Gruumshs Segen

König Obould umgab sich mit einer Mauer hoch gewachsener Wachen, bevor er durch das gewaltige Lager nahe den Ruinen von Senkendorf ging. Der Ork war an diesem Tag zögerlich, denn die Unruhe, die dem Mord an Achtel gefolgt war, hatte noch kaum nachgelassen, und Obould fragte sich, ob dieser Rückschlag einige Stämme gegen ihn und seine Sache aufbringen würde. Die Reaktionen der Orks, die den Rand des Lagers bewachten, waren jedoch viel versprechend gewesen, denn mehrere hatten sich flach vor Obould auf den Boden geworfen und den Blick gesenkt, wann immer sie ehrfürchtig die Fragen des großen Ork-Königs beantworteten. Die Wachen hatten Obould auch gebeten, sich zu Arganth Fauch zu begeben.

Der auffällige Schamane war nicht schwer zu finden. Wegen seiner grellen Kleidung, dem gefiederten Kopfschmuck, dem Umhang, den er der toten Achtel abgenommen hatte, und weil er sich beinahe ständig um die eigene Achse drehte, richtete sich die Aufmerksamkeit der meisten im Lager auf ihn. Jegliche Befürchtungen Oboulds, der charismatische Schamane könnte vielleicht zum Rivalen werden, verschwanden sofort, als er Arganth gegenüberstand, denn sobald der Schamane den Ork-König erspähte, warf er sich so rasch zu Boden, als hätte ihn ein von Riesen geschleuderter Stein niedergestreckt.

»Obould Todespfeil!«, kreischte er, und es sah tatsächlich so aus, als würde der Schamane vor Freude weinen. »Obould! Obould! Obould!«

Die anderen Orks rings um Arganth warfen sich ebenfalls nieder und griffen den ruhmreichen Schrei auf.

Obould sah seine Leibwächter fragend an, dann reagierte er auf ihr Achselzucken mit einem überheblichen Blick. Ja, das gefiel ihm. Vielleicht, dachte er, sollte er von denen in seiner Nähe ein wenig mehr Unterwerfung verlangen …

»Bist du Fauch? Arganth Fauch?«, fragte der König und stellte sich vor den Schamanen, der selbst am Boden noch versuchte, sich um die eigene Achse zu drehen.

»Obould spricht zu mir!«, rief Arganth. »Gruumsh hat mich gesegnet!«

»Steht auf!«, verlangte König Obould.

Als Arganth zögerte, griff der kräftige Ork zu, packte den Schamanen im Nacken und riss ihn auf die Beine.

»Wir haben schon auf deine Ankunft gewartet, Erhabener«, sagte Arganth sofort und senkte ehrfürchtig den Blick.

Das brachte Obould ein wenig aus der Fassung, denn er befürchtete, dass solch übertriebene Unterwerfung nichts anderes sein konnte als ein Vorspiel zu einem Attentat. Er packte den Schamanen am Kinn und zwang ihn, zu ihm aufzublicken.

»Wir werden uns unterhalten«, erklärte er.

Arganth schien sich endlich zu beruhigen. Mit blutunterlaufenen Augen sah er sich nach den anderen, noch am Boden liegenden Orks um, dann begegnete er wieder Oboulds herrischem Blick.

»In meinem Zelt, Erhabener?«, fragte er hoffnungsvoll.

Obould ließ ihn los und bedeutete ihm voranzugehen. Er gab auch seinen Wachen ein Zeichen, aufmerksam und ganz in seiner Nähe zu bleiben.

Arganth schien ein vollkommen anderer Ork zu werden, als er und Obould außer Sichtweite der Versammlung waren.

»Es ist gut, dass du gekommen bist, König Obould Todespfeil«, sagte der Schamane, immer noch mit einem gewissen Maß an Ehrfurcht in der Stimme, aber auch mit offensichtlicher innerer Kraft – etwas, das ihm zuvor scheinbar gefehlt hatte. »Die Stämme sind nun unruhig und bereit zu töten.«

»Ihr hattet ein … Problem«, stellte Obould fest.

»Achtel glaubte nicht, und daher musste sie sterben«, erklärte Arganth.

»Was hat sie nicht geglaubt?«

»Dass Obould Gruumsh und Gruumsh Obould ist«, verkündete Arganth dreist.

Das bewirkte, dass der Ork-König einen Schritt zurücktrat. Er kniff die dunklen Augen zusammen und runzelte die wulstige Stirn.

»Ich habe es gesehen. Es ist wahr«, erklärte Arganth. »König Obould ist groß. König Obould war immer schon groß. König Obould ist jetzt größer, weil Einauge eins mit ihm sein wird.«

Oboulds Miene war immer noch ausgesprochen skeptisch.

»Was für ein Sakrileg diese Zwerge hier begangen haben!«, rief Arganth. »Das Götterbild zu benutzen!«

Obould nickte und begann zu begreifen.

»Sie haben Gruumsh verunglimpft und gelästert, und Einauge ist erzürnt!«, verkündete Arganth mit lauter werdender Stimme. »Einauge wird sich an ihnen rächen! Er wird sie unter seinen Stiefeln zermalmen! Er wird sie mit seinem Großschwert zerstückeln! Er wird ihnen die Kehlen herausreißen und sie in den Dreck schleudern!«

Obould starrte Arganth weiterhin an und hob sogar die Hand, um den aufgeregten Schamanen zu beruhigen.

»Seine Stiefel!«, rief Arganth und zeigte auf Oboulds Füße. »Sein Großschwert«, fuhr der Schamane fort und zeigte auf die massive Waffe, die quer über Oboulds muskulösen Rücken geschnallt war. »Obould ist das Werkzeug von Gruumsh. Obould ist Gruumsh. Gruumsh ist Obould! Ich habe es gesehen!«

Obould neigte den großen, hässlichen Kopf leicht zur Seite, betrachtete den Schamanen forschend und suchte nach einem Hinweis darauf, dass Arganth ihn auf den Arm nehmen wollte.

»Achtel hat diese Wahrheit nicht akzeptiert«, fuhr Arganth fort. »Gruumsh hat sie nicht beschützt, als der zornige Drow kam. Die anderen akzeptieren es alle und wissen, dass Obould Gruumsh ist. Ich habe es für dich getan, mein König … mein Gott.«

Das Misstrauen des Ork-Königs schmolz zu einem breiten, boshaften Grinsen.

»Und was wünscht Arganth im Austausch für das, was er für Obould getan hat?«

»Zwergenköpfe!«, schrie der Schamane ohne das geringste Zögern. »Sie müssen sterben. Alle! König Obould wird sie töten.«

»Ja«, sagte Obould nachdenklich. »Ja.«

»Wirst du den Segen akzeptieren, den Gruumsh dir durch die Hand von Arganth und den anderen versammelten Schamanen gewährt?«, fragte der Ork-Priester, und er schien ein wenig zu schrumpfen, weil er es nun wagte, etwas von Obould zu erbitten. Wieder hatte er den Blick gesenkt.

»Welchen Segen?«

»Du bist groß, Obould!«, kreischte Arganth voller Entsetzen, obwohl in Oboulds fragendem Tonfall keine Anklage gelegen hatte.

»Ja, Obould ist groß«, erwiderte Obould. »Welchen Segen?«

Arganths blutunterlaufene Augen blitzten, als er antwortete: »Wir geben Obould die Kraft des Stiers und die Schnelligkeit der Katze. Wir geben Obould große Macht. Gruumsh will ihm all das gewähren. Ich habe es gesehen.«

»Solche Zauber sind nichts Ungewöhnliches«, antwortete Obould scharf. »Ich erwarte das ohnehin von –«

»Kein Zauber!«, unterbrach Arganth, und er wäre beinahe ohnmächtig geworden, als er erkannte, was er getan hatte. Er hielt einen Augenblick inne und schien tatsächlich zu befürchten, dass der große Ork ihn auf der Stelle zerquetschen würde. »Ja, es ist ein Zauber, aber ein ewiger. Obould ist Gruumsh. Obould wird stark sein – stärker!«, verbesserte er sich schnell und begeistert, als Obould ihn missbilligend ansah. »Der Göttersegen von Gruumsh ist ein seltenes und wunderschönes Geschenk. Seit Jahrhunderten ist so etwas nicht mehr geschehen, aber dir, erhabener Obould, wird der Segen gewährt. Ich habe es gesehen. Wirst du bei der Zeremonie anwesend sein und ihn annehmen?«

Obould starrte den Schamanen forschend an, denn er hatte immer noch keine Ahnung, wovon Arganth redete. Er hatte nie zuvor von einem »Göttersegen von Gruumsh« gehört. Aber er sah, dass Arganth tatsächlich Angst und gewaltigen Respekt vor ihm hatte. Er hatte schon immer in der Gunst der Priester gestanden, und warum auch nicht – schließlich hatte er pflichtgetreu jede neue Eroberung Einauge geweiht.

»Obould wird den Segen annehmen«, sagte er, und der Schamane schlug in seiner Begeisterung beinahe einen Rückwärtssalto.

Obould ernüchterte ihn schnell wieder, indem er ihn am Kragen packte, ihn vom Boden hob und so nahe an sich zog, dass Arganth den heißen Atem des Königs riechen konnte.

»Wenn ich enttäuscht werde, Arganth, werde ich dich an eine Wand nageln und auffressen, beginnend bei den Fingern.«

Arganth hätte beinahe das Bewusstsein verloren, denn es gab tatsächlich Gerüchte, dass Obould schon mit mehreren anderen Orks so verfahren war.

»Enttäusche mich nicht.«

Die Antwort des Schamanen hätte ein »Ja« oder ein »Nein« sein können. Das zählte für Obould nicht, denn schon Arganths Tonfall, dieses jämmerliche Quieken, bestätigte alles, was der König wissen musste.

»Mache ich ihnen Ehre?«, fragte Drizzt Guenhwyvar.

Er saß auf dem Felsen, der eine Hälfte seines neuen Heims bildete, und drehte Bruenors Helm in den schlanken Fingern. Guenhwyvar lag neben ihm, hatte sich an ihn geschmiegt und schaute auf das Bergland hinaus. In dem Wind, der ihnen an diesem Abend heftig ins Gesicht wehte, lag eine Spur von Kälte.

»Ich weiß, dass ich meinem Schmerz für einige Zeit entkommen kann, wenn wir im Kampf stehen«, fuhr der Drow fort.

Er ließ den Blick am Helm vorbei zu den entfernten Bergen schweifen. Er sprach mehr mit sich selbst als mit der Katze, so als wäre Guenhwyvar eine Verbindung zu seinem eigenen Gewissen.

Was sie selbstverständlich auch immer gewesen war.

»Wenn ich mich auf die nächstliegende Aufgabe konzentriere, vergesse ich für kurze Zeit, was ich verloren habe – es ist ein Augenblick der Freiheit. Und ich weiß, dass unsere Arbeit hier für die Zwerge in Mithril-Halle wichtig ist. Wenn wir die Orks immer wieder durcheinander bringen, wenn sie Angst davor bekommen, aus ihren Berghöhlen zu kriechen, sollte der Druck auf unsere Freunde nachlassen.«

Das alles hörte sich vollkommen vernünftig an, aber für Drizzt klangen die Worte immer noch irgendwie hohl, irgendwie nach einer nachträglichen Rechtfertigung. Denn er wusste tief in seinem Innern, er hätte nicht bleiben sollen, er hätte nach dem Fall von Senkendorf trotz der offensichtlichen Anzeichen, dass niemand entkommen war, nach Mithril-Halle gehen sollen. Um seiner eigenen Gefühle willen, um festzustellen, ob einer seiner lieben Freunde den Angriff überlebt hatte, und im Interesse der überlebenden Zwerge der Heldenhammer-Sippe, um ihnen vom Tod ihres Königs zu berichten und seine weiteren Aktionen mit ihren eigenen Verteidigungsbemühungen zu koordinieren.

Schließlich tat der Drow diese Schuldgefühle mit einem langen Seufzer ab. Wahrscheinlich hatten sich die Zwerge bereits hinter ihren großen Toren aus Eisen und Stein verschanzt. Die Orks würden gewaltigen Aufruhr in den Norden bringen, besonders zu den unzähligen kleinen Siedlungen, aber Drizzt bezweifelte, dass sie Mithril-Halle wirklichen Schaden zufügen konnten. Die Dunkelelfen von Menzoberranzan hatten versucht, einen solchen Krieg zu führen, und das mit erheblich besseren Mitteln und besserem Zugang durch die vielen Gänge des Unterreichs, und sie hatten jämmerlich versagt. Bruenors Leute waren eine zähe und gut organisierte Streitmacht.

»Sie fehlen mir so, Guenhwyvar«, flüsterte der Drow, und der Panther spitzte die Ohren und wandte seinem Freund das breite Gesicht mit den großen Augen zu. »Selbstverständlich wusste ich, dass so etwas passieren könnte – wir wussten es alle. Tatsächlich habe ich es erwartet. Wir sind ihnen zu oft zu knapp entkommen. Es musste ein Ende haben, und genau in einem solchen Tod. Aber ich hatte immer angenommen, dass ich der Erste sein würde, nicht der Letzte, dass die anderen Zeugen meines Hinscheidens sein würden und nicht umgekehrt ich des ihren.«

Er schloss die Augen und sah abermals vor sich, wie Bruenor von diesem einstürzenden Turm fiel; dieses schreckliche Bild, das in seinem Kopf so fest eingebrannt war. Und wieder sah er Ellifain sterben, und in vielerlei Hinsicht quälte ihn dieser längst vergangene Kampf noch mehr. Denn so weh ihm Bruenors Tod tat, sein Freund war immerhin in Übereinstimmung mit den Prinzipien gestorben, denen Drizzt sein Leben lang gefolgt war. Zu sterben, wenn man seine Freunde und die Gemeinschaft verteidigte, war keine so schlimme Sache, glaubte er, und so sehr die Katastrophe von Senkendorf ihn auch schmerzte, die Katastrophe, die sich an der Schwertküste im Versteck von Sheila Kree ereignet hatte, quälte ihn mehr; sie stellte die Grundlagen seines Glaubens in Frage. Und jedes Mal, wenn er sich an Ellifains Tod erinnerte, wurde er wieder zu diesem schrecklichen Tag in seiner Jugend zurückgeführt, als er zum ersten Mal zusammen mit einer Truppe anderer Drow an die Oberfläche gekommen war, um unschuldige Oberflächenelfen zu töten. Dies war seine erste Prüfung gewesen, die erste wirkliche Prüfung für seine Prinzipien, der Drizzt Do'Urden je gegenübergestanden hatte. Diese schicksalhafte Nacht vor langer Zeit, seine erste Nacht unter den Sternen, hatte Drizzts Wahrnehmung vollkommen verändert. Sie stellte tatsächlich den Anfang vom Ende seines Lebens in Menzoberranzan dar, den Augenblick, in dem Drizzt Do'Urden wirklich gesehen hatte, wie böse sein Volk war, wie unrettbar diesem Bösen verfallen, ganz gleich, was er dagegen tun würde.

Zaknafein hätte ihn für diesen Überfall beinahe umgebracht, bis er erfahren hatte, dass Drizzt nicht am Töten beteiligt gewesen war und sogar seine Gefährten und die Spinnenkönigin selbst getäuscht hatte, damit das Elfenkind weiterleben konnte.

Wie sehr es Drizzt vor ein paar Jahren gequält hatte, im Mondwald Ellifain und ihren Verwandten zu begegnen und feststellen zu müssen, dass dieses nun erwachsene Elfenkind vor Zorn vollkommen den Verstand verloren hatte.

Und dann hatte er sie an der Schwertküste versehentlich getötet!

Für Drizzt stellte Ellifains Tod in vielerlei Hinsicht eine Verhöhnung seiner Prinzipien dar; er machte aus einem großen Teil seines Lebens nicht unbedingt eine Lüge, aber reine Dummheit.

Der Drow rieb sich das Gesicht, dann begann er wieder Guenhwyvar zu kraulen, die inzwischen den Kopf auf sein Bein gelegt hatte und langsam und gleichmäßig atmete. Drizzt genoss diese Augenblicke mit dem Panther, in denen sie nicht im Kampf standen und sich einfach ausruhen und den vorübergehenden Frieden und den Bergwind genießen konnten. Der Instinkt des Jägers sagte ihm, er sollte die Katze wegschicken, damit sie sich in ihrem astralen Zuhause ausruhen konnte, denn er würde sie dringender brauchen, wenn er das nächste Mal Orks und Riesen gegenüberstand.

Aber Drizzt, so zerrissen und in innere Kämpfe verstrickt, konnte diesem pragmatischen Alter Ego nicht gehorchen und behielt die Katze bei sich.

Er schloss die Augen und dachte an seine Freunde – und nicht an ihren Tod. Er sah Regis am Ufer des Maer Dualdon vor sich, die Angelschnur weit ins dunkle Wasser vor ihm ausgeworfen. Er wusste, dass am Haken kein Köder hing und dass die Angel nichts weiter als eine Ausrede dafür war, einfach entspannt dazusitzen.

Er sah Bruenor, wie er seine Leute anknurrte und brummte, Befehle schrie und die Fäuste ballte – und dabei Drizzt hin und wieder zublinzelte, um ihm klar zu machen, dass das alles nur Fassade war.

Er sah Wulfgar als Jungen, der unter Anleitung von Drizzt und Bruenor heranwuchs. Er erinnerte sich an den Kampf in der Verbeeg-Höhle, bei dem er und Wulfgar sich Hals über Kopf auf diese mächtigen Feinde gestürzt hatten. Er erinnerte sich an den Kampf mit dem Drachen in der Eishöhle, wo der schlaue und vom Glück begünstigte junge Barbar die Decke mit den Eiszapfen zum Einsturz gebracht hatte, um das Ungeheuer zu besiegen.

Und er sah Catti-brie, das junge Mädchen, das ihn zum ersten Mal an den Hängen von Kelvins Steinhaufen begrüßt hatte, die junge Frau, die ihm in einer Wüste weit im Süden die Wahrheit über sein Leben an der Oberfläche gezeigt hatte. Er sah die Frau, die an seiner Seite geblieben war, bei all seinen Zweifeln und Ängsten, bei all seinen Fehlern und Triumphen. Als er so dumm gewesen war, nach Menzoberranzan zurückzukehren, weil er seinen Freunden die ständige Gefahr durch seine Herkunft ersparen wollte, hatte sich Catti-brie ins Unterreich gewagt, um ihn vor den Drow und vor sich selbst zu retten. Sie war sein Gewissen, und sie teilte es ihm deutlich mit, wenn er sich irrte, aber noch mehr war sie seine Freundin, die nie wirklich ein Urteil über ihn fällte. Mit einer einzigen sanften Berührung konnte sie Zweifel und Angst von ihm nehmen. Mit diesen bezaubernden blauen Augen konnte sie in seine Seele schauen, die Wahrheit über seine Gefühle erkennen und jede Fassade einreißen, die er errichtet hatte. Mit einem Kuss auf die Wange konnte sie ihn daran erinnern, dass er von Freunden umgeben war, für immer und ewig, und dass ihn im Kreis solcher Freunde nichts wirklich verletzen konnte.

Im Kreis solcher Freunde …

Dieser letzte Gedanke bewirkte, dass Drizzt die Hände vors Gesicht schlug und seine Schultern bebten. Er spürte, wie er in einer Trauer versank, die tiefer war als alles, was er je gekannt hatte, fühlte sich in eine dunkle und leere Grube fallen, wo er vollkommen hilflos war.

Für immer und ewig? Und Ellifain? Waren dies die Lebenslügen des Drizzt Do'Urden?

Er sah, wie Zaknafein in die Säure fiel. Er sah Withegroos Turm, diesen schrecklichen Turm, zu Staub und Flammen werden.

Er fiel tiefer, und er kannte nur einen Weg, um aus dieser Grube herauszukommen.

»Komm, Guenhwyvar«, sagte der Jäger zu dem Panther.

Er erhob sich geschmeidig, und mit ruhiger Hand zog er die Waffen. Mit dem Auge des Jägers spähte er in die Ferne, wandte sich ab von den funkelnden Sternen und stattdessen dem Flackern der Lagerfeuer und dem Versprechen von Rache zu.

Dem Versprechen von Kampf.

Gegen die Orks.

Gegen die Lügen.

Gegen den Schmerz.

Tausende von Orks versammelten sich an diesem Abend um die zerbrochene Statue von Gruumsh Einauge, hielten aber respektvollen Abstand, wie ihre Priester es ihnen befohlen hatten. Sie flüsterten miteinander und rangelten um die besten Plätze, um dieses wunderbare Ereignis verfolgen zu können. Dabei verhielten sie sich jedoch einigermaßen friedlich, denn die Schamanen hatten gedroht, dass alle, die den Ablauf der Zeremonie störten, Gruumsh geopfert würden. Um dieser Drohung Glaubwürdigkeit zu verleihen, hatten sie schon ein Dutzend unglücklicher Orks in Gewahrsam genommen, vor allem für Verbrechen, die sie angeblich auf dem Schlachtfeld begangen hatten.

Auch Gerti Orelsdottr war an diesem Abend anwesend, zusammen mit beinahe hundert ihrer Eisriesen. Sie hielt sich allerdings in einiger Entfernung von der Statue auf, denn sie wollte zwar dieses angebliche Wunder sehen, dessen Ankündigung die Orks so sehr erregte, ihm aber nicht durch ihre unmittelbare Anwesenheit weitere Glaubwürdigkeit verleihen.

»Gebt euch amüsiert und distanziert«, wies sie ihre Leute an. »Beobachtet alles, lasst euch aber nicht anmerken, ob es euch beunruhigt.«

Zwei weitere Nicht-Orks wurden ebenfalls Zeugen der Ereignisse. Kaer'lic Suun Wett und Tos'un Armgo hielten sich zunächst in der Nähe von Gertis Gruppe, aber schon bald gingen sie näher zur Statue, denn besonders die Drow-Priesterin wollte alles ganz genau sehen.

Die Schamanen rings um die Statue forderten Stille, und jene Orks, die nicht sofort gehorchten, wurden schnell gewarnt, für gewöhnlich mit dem spitzen Ende eines Speers. Obould hatte speziell zu diesem Zweck seine Männer überall in der Menge verteilt.

Eine Menge Schamanen, teilte Tos'un Kaer'lic mit Hilfe der lautlosen Fingersprache mit.

Ein großer Gemeinschaftszauber, erklärte Kaer'lic. Das ist bei den Drow nicht ungewöhnlich, aber man hört nur selten, dass auch die geringeren Völker solche Techniken anwenden. Vielleicht ist diese Zeremonie ja tatsächlich so wichtig, wie die Orks behauptet haben.

Ihre Macht ist nicht besonders groß!, stellte Tos'un fest und packte, um seine Aussage zu betonen, seinen Daumen mit den Fingern der anderen Hand.

Nicht als Einzelne, nein, stimmte Kaer'lic ihm zu. Aber du solltest die Macht vereinter Schamanen nicht unterschätzen. Und auch nicht die Macht des Ork-Gotts. Gruumsh hat ihren Ruf vielleicht gehört.

Kaer'lic lächelte, als sie bemerkte, wie Tos'un unbehaglich schauderte und seine Hände näher zu den Zwillingswaffen bewegte, die er an den Hüften trug.

Kaer'lic selbst war nicht annähernd so beunruhigt. Sie wusste, was Obould vorhatte, und sie verstand, dass sich die Ziele des Ork-Königs nicht so sehr von ihren eigenen, von denen ihrer Freunde oder von Gertis Zielen unterschieden. Sie war sicher, dass diese Zeremonie die Orks nicht gegen ihre Verbündeten wenden würde.

Die Priesterin wurde abrupt aus ihren Überlegungen gerissen, als eine dramatische Gestalt oben auf dem zerstörten Abbild des Ork-Gotts erschien. In dem roten Gewand der toten Achtel und seinem typischen Kopfschmuck sprang Arganth Fauch zur höchsten Stelle der zerbrochenen Statue und riss die Arme hoch, in jeder Hand eine brennende Fackel, deren Flammen im Nachtwind tanzten. Er hatte sich das Gesicht rot und weiß angemalt, und an jedem Arm hingen ein Dutzend Armbänder aus Zähnen.

Plötzlich stieß er einen schrillen Schrei aus und riss die Arme noch höher, und zwei Dutzend weitere Fackeln flackerten rings um die Statue auf.

Kaer'lic beobachtete jene, die diese Fackeln hielten – allesamt Schamanen und allesamt bemalt und auf grausige Weise geschmückt. Sie hatte noch nie so viele Ork-Schamanen auf einem Haufen gesehen, und bei der typischen Dummheit dieses Volkes war sie überrascht, dass überhaupt so viele von ihnen intelligent genug waren, um Priester zu werden.

Arganth begann sich langsam auf der Statue zu drehen. Zur Antwort bewegten sich auch die Schamanen am Boden um die Statue herum, und bei diesem Marsch drehte sich auch noch jeder langsam um sich selbst. Nach und nach beschleunigte Arganth das Tempo seiner Drehungen, und die unter ihm bewegten sich ebenfalls schneller, sowohl in ihren eigenen Kreisen als auch in dem großen. Dieser Marsch wurde mit jedem Schritt lebhafter und mehr zu einem Tanz. Fackeln wackelten und schwangen wild.

Das ging längere Zeit so weiter, und die Schamanen wurden anscheinend kein bisschen müde – schon das sagte Kaer'lic, dass hier Magie im Spiel war. Die Drow-Priesterin kniff die Augen zusammen und sah genauer hin.

Schließlich blieb Arganth abrupt stehen, und die Schamanen unten erstarrten im gleichen Augenblick an Ort und Stelle.

Kaer'lic schnappte erstaunt nach Luft – eine derart koordinierte Bewegung ließ sich nur mit einem sehr hohen Maß an geistiger Verbundenheit erreichen. Mit der Geschicklichkeit einer geübten Tanztruppe – was sie selbstverständlich nicht waren, denn die Schamanen gehörten überwiegend nicht einmal den gleichen Stämmen an und kannten einander höchstens seit ein paar Tagen – schwankte und rotierte die Gruppe, richtete sich nach und nach gerade auf und hob die Fackeln.

Und dann erschien Obould. Wie mit einer einzigen Stimme stießen die Anwesenden ein erstaunt-erschrockenes »Ah!« aus, auch Kaer'lic und ihr Begleiter, auch Gerti und ihre hundert Riesen.

Der Ork-König war nackt, sein muskulöser Körper mit grellen Farben bemalt, rot und weiß und gelb. Seine Augen waren weiß umrandet, was sie so stark betonte, dass jeder Zuschauer glaubte, Obould sähe genau ihn an, und in Reaktion darauf wich die Menge zurück.

Als Kaer'lic sich wieder gefasst hatte, wurde ihr klar, dass es sich wirklich um eine außergewöhnliche Zeremonie handeln musste, wenn Obould nicht einmal sein Meisterwerk von einer Rüstung trug. Der Ork-König gestattete sich, verwundbar zu sein, obwohl er alles andere als hilflos wirkte. Die Muskeln seines Oberkörpers bewegten sich bei jedem Schritt, und die an Armen und Beinen wirkten, als wären sie beinahe zu fest angespannt; die Sehnen zeichneten sich deutlich ab. In vielerlei Hinsicht sah der machtvolle Ork nackt ebenso beeindruckend aus wie in seiner Rüstung und vollständig bewaffnet. Er verzog das Gesicht und stieß ein lautes, drohendes Knurren aus, und seine Anspannung schien so gewaltig zu sein, dass der sterbliche Körper sie kaum ertragen konnte.

Oben auf der Statue senkte Arganth eine Fackel in die Waagrechte und schwenkte sie dann vor sich. Der erste Ork-Gefangene wurde vor Obould gezerrt und von den Wachen auf die Knie gezwungen.

Das Geschöpf jammerte kläglich, aber das wurde schnell von den Schamanen übertönt, die begannen, den Namen ihres Gottes zu rezitieren. Die Rezitation breitete sich rasch in der Menge aus, bis sich schließlich die Stimmen von Tausenden von Orks dem Ruf nach Gruumsh anschlossen. Es war so hypnotisch, dass Kaer'lic sich dabei ertappte, wie sie ebenfalls leise den Namen des Ork-Gottes flüsterte. Die Drow blickte sich nervös um und hoffte, dass Tos'un es nicht bemerkt hatte, und dann lächelte sie, weil sie sah, dass er ebenfalls die Lippen bewegte. Sie versetzte ihm einen Ellbogenstoß, um ihn daran zu erinnern, wer er war.

Dann konzentrierte sie sich wieder auf das Spektakel, denn Arganth kreischte, kreuzte rasch die Fackeln, und die Menge wurde still. Als Kaer'lic wieder zu Obould hinschaute, bemerkte sie, dass ihm jemand eine große Klinge gereicht hatte. Er hob sie langsam hoch über den Kopf, dann riss er sie mit einem Schrei nach unten und schlug dem knienden Ork den Kopf ab.

Die Menge brüllte.

Der zweite Gefangene wurde herangezerrt und neben der kopflosen Leiche des ersten in die Knie gezwungen.

Und so ging es weiter, Rezitieren und Köpfen, bis zehn Gefangene tot waren, und jede Hinrichtung rief einen noch lauteren Schrei zum Ruhm von Gruumsh hervor als die vorherige.

Und jede ließ Obould noch ein wenig größer und breiter wirken, und seine mächtige Brust schwoll stärker unter der angespannten Haut.

Als die Hinrichtungen vorüber waren, begannen die Schamanen abermals mit ihrem Kreistanz, und die Menge nahm die Rezitation wieder auf.

Dann wurde ein großer Stier nach vorn gebracht, dessen Beine mit festen Seilen gebunden waren. Die Ork-Soldaten rings um das Tier stießen es mit ihren Speeren und ließen ihm keine Wahl, als vor ihren großartigen König zu hinken.

Obould starrte den Stier so lange an, dass es beinahe schien, als hypnotisierten die beiden sich gegenseitig. Dann packte der Ork-König den Stier bei den Hörnern, und wieder standen beide reglos da und fixierten einander.

Arganth kam von der Statue herunter, und alle Schamanen bewegten sich nun im Kreis um ihn, den König und den Stier. Sämtliche Priester begannen gleichzeitig mit dem Bannspruch, bei dem in jedem Satz der Name von Gruumsh fiel: Sie flehten um den Segen ihres Gottes.

Kaer'lic verstand genug von den Worten, um zu wissen, dass es sich im Prinzip um einen Zauber handelte, der die Kraft des Empfängers kurzfristig gewaltig vergrößerte. Diese Rezitation jedoch ging darüber hinaus, was die Drow-Priesterin sofort begriff, denn die Intensität war erheblich höher, und sie konnte das magische Kribbeln selbst dort spüren, wo sie stand.

Eine Reihe von seltsamen bunten Lichtern, gelb, grün und rosa, begann um den Stier und um Obould herumzuschweben. Mehr und mehr Lichter gingen von dem Stier aus, bewegten sich auf den Ork-König zu und verschmolzen mit ihm. Jedes einzelne Licht schien dem Tier ein wenig an Kraft zu nehmen, und bald schon stand es auf zitternden Beinen, während Obould immer furchterregender aussah.

Dann beendeten die Priester ihre Rezitation, und erst jetzt bemerkte Kaer'lic, dass man inzwischen die Seile, die den Stier gefesselt hatten, durchtrennt hatte, so dass ihn nur noch Oboulds Hände an beiden Hörnern hielten.

Die Menge erstarrte in erwartungsvollem Schweigen.

Obould und das Geschöpf starrten einander an, und die Zeit verging. Dann bewegte der Ork-König plötzlich die Arme und drehte den Hals des Stiers um. Er wechselte den Griff, und drehte den Kopf des armen Geschöpfs schließlich um dreihundertsechzig Grad.

Obould verharrte einen Moment lang in dieser Pose und starrte den Stier an. Dann ließ er los, und der Stier fiel um.

Der Ork-König riss die Arme hoch und schrie: »Gruumsh!«

Eine Welle von Energie ging von ihm aus und erfasste die verblüffte und schweigende Menge.

Kaer'lic brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass sie auf den Knien lag, ebenso wie alle anderen. Sie warf einen Blick zu den Eisriesen und sah, dass auch sie auf den Knien lagen und dass das keinem von ihnen besonders gefiel – am allerwenigsten Gerti.

Wieder begannen die Schamanen mit ihrem wilden Tanz um die zerbrochene Statue, und nicht einer in der Menge wagte sich zu erheben. Alle Stimmen schlossen sich der Anrufung des Ork-Gotts an.

Und wieder brachen sie abrupt ab.

Ein zweites Tier wurde herbeigebracht, eine große Bergkatze, festgehalten von mehreren Kriegern mit langen Stangen, an deren Enden Schlingen hingen, die um den Hals der Katze gezogen waren. Das Tier knurrte, als es näher zu Obould kam, aber der Ork-König schreckte nicht zurück. Er beugte sich sogar vor, dann ließ er sich auf alle viere nieder und starrte der Katze in die Augen.

Die Orks ließen die Schlingen los und zogen die Stäbe zurück. Das Tier war frei.

Das Starren ging weiter, ebenso wie die erwartungsvolle Stille. Die Katze sprang, schnappte brüllend zu, setzte die Krallen ein, und Obould fing sie mit den Händen auf.

Die Krallen der riesigen Katze konnten Oboulds Haut nicht durchdringen.

Die Zähne der riesigen Katze fanden keinen Halt an seiner Kehle.

Obould richtete sich zu voller Höhe auf und hob das sich windende, um sich schlagende Geschöpf ohne sichtbare Anstrengung über seinen Kopf.

Er hielt diese Pose einen Moment lang, dann schrie er abermals den Namen seines Gottes und begann sich zu bewegen, wurde mit jedem Schritt schneller, stets vollendet im Gleichgewicht. Auf dem Höhepunkt seines wilden Tanzes hielt er inne und drehte sich plötzlich. Die Katze schrie, dann wurde sie schlaff. Obould warf den Kadaver auf den Boden neben den toten Stier.

Die Menge begann zu toben. Die Schamanen sangen und tanzten im Kreis um den Ork-König und die toten Gefangenen und Tiere.

Arganth trat in den Kreis, dann rief er einen Befehl. Er begann sich rhythmisch zu wiegen und flüsterte Worte, die Kaer'lic nicht hören konnte.

Die zehn kopflosen Orks erhoben sich und marschierten in einer schweigenden Prozession hinter Obould, wo sie sich in zwei Reihen aufstellten.

Abermals rezitierte Arganth, und plötzlich sprangen Stier und Katze auf, beide sehr lebendig.

Vollkommen lebendig!

Die verwirrten und erschrockenen Tiere rannten in die Nacht hinaus. Die Orks jubelten, und Obould stand ruhig und ungerührt da.

Kaer'lic wagte kaum zu atmen. Die Wiederbelebung der geköpften Gefangenen war nichts Besonderes – sie hätte es nicht von einem Ork-Schamanen erwartet, aber es war nichts, was auf übergroße magische Macht schließen ließ –, aber die Wiederbelebung der Tiere? Wie war das möglich, und ausgerechnet durch einen Ork?

Und dann wusste sie es. Gruumsh war bei dieser Zeremonie tatsächlich anwesend gewesen, zumindest im Geist. Der Gott der Orks hatte ihren Ruf erhört, und Obould hatte den Segen Einauges erfahren.

Kaer'lic erkannte das deutlich, als sie jetzt den immer noch ruhig dastehenden Ork-König betrachtete. Sie konnte selbst von weitem seine Macht spüren, erkannte die zusätzliche übernatürliche Kraft und Geschwindigkeit, die seinem Körper verliehen worden war.

Die Zwerge hatten einen schrecklichen Fehler gemacht. Ihr Trick, bei dem sie das Abbild von Gruumsh verwendet hatten, hatte ihnen den Zorn des Ork-Gotts eingetragen – des Ork-Gotts in Gestalt von König Obould Todespfeil.

Plötzlich hatte Kaer'lic Suun Wett große Angst. Plötzlich wusste sie, dass sich die Machtverhältnisse unter denen, die sich zum Kampf gegen die Zwerge zusammengetan hatten, verändert hatten.

Und nicht zum Besseren.