinein, und sie sah Nanfoodle, der dümmlich lachend auf einem dick gepolsterten Sessel saß, und ihm gegenüber den erheblich nüchterneren Regis, der den verwundeten Arm wieder in die Schlinge gesteckt hatte.

»Wie schön von Euch, zu uns zu stoßen, Sceptrana Shoudra«, sagte der Halbling und zeigte auf den leeren Sessel.

Shoudra machte einen Schritt ins Zimmer, dann zuckte sie zusammen, als die Tür hinter ihr zufiel.

»Nanfoodle und ich haben gerade über den Stand der Beziehungen zwischen Mirabar und Mithril-Halle gesprochen«, erklärte Regis, und wieder bedeutete er der reglosen Sceptrana, sich auf den dritten Sessel zu setzen.

Shoudra hörte ihn kaum, denn sie musterte aufmerksam das Zimmer. An den Wänden hingen Wandbehänge, außer über der Feuerstelle, aber sie lagen nicht flach an der Wand an. Shoudras Blick wanderte weiter nach unten, und sie bemerkte, dass die Zehen von mehreren Stiefelpaaren unter dem Wandschmuck hervorragten.

Langsam wandte sie den Blick wieder Regis zu.

»Es ist eine interessante Beziehung, denkt Ihr nicht auch?«, sagte der Halbling, und die plötzliche Veränderung seines Tonfalls war unmissverständlich.

»Eine, die wir zu stärken hoffen«, erwiderte Shoudra mit einem Blick auf den offensichtlich betrunkenen Nanfoodle.

»Tatsächlich?«, fragte Regis.

Shoudra sah ihn an.

»Ihr wollt unsere Beziehung stärken, indem ihr das Erz von Mithril-Halle schwächt?«, fragte der Halbling, holte einen großen Beutel hinter sich vom Sessel und warf ihn Shoudra vor die Füße.

Shoudra bückte sich langsam und griff nach dem Beutel, aber sie brauchte ihn nicht einmal zu öffnen, um zu wissen, was er enthielt: Nanfoodles Erz schwächende Lösung.

Die Sceptrana wandte ihre verblüffte Miene dem Gnom zu, der so heftig lachen musste, dass er beinahe vom Sessel gefallen wäre.

»Mein neuer Freund Nanfoodle hat mir alles erzählt«, erklärte Regis.

Er schnippte mit den Fingern, und die Wandbehänge wurden zur Seite gezogen. Dahinter standen drei grimmige Zwerge. Die Tür hinter Shoudra ging ebenfalls auf, und die Sceptrana wusste, dass die Zwerge mit den Hellebarden hereingekommen waren.

»Er hat mir gesagt«, fuhr Regis fort, »dass Ihr auf Befehl des Markgrafen hergekommen seid, um unser Erz zu sabotieren. Dass Mirabar vorhatte, auf solche Weise einen Handelskrieg gegen Mithril-Halle zu führen. Ihr wolltet unseren Ruf ruinieren und unsere Kunden stehlen.«

Shoudra begann den Kopf zu schütteln.

»Ihr müsst verstehen …«, begann sie.

»Verstehen?«, unterbrach Regis sie. »Geschwächtes Metall in unseren Händen, wenn wir gegen Ork-Horden kämpfen? Geschwächtes Metall auf den Barrikaden, die wir errichten, um die Ungeheuer aus unseren Hallen fern zu halten? Was gibt es da zu verstehen, Sceptrana?«

»Wir wussten doch nicht, dass ihr im Krieg steht!«, rief Shoudra.

»Oh, dann ist eure Spionage selbstverständlich nicht so wichtig!«, erwiderte der Halbling sarkastisch.

»Nein, ihr müsst den Charakter des Markgrafen verstehen«, versuchte Shoudra zu erklären. Sie trat dabei neben Nanfoodle und legte lässig einen Arm um seine Schultern. »Das ist einfach … seine Art. Markgraf Elastul fürchtet Mithril-Halle, und daher hat er Nanfoodle und mich angewiesen, hierher zu kommen und herauszufinden, ob Torgar irgendwelche Geheimnisse von Mirabar verraten hat. Ihr müsst zugeben, dass Mithril-Halle in diesem Handelskrieg nun einen großen Vorteil hat, da vierhundert von Mirabars Zwergen unsere Stadt verlassen haben, um zu euch zu kommen.«

»Ja, es ist wirklich ausgesprochen vorteilhaft, dass die Ork-Horden an unsere Türen klopfen.«

»Das wussten wir doch nicht!« Shoudra holte tief Luft und fuhr fort. »Und ich bezweifle, dass Nanfoodle oder ich das Herz gehabt hätte, irgendwelchen Ärger zu machen, selbst wenn ihr nicht im Krieg stehen würdet. Wir sind beide nicht mit der Taktik des Markgrafen einverstanden, und auch nicht damit, wie er über König Bruenor und Mithril-Halle denkt. Wir beide suchen einen besseren Weg.«

»Das behauptet Ihr jetzt, da man Euch entlarvt hat«, unterbrach Regis sie.

Shoudra schloss die Augen und seufzte tief, dann begann sie leise vor sich hin zu murmeln.

»Bringt sie weg und schließt sie ein – getrennt voneinander«, befahl Regis.

Die sechs Zwerge kamen auf die beiden zu, aber dann waren der Gnom und die Sceptrana plötzlich nicht mehr zu sehen.

»Die Tür!«, rief Regis, und der Zwerg, der am nächsten am Ausgang stand, warf schnell die Tür zu.

Shoudra und ein sehr überrascht aussehender Nanfoodle erschienen plötzlich auf der anderen Seite des Zimmers, und die Zwerge johlten und griffen an.

Wieder verschwanden die beiden und erschienen einen Augenblick später vor der Feuerstelle.

»Sie wirkt einen neuen Zauber! Haltet sie auf!«, rief Regis, der bemerkt hatte, dass Shoudra erneut begonnen hatte zu rezitieren.

»Achtung, sie wirft vielleicht Feuerkugeln!«, rief der Zwerg an der Tür.

Er riss sie auf, und Shoudra und Nanfoodle erschienen sofort vor ihm. Der Zwerg wich mit einem Schrei zurück.

Nanfoodle kicherte dümmlich, und Shoudra zerrte ihn aus dem Zimmer, durch den Vorraum und in den Flur, auf jedem Schritt verfolgt von den brüllenden Zwergen.

»Du dummer Gnom!«, schimpfte die Sceptrana, und Nanfoodle kicherte noch mehr.

Da die Zwerge sie schnell einholten und Nanfoodle hinterherhinkte, knurrte Shoudra gereizt und hob Nanfoodle hoch.

Sie eilten durch eine Tür, die Shoudra hinter ihnen verschloss und verriegelte, und auf der anderen Seite des Zimmers in den nächsten Flur. Dann rannten sie weiter auf das Westtor zu, während überall um sie herum Alarm geschlagen wurde.

Bald schon hatten die Zwerge sie wiedergefunden, und zahlreiche Rufe erklangen in jedem Seitengang, an dem sie vorbeikamen. Schließlich gelangten die beiden in den Hauptflur, der sich zu einer weiten Vorhalle mit den Statuen der Könige von Mithril-Halle öffnete. Eine Treppe hinter dieser Halle führte hinab in einen kleineren Raum, und hier fielen die letzten Strahlen von Tageslicht durch das große offene Westtor.

Ein Tor, das nicht mehr lange offen bleiben würde, erkannte Shoudra nun, denn die Zwerge dort schoben bereits die Türstopper weg, während andere sich direkt in der Tür aufgestellt hatten.

»Sie haben uns erwischt!«, sagte Nanfoodle kichernd. »Zeit für die Folter!«

»Halt den Mund, du Dummkopf!«, schimpfte Shoudra.

Sie sah sich um, dann riss sie Nanfoodle in den Schatten hinter der nächsten Statue. Das geschah keinen Augenblick zu früh, denn Sekunden später rannte eine Gruppe von Zwergen vorbei, und alle schrien »Haltet das Tor!« oder »Verstellt ihnen den Weg!«

Nanfoodle wollte zur Antwort johlen, aber Shoudra drückte ihm die Hand auf den Mund und hielt ihn fest. Sie holte tief Luft, nahm all ihren Mut zusammen und spähte zu dem Tor und dem Bereich dahinter. Nachdem sie den betrunkenen Gnom endlich zum Schweigen gebracht hatte, begann sie mit einem weiteren Zauber.

Sie flüsterte die Formel, und die Spitzen ihrer Zeigefinger begannen blau zu leuchten. Damit zeichnete sie die Umrisse einer Tür in die Luft.

»Dort!«, erklang ein Ruf – Regis' Ruf, und Shoudra warf einen Blick zurück und sah, wie der Halbling und eine Gruppe von Zwergen auf sie zurannten.

Ohne zu zögern hob die Sceptrana Nanfoodle abermals hoch, und als das große Westtor von Mithril-Halle zufiel, trug sie Nanfoodle durch ihr Portal.

Das Dimensionstor schloss sich direkt hinter ihr, und Shoudra seufzte erleichtert, als sie erkannte, dass sie und ihr Begleiter sich auf der anderen Seite der geschlossenen Tore befanden und allein im Tal der Hüter standen.

»Du kennst so viele Tricks!«, quiekte Nanfoodle und lachte abermals.

Aus Shoudras Augen schossen Blitze auf den dummen Alchemisten.

»Mehr, als du ahnst«, versprach sie.

Sie packte ihn fest und trug ihn seitlich vom Tor weg, zu einer Senke, die bereits im Schatten lag.

Dort setzte sie sich hin, aber erst, nachdem sie Nanfoodle gezwungen hatte, sich ebenfalls niederzulassen. Er versuchte wieder aufzustehen, aber Shoudra legte beide Beine über ihn und drückte den unsicheren Gnom auf den Boden.

Der kleine Alchemist wollte protestieren, aber Shoudra schnippte mit den Fingern gegen die Unterseite seiner langen, spitzen Nase.

»Heh!«, rief Nanfoodle empört.

»Still«, befahl Shoudra und legte den Finger auf die Lippen. Leise und drohend fügte sie hinzu: »Wenn du nicht freiwillig still bist, werde ich dich zum Schweigen bringen. Ich habe immer noch ein paar Tricks übrig.«

Diese Worte schienen Nanfoodle ein wenig zu ernüchtern. Er schluckte laut und sagte nichts mehr.

Sie blieben sitzen, während der Nachmittag dem Zwielicht und das Zwielicht der Nacht wich.

Shoudra hatte keine Ahnung, was sie tun sollten.