Abstecken der Grenzen

»Bei den Göttern, alter William, du verschläfst wirklich den ganzen Tag, damit du die richtige Bettschwere für die Nacht hast«, sagte Brusco Starkamboss, ein Vetter jenes Zwergs, der sich derzeit auf der anderen Seite der Berge und vor Mithril-Halle einen Namen als Anführer machte.

»Genau«, sagte der alte William – Bill für seine Freunde – HuskenNugget und lehnte den Kopf wieder an die Steinmauer des kleinen Turms am Osteingang zur Zwergenfestung. Unterhalb von ihnen floss der Surbrin vorbei und glitzerte im Nachmittagslicht.

Kurz nachdem man in Mithril-Halle gehört hatte, dass sich die Orks im Norden regten, war direkt nördlich ihrer derzeitigen Stellung ein größeres Lager errichtet worden, oben auf einem Bergausläufer. Aber nach dem verzweifelten Rückzug aus Senkendorf und dem Beginn der Kämpfe im Westen war dieses Lager nun so gut wie verlassen, und nur ein paar Späher waren zurückgeblieben. Die Zwerge konnten einfach keine Krieger mehr entbehren, denn die Orks bedrängten sie heftig in den Bergen nördlich des Tals der Hüter. Darüber hinaus hatten die Berichte über die Belagerung von Nesme die Heldenhammer-Sippe gezwungen, auch die Verteidigung ihrer unterirdischen Gänge zu verstärken, weil sie befürchteten, dort ebenfalls angegriffen zu werden.

Im Osten gab es nichts als den Tanz des Surbrin und lange, langweilige Stunden auf Wache, was für die Zwerge schwer zu ertragen war, denn sie wussten, dass ihre Verwandten im Westen kämpften und starben.

Während Banak, Pwent und ihre Leute sich zusammen mit den Zwergen aus Mirabar heldenhaft gegen die Ork-Horden verteidigten, schlossen Brusco, Bill und die anderen im Osten einfach nur die Augen, lehnten die Köpfe zurück und hofften, dass die anderen Jungs ihnen noch genug Orks zum Töten übrig ließen.

»Hab Filbedo schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen«, stellte Brusco fest.

Bill öffnete ein schläfriges Auge und sagte: »Er ist nach Westen und zum Tal der Hüter gegangen, nach allem, was ich höre.«

»Ja genau«, erklärte Kingred Zasterbart, der über ihnen im Turm neben der offenen Falltür saß und sich an die taillenhohe Mauer gelehnt hatte, die die Aussichtsplattform oben auf dem Turm umgab. »Wir werden nicht mehr so schnell abgelöst. Es sind auf dieser Seite nur noch fünfundzwanzig von uns übrig, also müssen wir ein paar Doppelschichten schieben.«

»Pah!«, schnaubte Brusco. »Ich wünschte, sie hätten mich gefragt. Ich wäre auch nach Westen gegangen!«

»Wie wir alle«, erwiderte Kingred und schnaubte. »Außer Bill da drüben, der will einfach nur schlafen.«

»Genau«, sagte Bill. »Und ich werde die Doppelwache nehmen. Oder eine Dreifachwache, wenn ihr wollt. Neun Höllen, ich werde Tag und Nacht hier draußen bleiben.«

»Und dabei die ganze Zeit schnarchen«, sagte Kingred.

»Genau«, erwiderte Bill.

»Er hat eine bequeme Stelle gefunden«, stellte Brusco fest, und Kingred lachte.

»Genau«, sagte Bill.

»Also gut, wenn du schlafen willst, dann tausche mit Kingred«, verlangte Brusco. »Dann hab ich wenigstens jemanden zum Würfeln.«

»Genau«, sagte Bill.

Er gähnte, rollte sich zur Seite, kam ächzend auf die Beine und begann dann müde nach oben zu klettern.

Der Lärm, den Kingred, Brusco und ein paar andere, die sie aus den Höhlen gelockt hatten, bei ihrem Würfelspiel verursachten, störte den stets müden Zwerg kein bisschen, und schon bald schnarchte er zufrieden.

Auf halbem Weg die Außenmauer des Turms hinauf, in einer dunklen Nische, wo der Mauerrand auf das Naturgestein des Bergs stieß, hatte Tos'un Armgo das Gespräch der Zwerge belauscht. Der Drow hielt an einer bequemen Stelle inne, wartete und schimpfte – nicht zum ersten Mal! – lautlos vor sich hin, weil Donnia und Ad'non nicht hier waren. Immerhin waren sie die ausgebildeten Heimlichtuer der Gruppe, während Tos'un nur ein schlichter Krieger war. Zumindest behaupteten Donnia und Ad'non das immer.

Kaer'lic hatte Tos'un mit ein paar Zaubern versehen, die ihm dabei helfen sollten, für Obould die Umgebung auszuspähen, aber der Drow war dennoch nicht besonders begeistert davon, hier draußen allein in einem Nest voller Zwerge zu sitzen.

Obould war nicht weit weg, sagte er sich. Wahrscheinlich würden der Ork und seine Leute dieses kleine Lager schon bald überrennen.

Dieser Gedanke bewirkte, dass der Tos'un tief Luft holte und sich wieder ans Klettern machte. Dieser verfluchte glühende Feuerball am Himmel hatte sich inzwischen zum Glück hinter die Berge zurückgezogen und ließ lange Schatten über die östlichen Bergausläufer fallen. Dennoch, für Tos'un war es immer noch unangenehm hell.

Aber wenigstens wurde es langsam dunkler. Die Zeit des Drow war gekommen.

Brusco blies in seine Hände, dann schüttelte er die Knochenwürfel heftig zwischen seinen verkrümmten Fingern und schwieligen Handflächen. Dann blies er abermals darauf und sprach ein Stoßgebet zu Dumathoin, dem Gott der Geheimnisse unter den Bergen.

Er wiederholte diesen Prozess noch zweimal, und schließlich fingen die anderen Zwerge rings um den frei geräumten Würfelbereich an, sich zu beschweren, und einer versetzte ihm sogar eine Kopfnuss.

»Wirf endlich!«

Der Missmut der anderen Zwerge hatte selbstverständlich viel damit zu tun, dass Brusco derzeit derjenige war, vor dem die meisten Silberstücke lagen, denn er hatte seit dem Sonnenuntergang vor ein paar Stunden eine ununterbrochene Glückssträhne gehabt.

»Muss warten, bis der gute alte Dum mir sagt, was ich tun soll«, erwiderte Brusco.

»Wirf endlich!«, schrien mehrere gleichzeitig.

»Pah!«, schnaubte Brusco und setzte zum Werfen an.

Und dann erklang ein Horn, laut und klar und beharrlich, und alle Zwerge erstarrten.

»War das im Süden?«, fragte einer.

Wieder ertönte das Horn. Und tatsächlich, der Klang schien aus dem Süden zu kommen.

»Kannst du irgendwas sehen, Bill?«, rief Kingred nach oben.

Die anderen rannten aus dem Turm und kletterten zu höher gelegenen Stellen, damit sie die Signalfeuer von den Außenposten im Süden sehen konnten.

»Bill?«, rief Kingred abermals. »Wach auf, du Blödmann! Bill!«

Keine Antwort.

Und kein Schnarchen, fiel Kingred jetzt auf. Tatsächlich hatte er schon seit längerer Zeit kein Schnarchen mehr gehört.

»Bill?«, fragte er nun leiser und besorgter.

»Was ist denn?«, wollte Brusco wissen, der zurück in den Turm geeilt kam.

Kingred starrte nach oben, und seine Miene sprach Bände.

»Bill?«, schrie Brusco.

Er eilte zur Leiter und kletterte schnell hinauf.

»Trolle im Süden!«, erklang ein Ruf aus der Ferne. »Trolle im Süden!«

Brusco hielt auf der Leiter inne und dachte: Trolle? Was in Neun Höllen wollen Trolle hier oben?

Wieder erklang ein Horn, diesmal aus dem Norden.

»Rein mit euch!«, schrie Brusco zu Kingred hinunter. »Bring sie alle rein und bereitet euch darauf vor, das Tor zu schließen.«

Kingred rannte los, und Brusco schaute wieder zur Leiter. Er konnte einen von Bills Füßen sehen, der über die offene Falltür hing.

»Bill?«, rief er abermals.

Der Fuß bewegte sich nicht.

Brusco wurde ein wenig übel, doch dann zwang er sich, nach oben zu klettern, langsam, eine Sprosse nach der anderen. Direkt unter dem Rand streckte er die Hand aus, packte Bills Fuß und zog daran.

»Bill?«

Keine Bewegung, keine Reaktion, kein Schnarchen.

Plötzlich war Brusco blind, befand sich in vollkommener Dunkelheit. Instinktiv ließ er Leiter und Fuß los, fiel zurück nach unten und landete geräuschvoll. Als er sich wieder aufrappelte, hatte der erfahrene Krieger das Schwert schon in der Hand, und er war froh festzustellen, dass er dort oben offenbar nur den Kopf in einen Bereich gesteckt hatte, der vollkommen dunkel war, denn seine Sehkraft war jetzt unbeeinträchtigt.

»Kommt her!«, rief er seinen Freunden zu. »Jemand hat uns mit Magie angegriffen! Und sie haben Bill erwischt!«

Mehrere Zwerge kamen, angeführt von Kingred, zurück in den Turm gerannt.

»Haltet eine Decke auf!«, befahl Brusco.

Er eilte wieder zur Leiter und begann erneut hinaufzusteigen, diesmal viel schneller. Die anderen Zwerge fanden zwei Decken und legten sie aufeinander. Dann packte jeder eine Ecke, und sie hielten sie unter der Falltür bereit.

Sie hörten Geräusche von oben, hörten Brusco nach Bill rufen, und dann ein Ächzen.

Ein Zwerg stürzte durch die Falltür, aber er verfehlte die Decke knapp und schlug hart auf dem Boden auf.

»Bill!«, riefen die vier anderen, ließen die Decke los und eilten zu ihrem Kameraden, über dessen Kehle sich eine helle blutige Linie zog.

»Wir bringen ihn zu einem Priester!«, rief einer und fing an, Bill wegzuzerren.

Die Zwerge wollten losrennen, aber dann hörten sie weiteren Lärm von oben, blieben stehen und riefen nach Brusco.

Brusco fiel aus dem Dunkel und landete auf dem Boden. Er kam mühsam auf die Beine, taumelte aber von einer Seite zur anderen und wäre hingefallen, wenn Kingred nicht zu ihm gerannt wäre und ihn festgehalten hätte.

»Das verdammte Ding hat mich erwischt!«, keuchte Brusco.

Er griff nach hinten, zu seinem Rücken, und als er die Hand wieder nach vorn zog, war sie blutig. Dann wich alle Kraft aus ihm, und Kingred musste das Gewicht verlagern, um den schweren Zwerg aufrecht halten zu können.

»Helft mir!«, rief er, und ein anderer Zwerg eilte zur Seite des verwundeten Brusco.

»Zurück in den Berg«, erinnerte Brusco sie und hustete nach jedem Wort Blut.

Als sie den kleinen Turm hinter sich hatten, wobei zwei Zwerge Bill trugen und zwei Brusco stützten, konnten sie ihre Kameraden sehen, die aus dem Süden angerannt kamen, und hörten auch die Rufe derer aus dem Norden.

Die aus dem Süden riefen: »Trolle

Aus dem Norden kam der Schrei: »Orks

Kingred überließ Brusco dem anderen Zwerg und rannte voraus. Er zog einen Hammer aus dem Gürtel, als er sich den riesigen Eisentoren von Mithril-Halle näherte, und schlug damit fest zu, einmal, zweimal… eine kurze Pause, und dann ein drittes Mal. Er wartete einen Augenblick und hämmerte den Code wieder und wieder, bis er endlich hörte, wie der schwere Riegel hinter dem Tor gehoben wurde.

Auf keinen Fall wollte er, dass das undurchdringliche Tor in diesem Augenblick geöffnet wurde.

Aber dann erklang ein Knirschen neben dem Haupttor. Ein kleiner Steinblock glitt zur Seite, und dahinter tat sich ein dunkler Kriechgang auf. Dort krochen die Zwerge hinein, einer nach dem andern, und Kingred stand daneben und feuerte sie an, sich zu beeilen. Immer mehr Zwerge kamen aus dem Norden und dem Süden, und sie hatten kaum noch Vorsprung vor ihren Verfolgern – Trolle im Süden, Orks im Norden. Obwohl noch ein zweiter Kriechgang geöffnet worden war, würden nicht alle die sichere Zuflucht erreichen können, bevor die Monster vor dem Tor standen. Kingred hätte seinen Kameraden beinahe zugerufen, sie sollten das Haupttor öffnen, aber dann hielt er sich zurück und bezwang seine Angst. Er und ein paar andere würden draußen bleiben und die Eindringlinge bis zum bitteren Ende zurückhalten müssen.

Kingred griff nach Schwert und Schild und drängte dabei seine Kameraden weiter in die Löcher.

»Schnell! Schnell, schnell!«, rief er ihnen zu. »Runter mit euch und rein ins Loch!«

Die Trolle trafen als Erste ein, und ein widerlicher Gestank stach Kingred in die Nase, als er ihnen entgegenstürzte. Unermüdlich schlug er zu, um die Ungeheuer zurückzutreiben. Eine Klaue griff nach seiner Schulter und riss eine tiefe Wunde, aber er ignorierte sie, drehte sich um und griff diesen Feind an. Einen nach dem anderen trieb Kingred die Trolle zurück. Er kämpfte wie ein Besessener, wie einer, der wusste, dass er nichts mehr zu verlieren hatte.

Ein großer, zweiköpfiger Troll, hässlicher als alles, was Kingred je gesehen hatte, schob ein paar andere Trolle aus dem Weg und baute sich vor dem Zwerg auf. Kingred schluckte seine Angst herunter und griff das Ungeheuer an, aber eine riesige, stachelbesetzte Keule raste von der Seite heran, und der Zwerg wurde von den Beinen gerissen und durch die Luft geschleudert.

In diesem Augenblick trafen auch die Orks ein und griffen heulend, grölend und Steine werfend an.

»Es ist noch ein Dutzend von uns da draußen!«, rief Bayle Steinjäger, eine der Torwachen. »Öffnet das verdammte Tor!«

Er griff nach einer schweren Spitzhacke und rannte auf das Tor zu, und viele andere folgten ihm.

»Nein, das dürft ihr nicht!«, rief der verwundete Brusco. »Ihr wisst, wie die Befehle lauten!«

Das ließ die anderen langsamer werden – die Tore durften auf keinen Fall geöffnet werden, ohne dass die Anführer der Sippe im westlichen Teil des Höhlenkomplexes die Erlaubnis dazu gegeben hatten. Die Zwerge am Osttor waren alles andere als eine Armee, sie waren nur Späher und Wachen und hatten den Befehl, die Halle um jeden Preis zu halten. Diese Tore zu öffnen würde bedeuten, dass sie sich einer offensichtlich gewaltigen Streitmacht stellen mussten, einer, die dann vielleicht in die Halle eindringen konnte.

Aber sie nicht zu öffnen bedeutete, mit anhören zu müssen, wie ihre Verwandten, die draußen festsaßen, starben.

»Wir können sie nicht im Stich lassen«, rief Bayle zurück.

»Dann nimmst du ihrem Tod jede Bedeutung«, erwiderte Brusco.

Seine Worte ließen alles Feuer in dem zornigen jungen Zwerg erlöschen.

»Haltet die Kriechgänge so lange offen, wie ihr könnt«, sagte ein anderer.

Zwanzig Zwerge konnten sich in die Sicherheit von Mithril-Halle retten, und etwa ein Dutzend blieb mit Kingred vor den Kriechtunneln und den großen, verbarrikadierten Toren zurück. Schließlich bedienten die Zwerge drinnen widerstrebend die Hebel, die die Gegengewichte in Gang setzten, und die Steine rutschten zurück über die Kriechgänge, was das Schicksal der Ausgeschlossenen besiegelte. Es fiel Brusco und den anderen schwer, das zu tun, und sie nahmen sich fest vor, Kingred und die anderen nicht zu vergessen und Lieder über sie zu schreiben, die man in allen Tavernen singen würde.

König Obould, Gerti Orelsdottr und Proffit standen ein Stück von dem Tor entfernt und sahen zu, wie Riesen, Orks und Trolle schwere Steine vor dem Osteingang nach Mithril-Halle aufhäuften. Die Geräusche von drinnen ließen darauf schließen, dass die Zwerge das Gleiche taten, aber Obould wollte kein Risiko eingehen. Sein Ziel hatte darin bestanden, das Osttor zu versiegeln, also tat er genau das.

»Nun gehört uns das Land bis zum Surbrin«, erklärte der Ork den anderen Anführern. Im Schatten lauschten Kaer'lic und Tos'un angestrengt.

Er vergisst, dass sein Sohn die Zwerge noch nicht in den Berg getrieben hat, signalisierte Kaer'lic Tos'un.

Der Drow grinste über den Sarkasmus, aber tatsächlich war er von Oboulds Fortschritten einigermaßen beeindruckt. Sicher, dank des Drucks, den Urlgen im Westen auf die Heldenhammer-Sippe ausübte, war der Sieg hier beinahe zu einfach gewesen. Ein paar tote Orks, ein paar tote Zwerge, und Obould beherrschte das Westufer des Surbrin vom Grat der Welt bis zu den Gebirgsausläufern südlich von Mithril-Halle. Da der Ork-König bereits angeordnet hatte, nördlich ihrer derzeitigen Position am Fluss Verteidigungsstellungen zu errichten, war das keine Kleinigkeit.

»Die Zwerge werden einen anderen Weg nach draußen finden«, prophezeite Gerti, aber Tos'un sah ihr an, dass sie ebenso wie Kaer'lic die Begeisterung des ruhmreichen Orks einfach ein wenig dämpfen wollte.

Obould warf der Riesin einen wütenden Seitenblick zu, dann wandte er sich wieder an Proffit, den doppelköpfigen Troll.

»Du hast gute Arbeit geleistet«, erklärte er. »Euer Marsch war beeindruckend.«

»Trolle werden …«, sagte der linke Kopf.

»… nicht müde«, fügte der rechte hinzu.

»Und daher wirst du gleich nach Süden zurückkehren, wenn wir hier fertig sind«, sagte Obould, und beide Köpfe nickten.

»Wir postieren unsere Truppen am Surbrin«, erklärte Obould Gerti. »Wir werden das eroberte Land gegen alle verteidigen, die es uns wieder abnehmen wollen. Und die Hauptstreitmacht wendet sich erneut nach Nordwesten.«

»Und Proffit kehrt zurück in die Trollmoore?«, fragte Gerti.

Man sah ihr deutlich an, wie widerwärtig sie den übel riechenden Troll fand.

»In die unterirdischen Gänge im Süden«, verbesserte Obould. »Gänge, die nach Mithril-Halle führen. Proffit und seine Leute werden mit dem unterirdischen Kampf um die Zwergenfestung beginnen. Wir bekämpfen die Zwerge weiterhin von draußen und festigen unser neues Königreich.«

Er hat irgendwas vor, signalisierte Kaer'lic.

Tos'un verbarg sein Lächeln, denn er sah der Priesterin an, dass Obould sie mehr und mehr beunruhigte. Die vier schlauen Drow hatten diesen Feldzug in Gang gebracht, aber sie hätten niemals geglaubt, dass Obould einen solchen Sieg erringen könnte. Was würde wohl geschehen, fragte sich Tos'un (und er wusste, dass seine Drow-Freunde sich dieselbe Frage stellten), wenn es dem Ork-König tatsächlich gelang, den gesamten Norden zwischen dem Trollmoor und dem Grat der Welt, vom Surbrin bis zum Gräuelpass zu halten? Was würde geschehen, wenn er mit einer solchen Machtbasis schließlich die Zwerge aus Mithril-Halle vertrieb? Wie würde Silbrigmond darauf reagieren? Oder Mirabar? Oder die Zitadellen Adbar und Felbarr?

Was konnten sie tun? Wenn man den Berichten glauben durfte, verließen immer mehr Orks ihre Höhlen und schlossen sich Obould an. Hatten Tos'un und seine Gefährten Obould aus Versehen in eine Position versetzt, in der sie ihn nicht mehr beherrschen konnten?

Ein Ork-Königreich, das zwischen den anderen Festungen lag – zwischen denen von Menschen, Zwergen und Elfen. Würden noch weitere Stämme zu Obould stoßen? Würde Obould vielleicht versuchen, mit den Städten Verträge abzuschließen?

Das alles kam Tos'un vollkommen absurd und ausgesprochen amüsant vor. Als er jedoch Gerti ansah, bemerkte er ihren grimmigen Blick, so sehr sie äußerlich auch dem Ork-König zustimmen mochte, und der Dunkelelf erinnerte sich daran, dass Obould noch längst nicht alle Gefahren hinter sich hatte.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass Kaer'lic aufgestanden war, um mit den anderen drei Anführern das Zelt zu verlassen, und dass Obould auch nach ihm rief. Er folgte der Priesterin der Lolth.

»Du gehst mit Proffit«, wies Obould den Krieger aus dem Haus Barrison Del'Armgo an.

»Ich?«, fragte Tos'un ungläubig und voller Widerwillen gegen diesen alles andere als appetitanregenden Gedanken.

»Proffit wird sich ins obere Unterreich begeben, um dort gegen die Zwerge zu kämpfen«, erklärte Obould. »Ganz ähnlich, wie es deine Stadt getan hat.«

Tos'un warf Kaer'lic einen überraschten Blick zu und fragte sich, woher der Ork-König das wohl wusste.

Es ist das Beste, bedeutete ihm Kaer'lic insgeheim, und zumindest war ihm nun klar, wer Obould diese Informationen verschafft hatte.

»Du kennst die Gänge, die nach Mithril-Halle führen«, erklärte Obould Tos'un. »Du bist dort gewesen.«

»Ich weiß nur wenig«, widersprach der Drow.

»Das ist mehr, als wir anderen wissen«, sagte Obould. »Wir müssen mit dem unterirdischen Angriff spätestens dann beginnen, wenn die Oberfläche gesichert ist. Du wirst Proffit bei dieser Jagd führen.«

Oboulds Tonfall ließ keinen Raum für Widerspruch, und als Tos'un dennoch zu einem Kopfschütteln ansetzte, signalisierte ihm Kaer'lic nachdrücklich: Es ist besser so!

»Ich werde ihn begleiten«, verkündete die Priesterin dann. »Ich kenne mich in diesen Höhlen ebenfalls ein wenig aus, und es wird besser für Proffit sein, wenn zwei Dunkelelfen ihn und seine Leute führen.«

Obould nickte und wandte sich anderen Angelegenheiten zu, besonders der Versiegelung der großen Tore.

Warum hast du das getan?, fragte Tos'un Kaer'lic in der Zeichensprache, als sie sich ein Stück zurückzogen.

Wir sollten lieber von hier verschwinden, lautete die Antwort.

Was ist mit Ad'non und Donnia?

Kaer'lic zuckte die Achseln und erwiderte: Die werden schon auf sich selbst aufpassen. Tun sie doch immer. Im Augenblick ist es das Beste, wenn wir nach Süden gehen.

Warum?

Weil Drizzt Do'Urden im Norden ist.

Tos'un starrte die Priesterin neugierig an. Kaer'lic hatte sich immer schon Gedanken wegen des Abtrünnigen gemacht, aber so weit wegzugehen, nur weil Drizzt Do'Urden in dieser Region operierte? Das war einfach Unsinn!

Er wusste nicht, was Kaer'lic denn nun eigentlich befürchtete. Seit sich Tos'un der Gruppe angeschlossen und von der Katastrophe bei dem Angriff von Menzoberranzan auf Mithril-Halle berichtet hatte, hatte Kaer'lic Suun Wett den Verdacht gehegt, Drizzt Do'Urden könnte mehr sein, als die Drow von Menzoberranzan je begriffen hatten.

Ja, der Abtrünnige war ein hervorragender Krieger, aber das konnte nicht alles sein. Kaer'lic war immer schon schlau gewesen, und nun hasste sie diese Schlauheit beinahe, denn inzwischen war die Priesterin der Ansicht, dass sie sich damit nur selbst schadete. Konnte der Preis der Erkenntnis in Verdammnis bestehen?

Die Priesterin der Lolth hatte es ihren Freunden nicht verraten, aber sie war zu einem Schluss gekommen, der sie gleichzeitig beunruhigte und faszinierte: Drizzt Do'Urden war das gesegnete Werkzeug der Spinnenkönigin.