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Ich habe die Bilder vor mir auf dem Tisch in meinem Büro ausgebreitet. Es sind fünfzehn Stück, nur die besten Fotos. Die Auswahl hat mich die halbe Nacht gekostet, was erklärt, wieso ich bereits meine zweite Tasse Kaffee trinke. Und unsere Couch eignet sich zwar hervorragend für das Rumlümmeln an einem entspannten Wochenende, aber für einen wohligen Schlaf von Sonntag auf Montag ist sie nicht wirklich geeignet. Vielleicht hat mir auch nur mein Kissen gefehlt. Bevor Olivers Wecker auch nur einen Laut von sich geben konnte, war ich schon zur Tür hinaus. Ich musste die Fotos aus meinem digitalen Ordner befreien und in die Welt holen. Mein Drucker hat mir die Fotos nun in einer guten Qualität ausgespuckt – natürlich geht es noch besser, aber das muss es noch nicht. Noch befinde ich mich im Vorstadium und freue mich umso mehr auf die nächsten Schritte. Jetzt wird es erst richtig spannend, jetzt kribbelt es im Bauch und steigt dann hoch, immer höher, immer schneller. Und wenn alles gut wird, dann explodiert die Kreativität zum perfekten Zeitpunkt mit einem lauten und bunten Knall.

Ich habe Beccie angerufen und ihr gesagt, es gäbe keine Ausreden. Wir würden heute zusammen zu Mittag essen. Ich fürchte, dass ich sie geweckt habe, denn sie wirkte noch nicht wirklich ansprechbar – an einem Montagmorgen in den Semesterferien, um kurz vor acht Uhr. Wieso ich so voller Elan bin, kann ich mir selbst nur schwer erklären. Für gewöhnlich liebe ich die ruhigen Momente in meinem Bett, nachdem Oliver zur Arbeit aufgebrochen ist und ich die Wohnung, das Bett und den Morgen ganz für mich alleine habe. Heute konnte ich kaum warten, bis der Tag anbrach, um ins Büro zu eilen, Fotos auszudrucken und sie jetzt in aller Ruhe zu betrachten.

Einige sind überraschend gut, andere strahlen eine Energie aus, die ich lange nicht mehr in diesen vier Wänden gespürt habe. Ich sehe zu dem Bild an der Wand, im Rahmen, meine Großmutter, die vor sich hin sinniert. Ich muss lächeln.

Dann setzte ich mich an meinen Computer, schreibe einige alte Kontakte an, die ich viel zu sehr vernachlässigt habe, die meisten ebenfalls Fotografen. Manche von ihnen werden mit ziemlicher Sicherheit überrascht sein, eine E-Mail von mir zu bekommen.

Natürlich muss ich bei Facebook checken, was die Welt so treibt, und einige meiner Freunde haben wie ich den Mund voller Gold – sprich: Sie sind schon wach, teilen sich der Welt fröhlich mit, und ich schmunzele einmal mehr bei so manch einer schwachsinnigen Statusmeldung. Nur einer bleibt stumm. Keine Nachricht von Tristan. Seine Seite wird noch immer nur von Björn belagert. Ich beschließe, mir diesen Björn mal etwas genauer anzusehen. Bisher hat er mich nicht interessiert, aber wie es aussieht, muss es sich um Tristans besten Freund handeln. Den letzten Freund, der sich noch auf seine Pinnwand verläuft.

Björn legt, anders als Tristan, nicht so viel Wert auf Privatsphäre, wie mir scheint. Ich kann seine Fotos einsehen, seine Pinnwand lesen und sogar drei seiner Videos in aller Ruhe ansehen. Er scheint gerne auf Konzerte zu gehen, immer sieht man ihn jubelnd oder tanzend in der Menge, während Lichteffekte über sein Gesicht flackern.

Außerdem ist er ganz offensichtlich ein sportbegeisterter Mensch, denn 80 Prozent seiner Einträge drehen sich um Fußball, Klettern, Biken und Boarden. Er hat knapp über 400 Freunde und scheint mit allen einen guten Kontakt zu pflegen. Auch Tristan hat ihm das ein oder andere Mal auf die Pinnwand geschrieben. Sie scheinen sich schon lange zu kennen, denn bei Björns Fotos finde ich tatsächlich ein Klassenfoto aus dem Jahre 1990. Tristan ist als braver Schüler in der zweiten Reihe zu erkennen. Gut, »zu erkennen« ist vielleicht etwas zu viel gesagt. Die Verlinkung auf dem Foto zu seinem Facebook-Profil hilft mir beim Erkennen enorm, und ich muss grinsen. Er war ein süßer Junge, schmächtig, unauffällig und mit einem schüchternen Grinsen. Björn hingegen scheint damals schon zu wissen, dass ihm die Mädchenherzen einmal zufliegen werden. Er wirkt lässig und entspannt, ein bisschen überheblich, aber die freche Igelfrisur macht es schwer, ihn nicht auf Anhieb zu mögen. Viele Fotos zeigen die beiden zusammen, wie sie verschiedene Altersklassen durchleben. Auf manchen erkenne ich … Helen, und sofort verkrampft sich mein Magen. Als Teenager. Sie wirkt so nett. Ihr Lachen steckt an, und dabei habe ich es noch nie gehört. Es muss sich um eine eingeschworene Clique handeln, die sich schon seit der Schulzeit kennt. Es gibt Urlaubsfotos von den dreien zusammen, an verschiedenen Orten. Helen und Tristan sind ein unglaublich süßes Paar. Wenn sie berühmt wären, dann würde niemand mehr über David und Victoria Beckham sprechen, die könnten dann getrost einpacken. Da lande ich mit einem Mal hart auf dem Boden der Tatsachen. Wie konnte ich auch nur eine Sekunde glauben, dass Tristan Helen betrogen oder vielleicht sogar verlassen hätte, wenn ich mich am Palast anders entschieden hätte? Wenn ich die beiden sehe, sehe ich Liebe. Für Layla ist da kein Platz.

Ich schließe die Seite wieder und versuche, meine Konzentration erneut auf das Wesentliche zu richten: die Fotografie. Zwischen mir und Tristan wird niemals die Grenze von der Freundschaft zur Liaison überschritten werden. Trotzdem ist es mit Tristan mehr als eine normale Freundschaft. Auch wenn wir uns gerade nicht sehen, habe ich ihm die Bilder vor mir zu verdanken. Deswegen werde ich ihm einfach eine neue Rolle zuteilen. Eine sehr egoistische Rolle: Er ist von nun an meine Muse. Ich kann ihn anhimmeln und mich von ihm zu neuen Höchstleistungen anspornen lassen, ohne ihm und Helen gefährlich zu werden. Wieso sollte nur Lagerfeld das Recht haben, sich mit schönen Menschen zu umgeben, um von ihnen die Inspiration für neue Werke zu erhalten? Mir steht dieses Recht als Künstlerin ebenso zu. Und deswegen wird Tristan jetzt meine Muse. Seine Worte, seine Anregungen werden mich führen, sie werden mich wieder in die Nähe meines Traumes bringen. Mit seiner Hilfe habe ich wieder die Kraft, meiner Leidenschaft nachzugehen.

Solange sich meine Muse allerdings in Frankreich vor mir versteckt, brauche ich jemanden anderen, der mir ordentliches Feedback zu meiner Arbeit gibt: Marco.

Ich schnappe mir das Telefon und rufe meinen alten Freund an. Ebenfalls ein Fotograf. Ich kenne ihn schon seit einer halben Ewigkeit und auch gut genug, um zu wissen, dass er sein morgendliches Yoga bereits hinter sich gebracht hat. Bestimmt ist er um diese Uhrzeit auch ansprechbar.

Seine Nummer ist noch immer in meinem Gedächtnis gespeichert. Ich tippe sie, ohne nachdenken zu müssen, und warte dann. Früher sind wir fast jedes Wochenende gemeinsam um die Häuser gezogen und haben nicht nur ein spontanes Shooting veranstaltet, dann habe ich Oliver kennengelernt, und mein lieber Freund Marco ist der anfänglichen Verliebtheit zum Opfer gefallen.

»Marco Zorelli, hallo?«

»Hallo, Marco! Ich bin es, Layla.«

Inständig hoffe ich, dass er noch weiß, wer ich bin. Die Erinnerungen an unsere gemeinsamen Fotosessions sind noch lebhaft in meinem Bewusstsein vorhanden. Vor allem das, bei dem wir um fünf Uhr morgens nach einer durchtanzten Nacht auf dem Dach eines Parkhauses die ersten Sonnenstrahlen einfangen wollten. Was, wenn er mich aber vergessen hat?

»Layla Desio?«

»Genau die.«

»Layla Desio, die mir vor über vier Jahren versprochen hat, mir ihre neuen Fotos zu schicken, sobald sie endlich wieder die Muse geküsst hat?«

Tatsächlich habe ich das. Aber dass es schon so lange zurückliegt, war mir nicht mehr bewusst.

»Ja, gut Ding will Weile haben, oder etwa nicht? Die Muse hat sich ein bisschen Zeit gelassen, aber das Warten hat sich gelohnt.«

»Dann müssen die Bilder aber verdammt gut geworden sein.«

Und sofort fühlt es sich mit ihm wieder so an, als hätten wir uns gestern erst gesehen und bei einem Kaffee über Gott und die Welt unterhalten.

Ich höre, wie er sich eine Zigarette anzündet.

»Marco, wolltest du nicht schon vor Jahren mit dem Rauchen aufhören?«

»Sicher, aber dann hat mich die verzweifelte Warterei auf deine Bilder erneut in die Nikotinsucht getrieben.«

Und wie damals bringt er mich auch heute innerhalb von weniger als einer Minute zum Lachen.

»Schuldig im Sinne der Anklage. Aber du kannst jetzt wieder aufhören, weil ich wieder ein paar Fotos habe, die ich dir gerne zeigen würde. Das Warten hat ein Ende.«

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich mir nicht immer mal wieder deine Fotos angesehen habe, die du in der Zwischenzeit so gemacht hast, oder? Interessanter Genrewechsel übrigens.«

Es klingt nicht wie ein Vorwurf. Es ist nur eine Feststellung. Marco kannte mich und meine Arbeiten nun mal einfach, bevor ich mich auf das Fotografieren von Events beschränkt habe. Er war eine Person, die immer große Pläne hatte und noch immer hat. Er war es, der mich damals für den Fotopreis angemeldet hat. Seine Bilder wurden damals schon in ganz Deutschland ausgestellt, und er hat mich oft spüren lassen, dass auch ich diesen Weg gehen könnte. Ich weiß nicht, wieso ich ihm nicht glauben wollte oder konnte.

»Ja, du weißt ja, das liebe Geld.«

Ich lache nervös, aber wenn ich jemanden mit diesen Floskeln nicht beeindrucken kann, dann ist es Marco. Er scheint zu merken, wie unangenehm mir das alles ist, und wechselt freundlicherweise das Thema.

»Nun, was hältst du davon, wenn du mir deine Fotos dann mal zeigst?«

»Es wäre mir eine Ehre. Wann hast du Zeit?«

Er blättert in einem Kalender, wie ich zu hören meine. Ich warte. Marco ist gefragt, beliebt, kaum anzunehmen, dass er einfach so für eine erfolglose Kollegin Zeit haben könnte, um sich deren Bilder anzusehen.

»Ich bin im Moment tatsächlich gut ausgebucht, aber vielleicht könntest du mir einen kleinen Gefallen tun?«

»Sicher. Welchen?«

»Das ist jetzt etwas spontan, aber … Ich bin heute Abend zu einem Konzert von Volkan, einem Freund von mir, eingeladen. Und siehe da – ich habe keine Begleitung. Wie klingt das?«

»Das klingt gut. Wenn du willst, hast du hiermit eine Begleitung.«

»Perfekt. Du bringst deine Fotos mit, wir gehen um acht im I love Sushi was essen und dann auf das Konzert.«

Und somit ist das ausgemacht. Ich vergesse zu fragen, was für ein Konzert das sein wird und ob ich mich in eine schicke Robe werfen soll. Bei Marco kann »ein Konzert« so ziemlich alles von New Age in einem ehemaligen Fabrikgebäude, Rock in einer Arena, bis hin zur Klassik in der Staatsoper bedeuten. Er ist Künstler durch und durch, offen für alles. Bloß was ziehe ich an? Turnschuhe oder Abendkleid? Ich werde im Notfall Beccie um modischen Beistand bitten. Das kann nur gut gehen. Oder unendlich schief.