Im Schatten des Ork-Königs

Die Arbeiten am Westufer des Surbrin gingen hektisch weiter, und Orks und Riesen errichteten Verteidigungsanlagen an allen Furten nahe dem Südrand der Berge rings um das geschlossene Tor von Mithril-Halle. Obould hielt eine der Furten für besonders gefährlich, weil der Fluss hier breit und seicht war und eine Armee das Wasser schnell durchqueren könnte. Daher setzte er an dieser Stelle die meisten seiner Leute ein und ließ Tonnen von Steinen zum Ufer bringen und sie dicht zusammenschieben; dann schaufelten die Orks Sand darauf und begradigten auf diese Weise den Fluss, was ihn tiefer und die Strömung stärker werden ließ.

Weil sie sich nicht übertreffen lassen und außerdem kein Risiko eingehen wollte, befahl Gerti Orelsdottr ihren Riesen, dafür zu sorgen, dass das Zwergentor so schnell nicht wieder geöffnet werden konnte, und ließ sogar eine Gerölllawine auslösen. Sie würde nicht zulassen, dass die Heldenhammer-Sippe ihre Höhlen durch den Hinterausgang verließ.

Die Arbeiten gingen Tag und Nacht weiter, und an jedem Kreuzungspunkt wurden schnell hohe Mauern errichtet. Riesen häuften Felsblöcke auf, die zum Werfen geeignet waren, bereit, jedem Versuch, den Fluss zu überqueren, mit heftiger Gegenwehr zu begegnen, und die Orks füllten hastig ihre Speervorräte auf. Falls Verstärkung für die Zwerge über den Surbrin kommen sollte, würden Gerti und Obould dafür sorgen, dass sie für jeden Zoll Boden teuer bezahlten.

Die beiden Anführer setzten sich jeden Abend zusammen, und Arganth, der an jedem dieser Treffen teilnahm, wurde schnell zu Oboulds wichtigstem Berater. Die Gespräche verliefen im Allgemeinen höflich, und es ging überwiegend darum, wie sie ihre Eroberungen so gut und schnell wie möglich sichern konnten, aber es entging Gerti nicht, dass Obould überall den Ton angab. Seine Pläne waren sinnvoll, und seine Vision war plötzlich viel schärfer geworden. Daher begab sich die Riesin meist mit knirschenden Zähnen zu diesen Besprechungen und war hinterher ausgesprochen schlecht gelaunt.

An einem Abend einen Zehntag nach dem Fall des Osttors von Mithril-Halle war das nicht anders.

»Wir müssen wieder nach Westen ziehen«, begann Gerti wie so oft in letzter Zeit. »Dein Sohn macht keine Fortschritte gegen die Zwerge, und er hat nicht genug Riesen, die ihm helfen, um sie aus ihrer Stellung zu jagen.«

»Hast du es eilig, sie nach Mithril-Halle zu scheuchen?«, fragte Obould lässig.

»Es wäre ein Problem weniger für uns.«

»Es ist besser, wenn sie noch schwerere Verluste einstecken müssen, solange wir sie dort draußen haben«, erklärte der Ork-König. »Dann werden weniger von ihnen übrig bleiben, um gegen Proffit und seine stinkigen Trolle zu kämpfen.«

Dass der Ork-König ein anderes Volk als »stinkig« bezeichnete, fand Gerti lachhaft, aber sie war nicht in der Stimmung für Heiterkeit.

»Glaubst du wirklich, dass ein Haufen Trolle die Heldenhammer-Sippe aus ihrem Heim vertreiben kann?«, schnaubte sie.

»Selbstverständlich wird Proffit keinen Erfolg haben«, erwiderte Obould. »Aber das braucht er auch nicht. Er wird sie aufweichen und die Schlinge enger ziehen. Je fester wir sie zuziehen, desto besser das Ergebnis.«

»Wir vertreiben sie vollkommen aus dem Norden?«, fragte Gerti ein wenig verwirrt, denn sie hatte nicht den Eindruck, dass Obould etwas zu diesem Zweck unternahm, obwohl er das zuvor immer behauptet hatte.

»Es wäre wunderbar, wenn wir das schaffen würden«, stellte der Ork-König fest. »Wenn nicht, wird die Heldenhammer-Sippe, wenn ihre Tore weiterhin versiegelt sind und sie in ihren unterirdischen Gängen festsitzen, vielleicht anfangen zu verhandeln.«

»Ein Vertrag zwischen erobernden Orks und Zwergen?«, fragte Gerti ungläubig.

»Was bleibt ihnen denn sonst übrig?«, fragte Obould. »Wollen sie im Unterreich mit Silbrigmond und Felbarr Handel treiben?«

»Das könnten sie tun.«

»Und wenn wir versuchen, diese Verbindungsgänge zu finden und sie zum Einsturz bringen?« Obould schien vollkommen überzeugt zu sein, dass das möglich war. »Werden die Zwerge dann dem Weg folgen, den dieser elende Do'Urden benutzt hat, und anfangen, mit den Drow des Unterreichs Handel zu treiben?«

»Nun«, erwiderte Gerti, »Mithril-Halle kann sich doch sicher selbst versorgen. Die Heldenhammer-Sippe wird sich vielleicht einfach damit zufrieden geben, ein Jahrhundert in ihrem Loch zu sitzen.« Sie beugte sich vor. »Dein Volk war noch nie für seine Geduld bekannt, Obould. Ork-Eroberungen sind für gewöhnlich kurzfristige Angelegenheiten und gehen häufig verloren, wenn ihr gegen andere Orks kämpfen müsst.«

Dieser letzte Satz war eine gezielte Provokation, denn vor nicht allzu langer Zeit hatte der Ork-König tatsächlich eine große Eroberung gemacht, die Zwerge aus der Zitadelle Felbarr vertrieben und sie in Zitadelle Todespfeil umbenannt. Aber dann war es zu den unvermeidlichen Streitereien von Ork gegen Ork gekommen, und die Zwerge unter König Emerus Kriegerkron hatten keine Zeit verloren und die abgelenkten, chaotischen Eroberer wieder vertrieben. Gerti hatte diese nicht sonderlich subtile Andeutung gemacht, um dem wachsenden Ego ihres Gegenübers einen Dämpfer aufzusetzen. Sie war jedoch überrascht und mehr als nur ein wenig enttäuscht, wie ruhig Obould blieb.

»Das stimmt«, gab der Ork-König freimütig zu. »Aber vielleicht haben wir aus unseren Fehlern gelernt.«

Gerti hätte dieses seltsame Geschöpf am liebsten gefragt, wer er wirklich war und was er mit dem wehleidigen, dummen alten Obould gemacht hatte.

»Wenn die Region gesichert und unsere Armee groß genug ist, werden wir Ork-Städte errichten«, erklärte Obould, und er schien weit in die Ferne zu schauen, als ob er sich ausmalte, wovon er da sprach. »Wir werden selbst Handel treiben und die Städte der Umgebung dabei einbeziehen.«

»Du wirst einen Botschafter zu Lady Alustriel und Emerus Kriegerkron schicken, um Handelsabkommen abzuschließen?«, frage Gerti.

»Zuerst zu Alustriel«, erwiderte Obould in aller Ruhe. »Silbrigmond war immer schon für seine Toleranz bekannt. Ich nehme an, bei König Kriegerkron wird es ein wenig mehr Überredungskunst brauchen.«

Er schaute Gerti direkt an und grinste boshaft, wobei seine Hauer über die Oberlippe ragten.

»Aber wir werden Handel treiben müssen«, sagte Obould. »Nicht wahr?«

»Welche Waren wollt ihr produzieren, die sie nicht auch anderswo erhalten können?«

»Wir werden den Schlüssel zur Freiheit der Heldenhammer-Sippe in Händen halten«, erklärte Obould. »Vielleicht werden wir sogar zulassen, dass das Osttor von Mithril-Halle wieder geöffnet wird. Vielleicht werden wir an dieser Stelle dort eine Brücke über den Surbrin bauen. Wir gestatten Mithril-Halle, überirdisch Handel zu treiben, und dafür müssen sie selbstverständlich einen gewissen Zoll entrichten.«

»Du hast den Verstand verloren!«, fauchte Gerti. »Denk an all die Zwerge, die Ork-Klingen zum Opfer gefallen sind! König Bruenor selbst wurde von den Leuten deines Sohns getötet. Glaubst du wirklich, sie werden das so schnell vergessen?«

»Wer weiß?«, sagte der König schulterzuckend, und er machte den Eindruck, als wäre ihm die ganze Sache ziemlich egal. »Das sind alles nur Möglichkeiten, die allerdings durch unsere Erfolge wahrscheinlicher geworden sind. Wenn sich die gesamte Region im Besitz der Orks befindet, werden sich die Völker dann zusammentun und gegen uns kämpfen? Wie viele Tausend werden sie opfern? Wie lange wird ihre Entschlossenheit anhalten, wenn ihre Verwandten und Freunde zu Dutzenden sterben? Zu Hunderten oder zu Tausenden? Und das alles, obwohl ihnen ganz ehrlich Frieden angeboten wird.«

»Ehrlich?«

»Ehrlich«, erwiderte Obould. »Wir können Silbrigmond oder Sundabar nicht einnehmen, auch dann nicht, wenn sich deine Leute und all meine Leute und sämtliche Trolle der Trollmoore zusammentun. Das weißt du ebenso gut wie ich.«

Gerti brachte zunächst vor Unglauben kein Wort heraus. Sie hatte Letzteres natürlich von Anfang an gewusst, aber nie geglaubt, dass Obould jemals seine wahren Grenzen begreifen würde.

»Was ist… mit der Zitadelle Felbarr?«, stotterte sie schließlich in der Hoffnung, den König noch einmal zu überrumpeln.

»Wir werden sehen, wie weit unsere Siege uns bringen«, erwiderte Obould. »Vielleicht werden wir Mithril-Halle erobern – und das ist eine ebenso gute Beute wie Felbarr. Vielleicht wird uns in den Monaten, die es brauchen wird, um den Sieg zu sichern, auch noch der Mondwald zufallen. Wir brauchen auf jeden Fall Holz, und das nicht zu dem Zweck, in der Nacht um die Bäume herumzutanzen, wie es diese Verrückten tun.«

Wieder sah es aus, als spähte er über den Horizont hinaus, und er lachte leise.

»Aber das liegt alles noch in weiter Ferne«, sagte er dann. »Lass uns sichern, was wir bereits haben. Riegeln wir den Surbrin gegen alle ab, die Mithril-Halle helfen wollen. Soll Proffit in den Gängen im Süden Schaden anrichten. Soll Urlgen die Zwerge ganz und gar in ihre Löcher treiben und das Westtor schließen. Danach können wir entscheiden, wohin wir als Nächstes marschieren.«

Gerti lehnte sich wieder gegen die Wand und starrte den Ork-König und den selbstzufriedenen Schamanen neben ihm an. Sie widerstand dem Bedürfnis, die Hände auszustrecken und Arganth zu erwürgen, obwohl sie es sehr gern getan hätte, und sei es nur, weil er ein so hässlicher kleiner Mistkerl war.

Und sie fragte sich, ob es ihr gelingen würde, auch Obould zu töten. Dieses Geschöpf, das dort vor ihr saß, verblüffte sie immer wieder, brachte sie immer wieder aus dem Gleichgewicht. Das war nicht mehr der greinende Ork, der ihr einmal Zwergenköpfe als Geschenk gebracht hatte. Das war nicht mehr der sich überschätzende und zum Untergang verurteilte Anführer, dem sie zu ihrer Erheiterung das Gefühl vermittelt hatte, er sei ein Verbündeter. Obould ließ sich im Westen Zeit mit seinem Kampf gegen die Zwerge und opferte kurzfristige, schnelle Siege für langfristigen Nutzen. Welcher Ork hätte je auf diese Weise gedacht?

Es kam Gerti so vor, als hätte Obould tatsächlich alles gut geplant, und was noch verblüffender war, es sah aus, als hätte er durchaus eine Chance auf Erfolg. Und das wiederum warf die Frage auf, was der Ork-König für die Eisriesen plante.

»Sie stinken wie Rothe-Dung in fauligem Wasser«, beschwerte sich Tos'un.

Trotz ihrer allgemein schlechten Laune widersprach Kaer'lic Suun Wett ihm nicht – ihre Nase ließ das nicht zu.

»Und Proffit ist der Stinkigste des ganzen Haufens«, fuhr Tos'un fort.

Kaer'lic warf ihm einen Blick zu, der ihn daran erinnern sollte, dass sie zwei Drow inmitten einer Armee von Trollen waren und es daher möglicherweise nicht empfehlenswert war, den Anführer dieser Geschöpfe so offen zu beleidigen.

»Vielleicht haben sie ihn ja deshalb zum Anführer gemacht«, sagte Tos'un. Die Priesterin konnte auch das nicht erheitern, denn sie fand die derzeitige Situation alles andere als amüsant. Besonders ärgerte sie sich über ihre eigene Unentschlossenheit.

Tos'un murrte weiter und begann, hin und her zu tigern. Dann blieb er plötzlich stehen und sah sich näher in der kleinen Höhle um, die Kaer'lic als ihre derzeitige Unterkunft gewählt hatte. Hier und da waren Zeichen in den Stein geritzt, und die Priesterin hatte ihr Ritualgewand bereitgelegt.

Als Tos'un sich ihr zuwandte, um sie fragend anzusehen, verbarg sie die Tatsache nicht, dass sie gerade begonnen hatte, diese Gewänder anzulegen, als er hereingestürzt war.

»Heute ist doch kein Ritualtag, oder?«, fragte er.

»Nein«, antwortete die Priesterin schlicht.

»Versuchst du vielleicht, unsere Gefährten zu finden?«

»Nein.«

»Suchst du nach Beschwörungen, um uns bei den Trollen zu helfen?«

»Nein.«

»Soll ich weiterraten? Oder ist es etwas, das du mir ohnehin nicht verraten würdest?«

»Nein.«

Tos'un hielt inne und sah sie an, offensichtlich nicht sicher, wie er die letzte Antwort interpretieren sollte.

»Ich bitte um Verzeihung, Hohe Priesterin«, sagte er sarkastisch und verbeugte sich auf eine Art, die seine Frustration deutlich zeigte. »Ich vergesse, dass ich nur ein Mann bin.«

»Ach, halt den Mund«, erwiderte Kaer'lic, ging zu ihren Gewändern und begann, sich weiter anzuziehen. »Ich bin genauso durcheinander wie du«, gab sie zu.

Sie lachte leise, als sie darüber nachdachte – warum sollte sie Tos'un nicht die Wahrheit sagen? Immerhin war er der einzige Drow, den sie in nächster Zeit sehen würde.

»Es überrascht mich nicht, dass Ad'non und Donnia sich davongemacht haben«, stellte Tos'un fest.

»Mich auch nicht«, erwiderte Kaer'lic. »Aber dass ich so durcheinander bin, hat nichts mit ihnen zu tun.«

»Womit dann? Mit Obould?«

»Er ist sicher Teil davon«, sagte die Priesterin. »So wie jede Einmischung seines tierischen Gotts.«

»Es war eine beeindruckende Zeremonie.«

Kaer'lic fuhr zu ihm herum, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass sie bis zur Taille nackt war.

»Ich fürchte, dass ich Lolth erzürnt habe«, gestand sie.

Tos'un schien das zunächst nicht zu begreifen, und er setzte zu einer Erwiderung an. Aber als sie ihn weiterhin anstarrte, verstand er und erschrak. Er sah sich um, als erwartete er, dass auf der Stelle ein Geschöpf des Abgrunds aus den Schatten springen und sie verschlingen würde.

»Wie meinst du das?«, fragte er unsicher.

»Ich weiß es nicht genau«, erwiderte Kaer'lic. »Ich weiß nicht einmal, ob meine Vermutung richtig ist.«

»Glaubst du, die Einmischung von Gruumsh Einauge war –«

»Nein, es war schon vor dieser Zeremonie«, gab Kaer'lic zu.

»Was also dann?«

»Ich fürchte, es hängt mit dem Rat zusammen, den du uns gegeben hast«, erwiderte Kaer'lic aufrichtig.

»Es liegt an mir?«, rief er erschrocken. »Was habe ich getan, das die Spinnenkönigin beeinflussen könnte? Ich habe nichts –«

»Du hast behauptet, es wäre besser, Drizzt Do'Urden aus dem Weg zu gehen, oder?«

Tos'un wich einen Schritt zurück und sah sich um wie ein in die Falle geratenes Tier.

»Ich fürchte, ich sitze im Netz meiner eigenen Vermutungen fest«, sagte Kaer'lic. »Vielleicht hat mich mein eigenes Widerstreben dagegen, mich dem Verräter zu stellen, Lolths Gunst gekostet, aber tatsächlich fürchte ich, dass es die Spinnenkönigin noch mehr erzürnen würde, wenn ich mich gegen Drizzt Do'Urden wenden und ihn töten würde.«

Tos'un sah aus, als könnte schon der leiseste Windhauch ihn umwerfen.

»Sie offenbart sich dir nicht mehr?«

»Ich habe Angst, es auch nur zu versuchen«, gab die Priesterin zu. »Es ist durchaus möglich, dass meine eigene Angst gegen mich arbeitet.«

»Deine Angst vor Drizzt?«, fragte er kopfschüttelnd und verstand offensichtlich gar nichts mehr.

»Ich bin schon vor langer Zeit bezüglich des Abtrünnigen aus dem Haus Do'Urden zu einem Schluss gekommen«, erklärte Kaer'lic. »Noch vor Oberin Baenres Marsch auf Mithril-Halle. Drizzts Name war uns nicht unbekannt, noch bevor du dich unserer kleinen Gruppe angeschlossen hast. Ich fürchte, viele unserer Priesterinnen sind, was ihn angeht, zu vollkommen falschen Schlüssen gelangt. Sie halten ihn für einen Feind der Spinnenkönigin.«

»Selbstverständlich«, sagte Tos'un. »Wie könnte er etwas anderes sein?«

»Aber er fördert das Chaos!«, warf Kaer'lic ein. »Auf seine eigene wunderbare Art hat Drizzt Do'Urden mehr Chaos in deine Heimatstadt gebracht als irgendwer vor ihm. Entspricht das nicht dem Willen von Lolth?«

Tos'un riss die Augen so weit auf, dass es schien, als würden sie gleich aus den Höhlen fallen.

»Du glaubst, dass Drizzt Do'Urden von Lolth inspiriert wurde?«, fragte er.

»Ja«, sagte Kaer'lic, und dann wandte sie sich ab. »Kluge Kaer'lic! Die Ironie in diesem Abtrünnigen zu sehen! Die Schönheit von Lolths Plan!«

»Es ergibt durchaus einen Sinn«, gab der Drow zu.

»Und ob ich nun Recht habe oder nicht, ich sitze in der Falle meiner eigenen Schlauheit«, sagte Kaer'lic.

Tos'un starrte sie neugierig an.

»Wenn ich Unrecht habe«, erklärte die Priesterin, »dann hätten wir den Abtrünnigen mit aller Kraft bekämpfen müssen, wie es Ad'non und Donnia inzwischen wahrscheinlich tun. Wenn ich Recht habe, dann habe ich einen Plan erkannt, der weit über alles …« Ihre Stimme verklang.

»Wenn du Recht hast, könnte schon die Tatsache, dass du das Rätsel von Drizzt gelöst hast, Lolths Pläne stören«, fuhr er für sie fort. Tos'un begann, den Kopf zu schütteln und zu zittern. »Und jetzt weiß ich es ebenfalls.«

»Du wolltest es wissen.«

»Aber …«, stotterte er. »Aber …«

»Wir wissen nichts wirklich«, erinnerte Kaer'lic ihn und hob abwehrend die Hand, um den bebenden Narren zu beruhigen. »Es ist alles nur Spekulation.«

»Dann sollten wir diese elenden Trolle ihrem Schicksal überlassen und uns um Drizzt kümmern, damit wir die Wahrheit erfahren«, schlug Tos'un vor.

»Um meine Entdeckung vollkommen zu enthüllen?«

Tos'un erkannte schnell, was sie meinte, und sein plötzlicher Eifer verschwand wieder. »Was dann?«, fragte er.

»Ich werde weitere Antworten suchen, während wir mit Proffit unterwegs sind«, erklärte Kaer'lic. »Ich muss den Mut finden, mich an Lolths Dienerinnen zu wenden, obwohl ich die Ränke der Spinnenkönigin und das Schicksal fürchte, das jene erwartet, die versuchen, ihre Pläne zu durchschauen.«

»Die Zeit der Unruhen war eine Zeit des größten Chaos in Menzoberranzan«, sagte er. »Das Haus Oblodra versuchte, sich zum Ersten Haus aufzuschwingen und hätte dieses Ziel auch beinahe erreicht, denn ihre psionischen Kräfte funktionierten weiter, während die Magie aller anderen zu versagen schien. Selbstverständlich hat Lolth schließlich das Flehen von Oberin Baenre erhört… ich habe niemals eine solche Katastrophe erlebt, wie sie Oblodra befallen hat!«

Kaer'lic nickte, denn er hatte ihr und den anderen diese Geschichte schon zuvor in allen blutigen Einzelheiten erzählt.

»Es sind verwirrende Zeiten«, sagte sie. »Und als würden meine Ängste wegen Lolths Absichten mit Drizzt Do'Urden nicht genügen, werden wir nun auch noch Zeugen wahrer Macht bei Ork-Schamanen.«

»Du hast Angst vor Obould!«, stellte Tos'un fest.

»Es wäre ratsam, bei ihm vorsichtig zu sein.« Kaer'lic versuchte nicht einmal, es abzustreiten. »Und nicht, weil er plötzlich körperlich so viel stärker und schneller ist. Nein, wir müssen Obould gut im Auge behalten, weil er plötzlich Recht hat!«

»Vielleicht haben wir die Gaben, mit denen Gruumsh ihn bedacht hat, falsch eingeschätzt. Vielleicht haben die Schamanen ihn mit mehr als nur Muskeln und Schnelligkeit versehen«, sagte Tos'un. »Ist es möglich, dass diese Zeremonie ihm auch die Gabe der Einsicht verliehen hat?«

»Zumindest hat er seine Prioritäten verändert«, sagte Kaer'lic. »Er hat seinen Zorn und seine Gier aufgegeben und verfügt nun über mehr Vernunft, als ich je von diesem Schweinsgesicht erwartet hätte. Man muss sich nur ansehen, was wir hier gerade machen – man muss nur sehen, wie einfach und vollständig Obould Proffit und seine Trolle ausnutzt. Wenn Obould die Region sichern und weiterhin Verbündete in den Bergen gewinnen kann und dabei sein Bündnis mit Proffit festigt, könnte es ihm durchaus gelingen, hier im Norden einen Ork-Staat zu schaffen. Kannst du dir vorstellen, dass Obould und seine Leute einen ähnlichen Status erlangen wie Silbrigmond und Sundabar und dass er am Ende sogar Handelsverträge erzwingen kann?«

»Wir reden hier von Orks!«, protestierte Tos'un.

»Sie sind plötzlich zu schlau für Orks«, klagte Kaer'lic. »Wir sollten diese Entwicklung lieber im Auge behalten und Obould derzeit nicht gegen uns aufbringen.«

Erneut waren die beiden Drow über ihre eigenen Schlüsse erschrocken; sie waren es wieder und wieder durchgegangen, aber jedes Mal kamen sie zu dem gleichen verblüffenden Ergebnis.

»Ich wünschte, Ad'non und Donnia hätten sich nicht davongemacht«, jammerte Tos'un. »Im Augenblick wäre es sicher das Beste, wenn wir alle zusammen wären.«

»Um den Rückzug anzutreten?«

»Wenn es nötig sein sollte«, gab der Krieger aus dem Haus Barrison Del'Armgo zu. »Denn wie und wo werden wir in Oboulds Königreich hineinpassen?«

»So weit wie möglich davon entfernt«, antwortete Kaer'lic. »Aber hab keine Angst, wir werden schon unseren Spaß haben. Selbst wenn Obould sein Ziel erreichen und die Region siehern sollte, wie lange wird dieses Ork-Königreich bestehen? Wie lange hatte Obould die Zitadelle Felbarr in seinem Besitz? Es wird schon bald alles wieder zerfallen, und wir werden dabei gewaltigen Spaß haben, solange wir listig und vorsichtig vorgehen.«

Aber noch während die Priesterin diese Worte aussprach, war sie erschüttert von ihrem eigenen Mangel an Überzeugung. Was war beunruhigender – die Frage, welche Macht hinter dem Abtrünnigen Do'Urden stand, oder die Ork-Zeremonie und Oboulds wachsende Fähigkeiten?

»Richtig, man sieht ja, wie viel Spaß wir jetzt haben«, stellte Tos'un sarkastisch fest.

»Ich weiß, die Trolle riechen widerlich«, gab Kaer'lic zu. »Aber wir sollten sie durch die Gänge nach Mithril-Halle führen, wie Obould es will. Wir halten uns allerdings zurück, was den Kampf angeht – sollen die Trolle und die Zwerge einander doch umbringen. Was interessiert es uns schon, welche Seite siegt?«

Tos'un dachte einen Augenblick über diese Bemerkung nach, dann nickte er zustimmend. Er sah sich in der hastig dekorierten Höhle um.

»Glaubst du, dass du wieder Zuversicht in Lolths Gunst finden wirst?«, fragte er.

»Wer weiß schon, was Lolth will?«, sagte Kaer'lic, und ihre Niedergeschlagenheit war ihr deutlich anzuhören. »Dieses Geheimnis um den Abtrünnigen beunruhigt mich zutiefst. In dieser Zeit des Chaos bin ich die wichtigste Vertreterin von Lady Lolth im Machtbereich von Gruumsh Einauge. Wenn ich durch meine Schlauheit oder Dummheit meine eigene Stellung aufs Spiel gesetzt habe, würde das auch Lady Lolth die Position, die ihr bei dieser hinreißenden Eroberung zusteht, nehmen.«

»Vielleicht lässt sich das Problem ja auf einer ganz persönlichen Ebene lösen«, sagte Tos'un mit einem tückischen Grinsen.

»Ich bin noch nicht bereit, mich mit diesem Gedanken anzufreunden und hinter Drizzt Do'Urden herzujagen«, erwiderte Kaer'lic. »Wenn Lolth wegen meines Misstrauens zornig auf mich ist, dann werde ich Anleitung brauchen, und ich muss unbedingt ihre Gunst zurückgewinnen.«

Tos'un nickte und sah sich noch einmal um.

»Ich wünsche dir alles Gute bei deiner Suche«, sagte er. Dann wandte er sich zum Gehen und fügte noch hinzu: »Um unserer beider willen.«

Kaer'lic freute sich über diese letzte Bemerkung und nachträglich auch darüber, dass sie dem Krieger von ihrer Schwäche erzählt hatte. Normalerweise würden Dunkelelfen einem anderen keinen Vorteil einräumen, weil sie stets einen Dolchstoß in den Rücken befürchteten. Könnte Tos'un vorhaben, Lolths Gunst zu erwerben, indem er Kaer'lic tötete? Die Priesterin schob diesen beunruhigenden Gedanken beiseite und erinnerte sich, dass ihre kleine Bande nicht gerade typisch für Dunkelelfen war. Die vier verließen sich mehr aufeinander, als es unter Drow üblich war, was Verteidigung, Profit und sogar Kameradschaft anging. Wie schrecklich ihr derzeitiger Auftrag ohne Tos'un an ihrer Seite wäre! Und er empfand ebenso, das wusste sie, und das hatte sie schließlich zu der Überzeugung geführt, dass es akzeptabel wäre, ihm die Wahrheit zu sagen.

Denn wenn es etwas Persönliches war und Lolth ihr tatsächlich ihre Gunst entzog, weil sie sich bewusst von Drizzt Do'Urden abgewandt hatte, würde sie Tos'uns Hilfe brauchen – und die von Ad'non und Donnia, wenn man den Ruf des Abtrünnigen ernst nahm.

Ja, Kaer'lic dachte ganz ähnlich wie Tos'un. Sie wünschte, die beiden anderen hätten sich nicht davongemacht.

»Was ist denn?«, fragte Gerti, als sie die große Höhle neben dem Fluss betrat, die Obould zu seinem derzeitigen Quartier erklärt hatte. Der Ork-König saß auf einem Stein an der Seite, den Kopf in die Hand gestützt, das hässliche Gesicht zu einer besorgten Miene verzogen – Gerti hatte ihn seit dieser merkwürdigen Zeremonie nicht mehr so beunruhigt gesehen.

»Nachricht aus dem Norden«, erklärte Obould. »Der Rotpeitschen-Stamm ist aus dem Grat der Welt gekommen, um sich uns anzuschließen.«

Schon seine Wortwahl erinnerte Gerti daran, dass er nicht mehr der Ork-König war, der einmal unter kriecherischen Verbeugungen in ihrer Höhle gekommen war.

Obould blickte zu ihr auf und sagte: »Sie wurden zurückgetrieben.«

»Zurückgetrieben?«, fragte Gerti, und ihre Stimme wurde schneidend. »Sind deine Leute schon wieder in ihre selbstzerstörerischen Gewohnheiten zurückgefallen? Bereiten sie einen Gegenangriff vor, bevor sie auch nur gesiegt haben?«

»Sie wurden von Elfen zurückgetrieben«, erwiderte Obould säuerlich, und dann starrte er die Riesin wütend an – eine offene Drohung.

»Die Elfen haben den Surbrin überquert?«, fragte die Riesin ohne allzu große Unruhe.

»Sie wurden von zwei Elfen zurückgeschlagen. Und von einem Drow«, erklärte Obould. »Kommt dir das irgendwie vertraut vor?«

»Diese Rotpeitschen-Orks – ein kleiner Stamm?«

»Zählt das denn?«, erwiderte Obould. »Sie werden jetzt in die Höhlen zurückrennen und andere warnen, die ebenfalls daran dachten, sich uns anzuschließen.«

»Aber Arganth verbreitet überall die Geschichten von Oboulds ruhmreichen Siegen«, sagte Gerti, »und Obould ist Gruumsh, oder?«

Als Obould die Augen zusammenkniff, wusste Gerti, dass er ihren Sarkasmus durchaus bemerkt hatte, und sie freute sich darüber. Sie würde ihn jetzt vielleicht nicht direkt angreifen, aber zumindest konnte sie ihn wissen lassen, dass sie alles andere als beeindruckt war.

»Du solltest die Vorteile, die Arganth und seine Schamanen uns gebracht haben, nicht unterschätzen«, warnte Obould.

»Uns oder Obould?«

»Uns beiden«, erklärte der Ork entschieden. »Die Stimmen der Schamanen hallen tief in den unterirdischen Gängen wider. Ich habe vielleicht fünfzehntausend Orks und tausende Goblins in meiner Armee, aber uns stehen immer noch zehnmal so viele zur Verfügung, wenn wir sie herauslocken können. Wir können nicht zulassen, dass unsere Feinde den Rückzug einiger weniger in einen taktischen Vorteil verwandeln.«

Gerti hätte gerne widersprochen – überwiegend, weil sie allem widersprechen wollte, was Obould sagte –, aber sie musste feststellen, dass sie keinen Fehler an seiner Argumentation finden konnte. »Was wirst du also tun?«, hörte sie sich selbst fragen.

»Die Vorbereitungen hier sind gut vorangekommen, also nehmen wir den größten Teil unserer Streitkräfte mit und kehren sofort zurück nach Nordwesten«, kündigte Obould an. »Wir schicken einige los, um Urlgen zu helfen, damit er weiterkämpfen kann, solange die Zwerge dumm genug sind, auf ihrer Klippe zu bleiben und zu kämpfen. Es ist ohne Bedeutung, wie viele Leute er verliert; wir können uns Verluste eher leisten als die Zwerge. Ich selbst hatte vor, mich sofort nach Westen zu wenden und diesen Ort, den die Zwerge Tal der Hüter nennen, in die Zange zu nehmen und sie nach Mithril-Halle zu treiben. Aber nun werde ich mich zunächst mit Arganth und ein paar anderen nach Norden begeben, um mich um dieses Problem zu kümmern.«

Gerti sah ihn misstrauisch an und versuchte nicht einmal, ihre Befürchtungen zu verbergen.

»Ich erwarte, dass du mir ein paar von deinen Leuten mitgibst«, war Oboulds Reaktion auf diesen Blick. »Du kannst selbst mitkommen oder nicht, ganz wie du willst. Jedenfalls werde ich bald zwei Elfenköpfe und einen Drow-Kopf haben, um meine Kutsche damit zu schmücken.«

»Du hast nicht mal eine Kutsche«, stellte die Riesin fest.

»Dann werde ich eine bauen lassen«, erwiderte Obould, ohne mit der Wimper zu zucken.

Gerti antwortete nicht, sondern drehte sich einfach um und ging, und das allein sagte ihr genug über die Veränderung ihres Verhältnisses zu Obould. Zuvor war es immer der Ork-König gewesen, der nach Leuchtendweiß gekommen war, in Gertis eisiges Zuhause in den Bergen, um mit ihr zu sprechen, aber in der letzten Zeit war sie für gewöhnlich die Besucherin in Oboulds wachsendem Reich.

Mit diesem beunruhigenden Gedanken kehrte sie zurück ins Tageslicht, und in ihrem Geist erklang immer wieder das abfällige »Du kannst selbst mitkommen oder nicht«.

Gerti musste sich bewusst daran erinnern, dass es ein Fehler wäre, sich von Obould zu sehr in die Enge treiben zu lassen. Sie konzentrierte sich auf die Erkenntnis, dass sie den Ork-König wahrscheinlich würde töten müssen, wenn sein Selbstvertrauen noch weiter wuchs. Es kam darauf an, den richtigen Zeitpunkt zu finden, erkannte die Riesin. Sie musste Obould zunächst weitermachen lassen; sollte er doch die Zwerge in die Gänge treiben und beginnen, die Heldenhammer-Sippe aus ihrer Festung zu vertreiben, sollte er doch im Mittelpunkt eines Krieges mit den größeren Gemeinden im Norden stehen!

Wenn jemand stürzte, dann wollte Gerti, dass Obould derjenige war. Notfalls würde sie Obould früher oder später selbst zu Fall bringen und sich an seine Stelle setzen.

Sie würde es genießen, diesem dreisten, hässlichen Ork das Lebenslicht auszublasen.

Das musste sie sich immer wieder sagen.