Zwei Helme
Er starrte wie gebannt die Diamantenschneide an, deren Blitzen seine Gedanken kristallisierte.
Drizzt saß in seiner kleinen Höhle, Eistod vor sich, Bruenors Helm auf dem Stock an der Seite. Draußen schien die Morgensonne hell und klar, und ein frischer Wind blies kleine Gruppen weißer Wolken eilig über den blauen Himmel.
Es lag so etwas wie Schwung in diesem Wind, ein Gefühl von Lebendigkeit.
Drizzt Do'Urden fand diese Lebendigkeit gleichzeitig beschämend und ärgerlich, denn er hatte sich in seine Höhle zurückgezogen, um sich zu verstecken, um wieder in den Trost dieser abgeschlossenen Dunkelheit zurückzusinken – und um seine Gefühle hinter einer Mauer zu verbergen.
Tarathiel und Innovindil hatten diese Mauer angegriffen. Ihre Vergebung, ihre Zugänglichkeit, die Schönheit und Präzision ihres Schwerttanzes, all das zeigte Drizzt, dass er ihre Einladung annehmen musste, sowohl um der Sache gegen die eindringenden Orks als auch um seiner selbst willen. Nur durch diese beiden, das wusste er, hatte er eine Chance, die Finsternis irgendwann abstreifen zu können, die sich nach Ellifains Tod über ihn gesenkt hatte. Nur durch sie konnte dieser schreckliche Augenblick in dem Piratenversteck für ihn wirklich einen Abschluss finden.
Aber wenn er die Hilfe der beiden und einen solchen Abschluss suchte, musste er sich hinter der undurchdringlichen Mauer des Jägers hervorwagen.
Drizzt wandte den Blick von Eistods Diamantenschneide ab und dem Helm mit dem einen Horn zu.
Er versuchte beinahe sofort, den Blick wieder abzuwenden, aber das half nichts, denn es war ohnehin nicht der Helm, den er sah. Er sah, wie der Turm einstürzte. Er sah, wie Ellifain zusammensackte. Er sah, wie Zaknafein fiel.
All dieser Schmerz, begraben in ihm für so lange Jahre, überflutete Drizzt Do'Urden nun, als er dort allein in seiner kleinen Höhle saß. Erst als er Feuchtigkeit auf seinen Wangen spürte, erkannte er, wie wenig er im Lauf der Jahre geweint hatte. Erst als die Tränen seinen Blick klärten, wurde Drizzt bewusst, wie tief sein Schmerz ging.
Er hatte diesen Schmerz wieder und wieder hinter einem Schleier von Zorn verborgen, indem er zum Jäger geworden war, wenn der Schmerz drohte, ihn zu überwältigen. Und mehr als das – subtiler, aber nicht weniger zerstörerisch –, er hatte alles unter dem Schleier der Hoffnung versteckt, hinter der logischen Prämisse, dass Opfer akzeptabel waren, wenn es einem nur gelang, weiterhin den Prinzipien zu folgen.
Ein guter Tod.
Drizzt hatte immer auf einen guten Tod gehofft; er hatte entweder im Kampf oder bei der Rettung eines Freundes sterben wollen. Ein solcher Tod war ehrenvoll und das wahrhaftigste Vermächtnis, das er zurücklassen konnte. War je ein Mann aus edleren Motiven gestorben als Zaknafein?
Aber all das linderte den Schmerz der Hinterbliebenen nicht. Erst jetzt, als er hier saß und bewusst die Mauer niederriss, die er aus Angst und Zorn errichtet hatte, begann Drizzt Do'Urden zu begreifen, dass er nie wirklich um Zaknafein oder einen der anderen geweint hatte.
Und angesichts dieser Erkenntnis kam er sich vor wie ein Feigling.
Es begann mit einer geringfügigen Bewegung, einem Zucken der schmalen Schultern des Drow. Es klang erst wie ein leises Keuchen, ein Lachen sogar.
Zum ersten Mal machte Drizzt Do'Urden an dieser Stelle kein Ende. Zum ersten Mal ließ er nicht vom Jäger eine Steinmauer um sein Herz bauen. Zum ersten Mal schreckte er nicht vor Leere und Hilflosigkeit zurück. Er nahm sie nicht unbedingt willig an, aber er rannte auch nicht davon. Er weinte um Zaknafein. Er weinte um Ellifain, die eine so tragische Geschichte gehabt hatte. Er dachte über den Verlauf seines Lebens nach, aber ohne jegliches Selbstmitleid, und er weigerte sich zu bedauern, dass er seinen Freunden nicht von diesem Weg in die Berge abgeraten hatte, dass er sie nicht gedrängt hatte, direkt nach Mithril-Halle weiterzuziehen. Sie hatten gewusst, was sie taten, sie hatten die Gefahr gekannt und das Unvermeidliche erwartet. Es waren die Umstände und schlichtweg Pech gewesen, die Drizzt zu den Trümmern des Turms und dem Helm seines toten Freundes gebracht hatten. Sein Weg hatte ihn zu diesem traurigsten Tag seines Lebens geführt, zu einem Augenblick größter Trauer. In einem einzigen Moment hatte er beinahe alle verloren, die er liebte: Bruenor, Wulfgar, Catti-brie und Regis.
Aber er hatte nicht geweint. Er war vor dem Schmerz davongelaufen. Er hatte die Mauer des Jägers gebaut und sich damit gerechtfertigt, dass er den Kampf fortsetzen würde, um es seinen Feinden heimzuzahlen.
Das war selbstverständlich nicht unwahr. Er hatte Gründe für seinen Kampf, und er schlug sich gut.
Aber er zahlte auch dafür, wie ihm jetzt sehr grundlegend klar wurde, als die Mauer einstürzte und die Tränen flossen. Er zahlte dafür mit seinem Herzen. Denn sich hinter der Steinmauer des Zorns zu verschanzen, bedeutete auch, jegliche Freude am Leben zu leugnen. Er leugnete alles, was ihn von den Orks, die er tötete, unterschied – alles, was diesem Krieg einen wirklichen Sinn verlieh, den Unterschied zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch.
All das war seit Ellifains Tod irgendwie verschwommen gewesen. All das verband sich mit dem Schleier des Jägers.
Dann musste Drizzt an Artemis Entreri denken – seine Nemesis, sein … Alter Ego? War Entreri so etwas gewesen wie der Jäger in Drizzt, ein Mann so voller Schmerz und Trauer, dass er sein eigenes Herz leugnete? War es Drizzts Schicksal, dem gleichen gefühllosen Weg zu folgen?
Drizzt ließ die Tränen fließen. Er weinte um sie alle, und er weinte um sich, weil dieser schreckliche Verlust alle Freude aus seinem Herzen gesogen hatte. Jedes Mal, wenn Zorn aufkam, trieb er ihn zurück. Jedes Mal, wenn er sich vorstellte, wie er einem Ork den Kopf abschlug, zwang er sich stattdessen, an Catti-brie zu denken, wie sie lächelte, an Bruenor, der ihm wissend zublinzelte, an Wulfgar, der auf einem Bergpfad ein Lied an Tempus sang, oder an Regis, der am Ufer des Maer Dualdon auf dem Rücken lag, die Angelschnur an einen Zeh gebunden. Drizzt zwang sich, diese Bilder trotz des Schmerzes zu ertragen. Er bemerkte kaum, wie es langsam dunkler wurde, und er blieb die ganze Nacht dort liegen, irgendwo zwischen Schlaf und Erinnerungen.
Als es wieder Morgen wurde, hatte er zumindest die Kraft gefunden, die ersten Schritte auf einem notwendigen Weg zu vollziehen und den Elfen zu folgen, die ihr Lager verlegt hatten. Er würde ihre Einladung annehmen und mit ihnen zusammen für die gemeinsame Sache kämpfen.
Er legte seine Krummsäbel weg und griff nach dem Umhang, dann hielt er inne und schaute zurück.
Mit einem bittersüßen Lächeln streckte er die Hand aus und hob Bruenors Helm von dem Stock. Er drehte ihn hin und her und hob ihn vors Gesicht, damit er Bruenors Duft noch einmal riechen konnte. Dann steckte er den Helm in sein Gepäck und machte sich auf den Weg.
Ein paar Schritte hinter dem Ausgang blieb er jedoch stehen und hätte beinahe gelacht, als sein Blick auf seine schwieligen Füße fiel.
Einen Augenblick später hielt er die Stiefel in der Hand. Er dachte daran, sie anzuziehen, aber dann band er sie nur mit den Schnürsenkeln zusammen und hängte sie sich über die Schulter.
Vielleicht gab es ja einen gesunden Mittelweg.
Etwa zur gleichen Zeit, als Drizzt Bruenors Helm hin und her drehte, betrachtete ein anderes Geschöpf nicht sonderlich weit entfernt einen anderen gepanzerten Kopfschutz. Dieser Helm war weiß wie Knochen und ähnelte einem Schädel, wenn auch mit grotesk lang gezogenen Augenhöhlen. Das »Kinn« des Helms würde tief über Oboulds eigenes Kinn hängen und seine Kehle schützen. Die verlängerten Augenhöhlen waren allerdings der faszinierendste Teil des Helms, denn sie waren nicht offen. Eine glasartige Substanz füllte sie.
»Glasstahl«, erklärte Arganth dem großen Ork. »Kein Speer wird ihn durchdringen. Nicht einmal eine große Zwergenarmbrust könnte einen Bolzen hindurchtreiben.«
Obould knurrte bewundernd, als er den Helm hin und her drehte. Er hob ihn langsam hoch und setzte ihn auf. Der Helm reichte weit nach unten, bis zu seinen Schlüsselbeinen.
Arganth zeigte ihm eine Art Schal, der mit Metallfäden durchzogen war.
»Wickel das hier um den Hals, und der Helm kann darauf sitzen«, erklärte der Schamane. »Dann wird es keine Öffnung geben.«
Obould kniff hinter dem Glasstahl die Augen zusammen. »Zweifelst du etwa an meinen Fähigkeiten?«, fragte er.
»Es darf keine Schwachstelle geben«, erwiderte Arganth tapfer. »Obould ist die Hoffnung von Gruumsh. Obould ist der Auserwählte!«
»Und Gruumsh wird Arganth bestrafen, wenn Obould versagt?«, fragte der Ork-König.
»Obould wird nicht versagen«, wich der Schamane der Frage aus.
Obould hakte nicht weiter nach und konzentrierte sich stattdessen auf die scheinbar endlose Reihe kostbarer Gaben, die ihm gewährt worden waren. Jedes Mal, wenn er die Faust ballte, spürte er die zusätzliche Kraft in seinen Armen. Jeder leichtfüßige Schritt über den zerklüfteten Boden erinnerte ihn an sein verbessertes Gleichgewicht und seine höhere Geschwindigkeit. Unter der Rüstung trug er ein leichtes Hemd und eine Hose, die, wie die Schamanen behaupteten, so verzaubert waren, dass sie ihn vor Feuer und Eis schützen würden.
Die Schamanen machten ihn unverwundbar. Die Schamanen bauten um ihn herum eine undurchdringliche Rüstung.
Aber Obould erkannte, dass er lieber nicht an diese Dinge denken sollte, oder er würde in seiner Wachsamkeit nachlassen.
»Bist du zufrieden?«, fragte Arganth so aufgeregt, dass seine Stimme beinahe wie ein Quieken klang.
Immer noch knurrend setzte Obould den Helm wieder ab und nahm von dem Schamanen den Schal mit den Metallfäden entgegen.
»Obould ist erfreut«, erklärte er.
»Dann ist Gruumsh ebenfalls erfreut!«, verkündete Arganth.
Er tanzte davon, zurück zu der wartenden Gruppe von Schamanen, die alle aufgeregt aufeinander einredeten. Zweifellos tauschten sie weitere Ideen darüber aus, was sie noch für ihren Gottkönig tun konnten. Obould lachte heiser. Er hatte von seinen Leuten stets Ergebenheit verlangt und sie mit Hilfe von Angst und Muskelkraft erzwungen. Aber dieser wachsende Fanatismus war etwas ganz anderes.
Konnte ein König sich mehr wünschen?
Obould wusste allerdings, dass Fanatismus auch Erwartungen mit sich brachte, und er spähte suchend in die dunkle Bergwelt hinaus. Sie hatten einen Gewaltmarsch nach Norden unternommen, einen ganzen Tag und eine ganze Nacht, denn etwas gefährdete sein großes Ziel.
Obould hatte vor, diese Gefahr aus dem Weg zu räumen.
Ein rascher Blick nach Westen sagte Tarathiel, dass er sich beeilen musste, denn der untere Rand der Sonne berührte bereits beinahe den Horizont, und sein und Innovindils neues Lager lag noch in einiger Entfernung. Wenn die Sonne unterging, würde er Sonne landen lassen müssen, denn im Dunkeln umherzufliegen war eine schwierige Angelegenheit.
Dennoch, er war erregt von der Jagd – er hatte ein Dutzend Orks vor sich hergetrieben –, und noch aufregender war der Gedanke, dass Drizzt Do'Urden auf dem Weg zu ihnen war. Nachdem sie den Ork-Stamm gemeinsam wieder in den Grat der Welt gescheucht hatten, war der Drow abermals davongegangen, und Tarathiel und Innovindil hatten ihn tagelang nicht gesehen. Aber an diesem Tag hatte Tarathiel aus der Luft gesehen, wie Drizzt einen Weg entlangging, der zu der Höhle mit dem neuen Lager führte. Der Drow hatte ihm zugewinkt – nicht gerade ein Versprechen, aber Tarathiel hatte ein paar hoffnungsvolle Zeichen bemerkt: Drizzt hatte den Helm seines toten Freundes dabei – Tarathiel hatte das verbliebene Horn gesehen, das aus dem Rucksack des Drow ragte –, und was vielleicht noch auffälliger war: Er trug seine Stiefel.
Hatte sein Widerstand gegen die Versuche der beiden Elfen, Freundschaft mit ihm zu schließen, ein Ende gefunden?
Tarathiel plante, bald zu Innovindil und hoffentlich auch zu Drizzt zurückzukehren und ihnen von seinem neuen Sieg zu erzählen, auch wenn es nur ein kleiner war. Er wollte mindestens vier Orks getötet haben, bevor er nach Hause kam. Er hatte schon zwei, und da ein Dutzend weiterer immer noch unter ihm herrannte, erschien ihm dieses Ziel durchaus erreichbar.
Der Elf veränderte seine Position im Sattel und hob den Bogen, aber die Orks rannten in eine schmale Rinne zwischen den Felsen und verschwanden aus seinem Blickfeld. Tarathiel lenkte Sonne zu der Rinne und sah, dass die Geschöpfe immer noch flohen. Er brachte den Pegasus direkt über die Felsspalte und hielt nach einem Ziel Ausschau. Die Sehne schwirrte, aber der Pfeil traf nicht, denn sowohl die Rinne als auch der Ork, auf den der Elf gezielt hatte, bogen nach rechts ab. Der Elf musste sein Reittier im Kreis lenken, um nicht vor die Fliehenden zu geraten.
Bald schon zielte er wieder, und diesmal fand der Pfeil sein Ziel und tötete den dritten Ork dieses Tages. Erneut lenkte Tarathiel den Pegasus im Kreis, und dabei warf er einen Blick nach Westen zur untergehenden Sonne und erkannte, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb.
Wieder stürzte er sich auf die fliehenden Orks. Die Rinne zog sich den Berghang hinab und zwischen zwei hohen Felsen hindurch. Tarathiel hielt es für besser, die Orks wieder anzugreifen, wenn sie aus der Rinne kamen. Dann würde er auf den Ersten schießen, der in die Richtung seiner Höhle floh, und sich auf den Heimweg machen.
Breit grinsend und begierig, die letzte Beute des Tages zu schlagen, ließ Tarathiel Sonne zwischen den Felsvorsprüngen hindurchfliegen.
Und in diesem Augenblick erhoben sich zwei lange Stangen vor ihm, wurden gekreuzt und nach oben gestoßen. Erst als Sonne schon in der Falle saß, erkannte der Elf, dass zwischen den Stangen ein Netz hing.
Der Pegasus wieherte erschrocken, und er und Tarathiel rollten sich zusammen. Sonne faltete die Flügel unter dem Druck des Netzes. Pegasus und Reiter bewegten sich noch ein Stück nach vorn, als die Stangen hinter ihnen wieder gekreuzt wurden und die Falle zu Boden krachte.
Tarathiel drehte sich und glitt unter Sonne, sobald sie den Boden berührten. Er benutzte den freien Raum unter dem Pegasus, um sein Schwert zu ziehen, und begann das Netz zu zerschneiden.
Bald schon hatte er ein Loch vor sich, durch das er nach draußen klettern konnte. Er sah sich um und erwartete, dass sich die Feinde sofort auf ihn stürzen würden.
Dann schnappte er erschrocken nach Luft, denn er erkannte, dass die Stangen mit dem Netz nicht von Orks, sondern von zwei Eisriesen gehalten wurden.
Die Riesen kamen allerdings nicht näher, also drehte sich Tarathiel rasch um und machte sich eilig daran, das Netz weiter zu zerschneiden, verzweifelt bemüht, auch Sonne zu befreien.
Er hielt inne, als rings um ihn Fackeln aufflammten. Nun erst erkannte er, wie ausgeklügelt diese Falle war.
Langsam entfernte sich der Elf von dem um sich tretenden Pegasus und bewegte sich in einem defensiven Kreis um ihn, das Schwert vor sich ausgestreckt, während er die Fackelträger beobachtete, einen vollständigen Kreis hässlicher Orks. Sie hatten ihm eine Falle gestellt, und er war darauf hereingefallen. Er hatte keine Ahnung, wie er sich und Sonne befreien sollte. Er schaute zurück zu dem Pegasus und sah, dass das Tier mit seinen Versuchen, sich aus dem Netz zu befreien, Fortschritte gemacht hatte – aber nicht schnell genug. Er musste zurückgehen und mehr von dem Netz zerschneiden. Also drehte er sich um.
Oder er versuchte es zumindest.
Denn plötzlich stand ein Geschöpf von so offensichtlicher Macht vor ihm, dass Tarathiel den Blick nicht von ihm abwenden konnte. Der Ork trug eine wunderbar gearbeitete Rüstung mit Stacheln und scharfen Kanten und einen schädelförmigen weißen Helm mit lang gezogenen Augen und blitzenden Zähnen. Tarathiel sah den geschnitzten Griff eines riesigen Schwerts diagonal hinter der rechten Schulter des riesigen Kriegers hervorragen.
»Obould!«, begannen die anderen Orks zu brüllen. »Obould! Obould! Obould!«
Das war ein Name, den Tarathiel genau wie jedes andere weltgewandte Geschöpf in den Silbermarschen kannte – der Name eines Ork-Königs, der einmal eine mächtige Zwergenzitadelle bezwungen hatte.
Tarathiel wollte zu Sonne und dem Netz zurückkehren. Er wusste, er musste es tun, aber er konnte nicht. Er konnte den Blick nicht von König Obould Todespfeil losreißen.
Der große, kräftige Ork kam auf Tarathiel zu, hob den rechten Arm und griff nach dem Schwert. Langsam zog er die Waffe aus der Halbscheide in eine horizontale Position über seinem Kopf. Immer noch näher kommend, kaum langsamer werdend und ohne die Miene zu verziehen – soweit Tarathiel das durch die riesigen Augenhöhlen erkennen konnte –, riss der Ork die Waffe entschlossen zur Seite. Die Klinge war sofort von Flammen umzüngelt.
Tarathiel bewegte die freie linke Hand zu seinem Rücken, zum Griff eines Wurfdolchs. Er würde den Ork schnell töten müssen, um die Zuschauer zu verblüffen und Zeit zu gewinnen, um zu Sonne zurückzukehren. Er schob seine Angst beiseite und betrachtete den angreifenden Ork, suchte nach einer Schwachstelle, irgendeiner Schwachstelle.
Nur die blutunterlaufenen Augen schienen verwundbar – kein leichter Wurf, aber die einzige Möglichkeit.
Tarathiel zog den Dolch aus dem Gürtel und ließ den Arm dann wieder lässig an die Seite sinken, verbarg den Griff hinter seiner Hand, die Klinge hinter dem Unterarm. Obould war kaum mehr fünfzehn Fuß entfernt und sah nicht so aus, als wollte er langsamer werden oder etwas sagen. Er machte einen weiteren großen Schritt.
Tarathiel riss den Arm vor, und der kleine Dolch flog.
Obould versuchte nicht auszuweichen oder den Dolch abzufangen, sondern hielt einfach nur inne und starrte den Elf ohne zu blinzeln an.
Tarathiel bewegte sich sofort zur Seite, zurück zu Sonne, denn er ging davon aus, dass sein Wurfgeschoss den Ork niederstrecken würde. Aber schon beim ersten Schritt bemerkte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Die Spitze des Dolchs traf den durchsichtigen Glasstahl und prallte ab, ohne Schaden anzurichten.
Hinter den Zähnen dieses scheußlichen Helms wurde König Oboulds Grinsen breiter, und er knurrte gierig.
Tarathiel blieb stehen und fuhr herum, um sich dem Angriff des Orks zu stellen. Er wich einem überraschend schnellen einarmigen Schlag des Großschwerts aus und spürte die Hitze der Flammen, als sie über ihn hinwegzuckten. Dann sprang er vor und stach mit seinem eigenen Schwert fest nach Oboulds Bauch.
Aber der Ork wich nicht zurück, sondern verließ sich abermals auf seine Rüstung, nahm einfach sein Schwert in beide Hände, riss es hoch und dann diagonal nach unten.
Tarathiels Klinge berührte die Waffe des Orks nicht, aber bevor er sein Schwert auf der Suche nach einer weiteren Schwachstelle drehen oder fester zustoßen konnte, um die Rüstung zu prüfen, musste er selbst beiseite springen und sich dabei drehen; jeder einzelne Muskel arbeitete, um ihn vor dem mächtigen Schwert des Orks in Sicherheit zu bringen.
Als er Obould den Rücken zugewandt hatte, sprang der Elf davon. Er spürte die Verfolgung, spürte die Gier seines Feindes, vollendete plötzlich die Drehung doch noch, aber in entgegengesetzter Richtung, und huschte geduckt an dem hoch aufragenden Obould vorbei. Dann drehte der Elf sich abermals und schlug fest mit dem Schwert gegen Oboulds Lenden. Der Ork heulte auf, als er herumfuhr, und das Großschwert zerriss die Luft mit einem wilden Aufflackern der Flammen.
Tarathiel bewegte die Füße nicht, warf sich aber zurück, die Arme weit nach beiden Seiten ausgestreckt. Das tödliche Schwert zischte dicht über seine Brust und sein Gesicht hinweg, als er sich beinahe in der Waagrechten befand. Dann kam der Elf mit verblüffender Gelenkigkeit und Kraft wieder in seine ursprüngliche Position und stieß abermals zu.
Funken flogen, als die Elfenklinge hart gegen die schwarze Rüstung des Ork-Königs schlug, aber Obould verhielt sich, als hätte er den Schlag nicht einmal bemerkt.
Wieder schwang er das Großschwert herum, und abermals ließ sich Tarathiel nach hinten fallen und kam mit einem geschickten Schritt rückwärts aus der halb liegenden Position. Obould machte nicht noch einmal den Fehler, seine Klinge zu weit zu schwingen, sondern folgte jeder Bewegung des Elfen.
Tarathiel hatte nur einen einzigen Vorteil, seine Schnelligkeit, und er wusste, wenn er keinen Fehler machte, konnte er sich von diesem schrecklichen Schwert fern halten. Er musste sich Zeit erkaufen, musste Möglichkeiten nutzen, wann immer er sie fand, und hoffte, den großen Ork bald zu ermüden. Er musste defensiv kämpfen und seinem Gegner immer einen Schritt voraus sein, bis das Gewicht dieses massiven Schwerts Oboulds starken Armen seinen Preis abverlangte und sie nach unten zwang, so dass Tarathiel eine Schwachstelle in dieser Rüstung finden konnte, eine Möglichkeit, dem Ork eine tödliche Wunde beizubringen.
Er wusste all das, aber ein Blick zur Seite, wo Sonne immer noch versuchte, sich aus dem Netz zu befreien, erinnerte ihn daran, dass Zeit ein Luxus war, den er sich nicht leisten konnte.
Wieder trieb Obould den Elfen vor sich her. Dann sprang Tarathiel plötzlich zur Seite und drehte sich um das zustechende Großschwert. Er spürte, dass die mächtige Waffe ihm weiterhin folgte, ließ sich flach auf den Boden fallen und schlug fest gegen die kräftigen Beine des Orks, um ihn vielleicht zum Stolpern zu bringen.
Er hätte genauso gut versuchen können, zwei gesunde Eichen zu fällen, denn Obould zuckte nicht einmal zusammen, während die Wucht des Schlages Tarathiels Schultern taub machte.
Es gelang ihm, seine Überraschung beiseite zu schieben, und er bewegte sich weiter rund um den Ork-König und stach in unterschiedlichen Winkeln zu, damit das verfolgende Schwert ihn nicht erreichen konnte. Dann sprang er auf und nahm eine defensive Position ein.
Mit einem plötzlichen Brüllen griff der Ork an, und wieder wich Tarathiel tänzelnd zurück, suchte nach einer Möglichkeit, suchte nach einem Anzeichen, dass Obould müde wurde. Zu seiner Überraschung schien der Ork jedoch nur noch an Schwung zu gewinnen.
Innovindil warf einen besorgten Blick zur untergehenden Sonne, denn sie wusste, dass Tarathiel inzwischen eigentlich im Lager sein sollte. Sie war ihm entgegengegangen, denn sie glaubte zu wissen, wohin er mögliche Feinde treiben würde, und hoffte, ihm bei seiner Jagd helfen zu können. Bisher hatte sie allerdings noch keine Spur von ihm gesehen.
Und nun ging die Sonne unter, was doch sicher dazu führen würde, dass er den Pegasus nicht mehr fliegen ließ.
»Wo bist du, Liebster?«, flüsterte sie in den Nachtwind.
Sie bemerkte die Bewegung einer dunklen Gestalt und lächelte, ein wenig getröstet von dem Wissen, dass Drizzt Do'Urden bei dieser Jagd ihre Flanke schützte.
Sie sagte sich, dass Tarathiel ganz in der Nähe sein musste, und erinnerte sich rasch an andere Zeiten, in denen ihr mutiger Gefährte in die Nacht hinausgeeilt war, um Orks zu jagen. Wie sehr Tarathiel es liebte, diese Ungeheuer zu töten! Innovindil seufzte leicht gereizt und nahm sich vor, ihn ordentlich zu schelten, weil er ihr solche Sorgen gemacht hatte. Sie bewegte sich weiter die Anhöhe hinauf, um das Gelände im Nordwesten besser überblicken zu können. Dann hörte sie ein Geräusch ähnlich dem Grollen eines heranziehenden Gewitters. »Obould! Obould! Obould!«, erklang es immer wieder, und obwohl Innovindil den Namen zunächst nicht erkannte, war ihr doch sofort klar, dass Orks in der Nähe waren – zu viele Orks.
Normalerweise hätte diese Entdeckung die Elfenfrau kalt gelassen. Normalerweise hätte sie einfach angenommen, dass sich Tarathiel in der Nähe versteckt hatte und versuchte, die Größe der feindlichen Streitmacht abzuschätzen und vielleicht eine Schwäche dieser Truppe herauszufinden, die die beiden ausnutzen konnten. Aber aus irgendeinem Grund hatte Innovindil das deutliche Gefühl, dass etwas nicht stimmte, dass Tarathiel sich nicht hinter einem Felsvorsprung in Sicherheit befand.
Vielleicht lag es an der Eindringlichkeit des Gebrülls. »Obould! Obould! Obould!«, riefen sie immer wieder, mit einem Unterton, in dem gleichermaßen Gier und Begeisterung lagen. Vielleicht lag es auch nur daran, dass die Schatten eines dunklen Abends nun länger wurden. Was immer der Grund sein mochte, Innovindil setzte sich wieder in Bewegung und eilte so schnell sie konnte den felsigen Abhang hinauf, angezogen von diesem Gebrüll.
Als sie schließlich über die Anhöhe kam und die andere Seite sehen konnte, wurde sie von Entsetzen erfasst, denn dort im felsigen Tal vor ihr flackerten Fackeln in den Händen hunderter Orks, die in einem weiten Kreis standen und jubelten.
Nun erkannte Innovindil auch den Namen, den sie riefen. Sie spähte über die Reihen von Orks hinweg in die Mitte des Kreises, und ihr Herz blieb beinahe stehen. Sie sah Tarathiel, der auswich, hierhin und dorthin huschte, immer den Bruchteil eines Schritts vor einem flammenden Großschwert. Und dort hinter ihm im Schatten war sein Pegasus, der versuchte, sich aus einem Netz zu befreien.
Erschüttert ließ sich Innovindil gegen einen Felsen sinken, gebannt von dem Tanz der Gegner und dem Spektakel, das die Zuschauer boten. Ihr Liebster, ihr Gefährte, wich aus und überschlug sich, wirbelte herum, griff blitzartig an, sein Schwert zuckte, und Funken flogen.
Dann duckte er sich wieder, und das Großschwert fegte knapp über ihn hinweg.
Innovindil sah sich in dem Kreis aus Orks um, versuchte, eine Möglichkeit zu entdecken, ihn zu durchdringen, eine Möglichkeit, dort hinunter zu Tarathiel zu gelangen. Sie verfluchte sich lautlos, weil sie Mond in ihrer neuen Höhle gelassen hatte, und dachte einen Augenblick daran, zurückzulaufen und den Pegasus zu holen. Aber konnte Tarathiel so lange standhalten?
Innovindil setzte dazu an, zurück nach Süden zu rennen, dann blieb sie stehen und wandte sich wieder nach Norden. Nein, sie hatte keine andere Möglichkeit, also drehte sie sich wieder nach Süden, wo ihre Höhle lag, warf noch einen Blick zurück und betete zu den Elfengöttern um Schutz für Tarathiel.
Und hielt abermals inne, wieder vollkommen gebannt von der Intensität des Kampfes. Tarathiel huschte an Obould vorbei und stach energisch zu, und der Ork riss das Großschwert nach unten, direkt vor dem zurückweichenden Elf. Innovindil blinzelte, als das Schwertfeuer plötzlich ausging, und sie begriff sofort, dass Tarathiel ebenso reagiert haben musste.
Innovindil riss die Augen weit auf, und sie öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei, als sie begriff, dass das Verschwinden der Flammen Tarathiels Blick für einen Moment gebannt hatte, dass er immer noch die Aufmerksamkeit auf das letzte Aufflackern von Feuer gerichtet hatte und glaubte, die Klinge befände sich noch tief unten.
Aber das war sie nicht.
Sie war hoch oben, wo Obould sie leicht seitlich über dem Kopf hielt.
»Obould! Obould! Obould!«, jubelten die Orks ihrem mächtigen, tückischen Anführer zu.
Der große Ork stürzte vorwärts und riss sein Schwert in einem gewaltigen diagonalen Schlag nach unten.
Tarathiel wich zurück, und als er nicht davoneilte, glaubte Innovindil einen Augenblick, es sei ihm gelungen, der Klinge auszuweichen. Sie wusste, dass das unmöglich war, aber er stand immer noch vor dem Ork-König.
Wie konnte der Schlag ihn verfehlt haben?
Er hatte ihn nicht verfehlt. Das war unmöglich.
Mit angehaltenem Atem und vollkommen reglos starrte Innovindil zu Tarathiel hinab, der erstarrt dastand, und sie sah selbst aus dieser Entfernung, wie verblüfft er dreinschaute.
Oboulds Schwert hatte ihn nicht verfehlt. Der mächtige Schlag hatte durch Tarathiels Schlüsselbein und schräg nach unten geschnitten, von links nach rechts, und die Klinge war an seiner Seite direkt unter den Rippen wieder herausgekommen. Immer noch mit diesem verblüfften Ausdruck im Gesicht fiel der Elf einfach auseinander. Sein Oberkörper rutschte nach links, und die Beine knickten unter ihm ein.
»Obould! Obould! Obould!«, schrien die Orks.
Auch Innovindil schrie. Sie sprang auf, rannte den felsigen Hang hinab, zog ihr schlankes Schwert.
Oder sie versuchte es zumindest, denn etwas sprang sie von der Seite an, und noch bevor sie auf dem Boden aufschlug, bevor sie überrascht aufschreien konnte, wurde eine schlanke Hand auf ihren Mund gedrückt. Sie kämpfte einen Augenblick vergeblich dagegen an, bevor sie schließlich die Stimme erkannte, die ihr ins Ohr flüsterte.
Drizzt Do'Urden drückte die Elfenfrau fest auf den Boden, umarmte sie und flüsterte, dass alles in Ordnung kommen würde, bis sie schließlich keinen Widerstand mehr leistete.
»Wir können nichts tun«, sagte der Drow wieder und wieder. »Wir können überhaupt nichts tun.«
Er zog Innovindil in eine sitzende Position, umarmte sie weiterhin, und zusammen blickten sie hinab in das Felsental, wo der Ork-König, der sein Schwert wieder hatte aufflammen lassen, um die halbierte Leiche Tarathiels herumstolzierte. Man hatte weitere Netze über den armen Pegasus geworfen, und Dutzende von Orks und mehrere Riesen tanzten und jubelten im Fackellicht.
Drizzt und Innovindil blieben lange dort sitzen und starrten ungläubig ins Tal hinab, und obwohl der Drow die Elfenfrau so fest hielt, wie er konnte, bebten ihre Schultern von ihren verzweifelten Schluchzern. Sie konnte es nicht sehen, denn sie hatte den Blick starr auf die schreckliche Szene vor sich gerichtet, aber hinter ihr weinte Drizzt ebenfalls.