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Textauszug aus: Adriana Popescu, Lieblingsgefühle (Piper Verlag, München 2014)

Ich trage ein schwarzes enges Kleid und fühle mich ein bisschen wie eine Figur aus Sex and the City. Beccie hat es sich nicht nehmen lassen, mir dabei zu helfen, heute Abend so auszusehen, als hätte ich einen Personal Trainer, einen Maskenbildner und eine Hairstylistin, und ich gebe es zu: Ich sehe heute wirklich gut aus, vor allem wenn man bedenkt, dass ich mit der vollen S-Bahn zur Stadtmitte und dann mit der Stadtbahn über den Österreichischen Platz zum Marienplatz gefahren bin. Und wenn man dann noch bedenkt, dass ich in diesen Schuhen durch den Schnee vom Marienplatz bis ins Café Galao gestolpert und geschlittert bin, muss man einfach sagen: Beccie ist ein Genie, denn ich sehe noch immer gut aus, verdammt gut sogar!

Aber das muss ich auch. Immerhin sind einige potenzielle Kunden und eventuelle Arbeitgeber hier. Das Café Galao ist bekannt für seine Ausstellungen und Musikevents, und ich kann es immer noch nicht ganz glauben, dass das nette Café sich dazu bereit erklärt hat, meine Stuttgart-Bilder auszustellen. Auch wenn ich vor lauter Nervosität nicht genau weiß, wohin mit meinen Händen, bin ich doch extrem stolz darauf, mich auf der Liste der Stuttgarter Künstler wiederzufinden, die hier bereits ihre ersten Erfolge feiern durften. Es fühlt sich gut an.

Aber jetzt schüttele ich erst einmal Hände und bin überrascht, wie viele Menschen der Einladung gefolgt sind. Ich erkenne viele Gesichter, fast alle meine Freunde sind hier, und Thomas ist sogar aus Österreich gekommen, weil er sich das nicht entgehen lassen wollte und einige seiner Songs zum Besten geben wird. Thomas Pegram singt live bei der Vernissage meiner eigenen Ausstellung! Wer immer mir das vor einigen Monaten gesagt hätte, hätte sicherlich nicht mehr als ein müdes Lächeln von mir bekommen. Doch jetzt stehe ich hier, und alles, was ich damals nicht zu wünschen wagte, ist Realität geworden.

Auf der anderen Seite des Cafés sehe ich Marco, der die ganze Organisation übernommen hat und mir jetzt stolz zuzwinkert. Er hat an mich geglaubt, und mich jetzt hier zu sehen, macht ihn ganz offensichtlich glücklich. Ich weiß nicht, womit ich ihn verdient habe, aber ich bin ihm unendlich dankbar. Ich forme stumm das Wort »Danke«, und er nickt nur grinsend.

Da berührt eine Hand meine Schulter, und obwohl mich inzwischen schon einige Leute auf diese Weise begrüßt oder beglückwünscht haben, zieht sich mein Herz noch immer jedes Mal zusammen, wenn jemand neben oder hinter mir auftaucht und mich so berührt. Dafür gibt es aber auch einen guten Grund: Er hat versprochen zu kommen.

»Hi.«

Aber er ist es wieder nicht. Trotzdem stiehlt sich ein Lächeln auf meine Lippen. Ich drehe mich zu dem Mann hinter mir um und weiß, dass ich die Stimme und auch das Gesicht nur zu gut kenne. Immerhin waren wir jahrelang ein Paar.

»Hallo, Oli.«

Er sieht wie immer gut aus, in seinem dunkelgrauen Anzug und dem hellen Hemd. Die Haare sind etwas länger, und er scheint sie nicht mehr mit einer seriösen Banker-Frisur zu zähmen. Seine blonden Locken dürfen sich sogar leicht wellen. Hübsch. Dieser eher lässige Business-Look steht ihm gut.

Ich bemerke, dass wir uns freundlich anlächeln, uns ansonsten aber nur stumm gegenüberstehen. Das ist doch albern. Also mache ich einen kleinen Schritt auf ihn zu und nehme ihn fest in den Arm.

»Schön, dass du da bist.«

Zu meiner Erleichterung hält er mich ebenfalls fest an sich gedrückt. Zwischen uns ist alles okay. Gut, das freut mich. Es hätte nachdem, was vor einem halben Jahr passiert ist, auch anders ausgehen können. Er lässt mich wieder los und strahlt mich an.

»Tolle Ausstellung.«

»Danke.«

Sein Lächeln wird zu einem wissenden Grinsen.

»Aufgeregt?«

»Ja. Ich bekomme gleich einen Herzinfarkt.«

Er kennt mich gut genug, um zu wissen, wie ungerne ich im Mittelpunkt stehe und wie nervös ich wirklich bin.

»Das musst du nicht. Die Leute sind begeistert, und du siehst … wirklich bezaubernd aus, Layla.«

Seine Stimme klingt vertraut, aber ein solches Kompliment aus seinem Mund erscheint mir doch irgendwie fremd. Als wir noch zusammen waren, fiel es ihm viel schwerer, so etwas zu sagen.

»Danke. Du siehst auch toll aus. Nette Frisur.«

Er fährt sich durch die Haare und lächelt verlegen. Er hat sich im letzten halben Jahr wirklich verändert. Er wirkt irgendwie entspannter.

»Deine Fotos sind wirklich toll. Sie … berühren einen, tief. So habe ich Stuttgart noch nie gesehen.«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, denn ich kann noch nicht ganz glauben, was ich da eben aus seinem Mund gehört habe. Das war ein ziemlich großes Kompliment für meine Arbeit, und er meint es ernst. Das erkenne ich in seinem Blick.

»Danke, Oli.«

Wir stehen schweigend zusammen, er betrachtet die Bilder hinter mir und schenkt ihnen ehrliche Aufmerksamkeit. Meine Muskeln verkrampfen sich leicht. Ich wette, er wird mir doch gleich wieder sagen, was ich noch verbessern könnte und was dem Foto noch fehlt.

»Sie sind perfekt.«

So fasziniert, wie er meine Bilder anstarrt, starre auch ich ihn an. Wer ist dieser Mann? Und was hat er mit meinem Ex-Freund gemacht? Er bemerkt meinen Blick und lächelt mich entwaffnend an.

»Ich bin stolz auf dich, Layla.«

Bevor ich etwas erwidern kann, nickt Oliver mir zu, tätschelt mir die Schulter und lässt mich wieder alleine mit meinem Erfolg – und auch mit dem Nachhall seiner Worte in meinem Kopf. Er ist stolz auf mich. Auch wenn es albern und vollkommen dämlich ist: Es tut gut, das zu hören. Manchmal muss man offenbar einfach mal ein halbes Jahr warten und um die halbe Welt reisen, um das zu bekommen, was man sich jahrelang so sehr gewünscht hat. Wer hätte das gedacht?

Plötzlich steht Beccie neben mir, drückt aufgeregt meinen Unterarm und holt mich damit zurück in die Realität. Sie strahlt mich an und scheint den Trubel um uns herum ebenso wenig fassen zu können wie ich: Ja, wir stehen hier zusammen in tollen Kleidern auf meiner ersten echten Ausstellung.

»Das ist der Hammer. Der absolute Hammer. Schau dich mal um: Alles, was Rang und Namen hat, ist hier. Wahnsinn!«

Sie greift nach einem Glas Sekt und schaut sich die zahlreichen Besucher mit einem breiten Grinsen an.

»Und ich kann allen sagen, dass ich dich schon vor deinem großen Durchbruch kannte.«

»Großer Durchbruch, klar.«

Sie sieht mich pikiert an.

»Wie würdest du es denn sonst nennen?«

»Zufall? Glücksfall? Missverständnis?«

»Quatsch. Du hast dir das erarbeitet. Und die Ausstellung mit deinen Reisebildern nächstes Jahr hast du dir auch verdient. Niemand hat dir was geschenkt. Das ist kein Glück, Süße. Das ist harte Arbeit und Talent. Und ich bin stolz auf dich.«

Ich lächle sie an, weiß aber auch, dass mich alle hier im Raum durchschauen werden. Spätestens in drei Minuten. Dann werden sie sehen, dass ich nicht das Zeug zur echten Fotografin habe. Dann lassen sie mich fallen, nehmen mir meine Eintrittskarte für den Club der »coolen Stuttgarter« wieder weg und schicken mich auf Abi-Feten, um wieder betrunkene Kinder zu knipsen. Diese Angst breitet sich immer weiter in meinem Inneren aus, aber noch ist es nicht so weit. Noch kann ich den Moment genießen. Noch sollte ich den Moment genießen, bevor er vorbei ist.

Wir mischen uns etwas unter die Menschen, plaudern, nicken ihnen zu, und ich nehme mit immer roter leuchtenden Wangen immer unglaublichere Komplimente an. Vor einem Bild bleiben wir schließlich stehen. Es zeigt einen jungen Mann in einer tanzenden Menschenmenge, die Augen geschlossen. Es ist das Herzstück dieser Ausstellung, die den Titel »Stuttgart – einzigartig vielseitig« trägt. Ich sehe ihn und muss lächeln. Ohne ihn gäbe es die Fotos nicht. Ohne ihn gäbe es vieles nicht. Ich betrachte das Foto und stelle erneut fest, wie vertraut mir sein Gesicht geworden ist. Ich atme tief durch. Gleich müsste er da sein. Wir werden uns wiedersehen. Zum ersten Mal seit … viel zu langer Zeit.

»Er ist gleich hier.«

»Ich weiß.«

Und ich weiß, dass ich nicht weinen darf, wenn ich ihn gleich sehe. Schon alleine, weil ich Beccie das nicht antun könnte. Mein Augen-Make-up hat mehr als eine Stunde gedauert, und es sieht ohne verwischte Tränenspuren einfach besser aus.

Ich muss daran denken, wie er so urplötzlich in meinem Leben war. Durch einen dummen Zufall, und dann hat eines das andere ergeben. Wir saßen im Park und haben Burger gegessen, in den Weinbergen beim Württemberg eine unglaubliche Nacht mit Sternschnuppen und Wahrheit oder Pflicht verbracht. Wir sind uns mit jeder gemeinsamen Minute nähergekommen. Ich habe eine 180-Grad-Drehung in meinem Leben hingelegt, habe alles Vertraute und Gewohnte hingeworfen, um meinem Traum zu folgen. So etwas kann man nicht alleine. Dafür braucht man Flügel, und die wachsen nicht über Nacht, die werden einem geschenkt.

»Ich freue mich so auf ihn. Weißt du, ohne ihn wäre das alles hier nicht möglich gewesen. Das mag kitschig klingen, aber er hat mir den Mut gegeben, dass ich mir all das zutraue.«

»Ja, das klingt wirklich kitschig.«

Jetzt muss ich grinsen, und sie nimmt mich in den Arm.

»Und im Gegenzug hast du ihm gezeigt, dass das Leben auch für ihn noch neue Träume zu bieten hat. Ihr seid also quitt.«

Das hoffe ich.

»Ich habe ihn so vermisst.«

Wenn man Tristan kennenlernt und ihn so sieht, wie ich das durfte, dann will man ihn für immer in seinem Leben haben.

»Ihr werdet euch ja gleich wiedersehen, Layla. In der Zwischenzeit kannst du ein bisschen mit potenziellen Geldgebern schäkern.«

Beccie gibt mir einen Kuss auf die Wange und lässt mich dann alleine. Aber ich kann jetzt mit niemandem reden. Es ist schon nach neun Uhr und somit an der Zeit, dass ich mich einem unschönen Gedanken stellen sollte, den ich bisher ordentlich verschnürt, tief in meinem Hinterkopf gefangen gehalten habe. Er gefällt mir wirklich nicht, aber schön langsam sollte ich ihn zulassen. Und da ist er: Vielleicht ist es einfach noch zu früh. Immerhin hat er Stuttgart wegen all der Erinnerungen an Helen das letzte halbe Jahr gemieden, und dass ich hier die Fotos ausstelle, die ich von den Lieblingsplätzen seiner toten Freundin gemacht habe, macht die Sache nicht leichter. Was, wenn er noch nicht so weit ist? Was, wenn er es sich anders überlegt hat? Was, wenn er … doch nicht kommt?

Während ich noch einmal auf das Bild schaue, mit dem alles angefangen hat, fahren meine Emotionen Karussell, und mit ihnen alles, was sich die letzten sechs Monaten angestaut hat: die Zweifel, die Freude, die Angst, die Aufregung, einfach alles. Am Ende bleiben die Ungewissheit und die Dankbarkeit, für alles. Auch wenn Tristan nicht kommt, ist er hier. Er ist überall, in jeder einzelnen meiner Fotografien.

»Danke.«

Ich flüstere es nur, weil ich nicht will, dass jemand außer mir das hören kann.

Dann mache ich mich auf den Weg an die Bar und bestelle mir einen exklusiven dunkelroten Cocktail, dessen Namen ich vergessen habe, der aber der Dramatik des Moments angemessen scheint. Natürlich suche ich den Raum nach ihm ab, während ich auf den Drink warte, aber er ist noch immer nirgendwo zu sehen.

Um mich herum wird es etwas ruhiger, und ich wundere mich schon, was passiert sein könnte, da höre ich, wie Thomas einen seiner Songs mit der Gitarre spielt. Ich erkenne das Lied sofort, und er hat nicht zu viel versprochen: Es bietet wirklich genau in diesem Moment die perfekte Kulisse für meine Fotos – und für meine Gefühle.

Die Sterne strahlen nur für dich.

Ich hoffe, du hast klare Sicht.

Will sie nicht sehen ohne dich,

hoffe, du auch nicht ohne mich.

Vielleicht ist es verrückt, aber dieser Moment, so wunderschön er auch ist, könnte nur dann zu einem Lieblingsmoment werden, wenn Tristan hier wäre und wir ihn teilen könnten. Immerhin ist es eigentlich unsere Ausstellung.

Der Countdown läuft, noch 7 Tage,

dann schließ ich dich in meine Arme.

Ich will nicht hier sein ohne dich,

hoffe, du auch nicht ohne mich.

Der Barkeeper stellt mir zwei kleine Gläser vor die Nase. Es sind zwei Schnäpse, und ich hoffe, dass ich nicht den Eindruck erwecke, den Abend nur in Begleitung von Hochprozentigem zu überstehen.

»Entschuldigung, das habe ich nicht bestellt.«

»Ich weiß.«

»Ja und jetzt?«

»Ich soll auch noch etwas ausrichten.«

»Was denn …«

Meine Nackenhaare stellen sich auf. Mein Herz pocht, und ich spüre, wie mein Mund plötzlich ganz trocken wird. Noch immer starre ich auf die beiden Gläser Schnaps vor mir. Erinnerungen an eine blutende Wunde, an meine blöde Erste-Hilfe-Idee und an meine erste Begegnung mit Tristan schießen mir durch den Kopf. Es fühlt sich an wie das letzte Puzzlestück, das das Bild komplett macht, und ich spüre ein Kribbeln auf meiner Haut, während zahllose Schmetterlinge in meinem Inneren zeitgleich schlüpfen, als hätten sie sechs Monate auf genau diesen Moment gewartet. Da ist es wieder, das Flügelschlagen. Nichts hat sich verändert, rein gar nichts.

»Einer für den Erfolg und einer gegen den Schmerz.«