kapitelaufmacher_Seite_14.jpg

Von Meersburg aus geht es dann weiter nach Friedrichshafen, wo wir eine kurze, wunderschöne Nacht in unserem Wohnmobil verbringen. Ganz ohne Kamera. Dafür mit viel nackter Haut. Am nächsten Vormittag kommen wir durch Lindau und an die österreichische Grenze – schon sind wir in einem weiteren Ländle: Vorarlberg.

Österreich fühlt sich direkt anders an. Das Urlaubsgefühl verstärkt sich, als wir uns in der Nähe von Bregenz einen netten Campingplatz suchen. Die Menschen hier wirken entspannt, sprechen einen angenehmen Dialekt mit Anklängen ans Schwäbische. Sie geben einem das Gefühl, willkommen zu sein. Auch Oliver kann sich dem Charme der Gegend nicht entziehen. Er will nur mal kurz seinen Kollegen Sandro anrufen und alles klären, ich könnte mich inzwischen ja entspannen. Das tue ich, während ich den Campingplatz inspiziere und mich wie in einem Heimatfilm fühle. Deswegen liebe ich mein Leben. Von Stuttgart aus ist man doch mit Leichtigkeit am Bodensee, wo so viele wunderbare Schätze auf einen warten und man beinahe das Gefühl bekommt, am Meer zu sein. Und nur einige Stationen später ist man schon im wunderbaren Österreich. Was will man mehr?

Ja, was? Ich schaue mich um und genieße den Ausblick, kann aber auch das Gefühl nach noch mehr Freiheit und Weite nicht unterdrücken. Der Bodensee fühlt sich inzwischen fast wie ein zweites Zuhause an, so oft waren wir schon hier. Alles scheint mir seltsam vertraut. Alles ist wie immer. Wie es wohl wäre, wenn ich plötzlich nicht hier, sondern am anderen Ende der Welt stünde? Ich bleibe stehen, schließe die Augen und stelle mir vor, jetzt irgendwo in Indien zu sein … Irgendwo im buntesten Treiben der Welt, mit tausend neuen Farben und fremden Gerüchen. Sofort habe ich das Bedürfnis, nach meiner Kamera zu greifen. Ich muss lächeln. Lust hätte ich schon darauf, einmal wo ganz anders zu sein, ganz andere Dinge zu sehen, eine völlig neue Welt kennenzulernen, aber Oliver würde bei dem Gedanken an eine Weltreise wahrscheinlich einen Schreikrampf bekommen. Egal. Heute bin ich in Österreich, in Bregenz, und heute Abend gibt erst mal richtig gute Musik. Darauf freue ich mich enorm. Vielleicht tanzt Oliver nach ein paar Bierchen sogar mit mir.

Aber Olivers Kollege Sandro scheint gänzlich andere Pläne für den Abend zu haben. Er hat offenbar großen Hunger, denn er hat einen Tisch in einem Restaurant reserviert, bei dem man mindestens vier Gänge bestellen und vertilgen muss. Er will über alte Zeiten plaudern und hält von Musikfestivals so viel wie der durchschnittliche Mann von Kastration. Zumindest klingt das, worauf Oliver am Telefon antwortet, stark danach. Er, der sich mit mir auf das Konzert und ein Treffen mit Thomas gefreut hat, wird ihm sicher gleich klarmachen, dass der Abend nach dem Essen bereits verplant ist.

»Sandro, warte kurz.«

Oliver dreht sich zu mir.

»Wir können doch auch ein anderes Mal auf ein Konzert, oder?«

Weil wir auch so oft zusammen auf Konzerte gehen. Ich scheine nicht nur über italienische, sondern auch über bulgarische Verwandte zu verfügen, nur so kann ich mir mein Nicken und meine innere Verneinung erklären. Oliver sieht mich überrascht an.

»Super. Sandro hat schon einen Tisch für uns reserviert.«

»Und Thomas hat Tickets zurücklegen lassen.«

»Aber ich habe Sandro ewig nicht gesehen, und das Restaurant klingt wirklich … erstklassig.«

»Weißt du, was erstklassig klingt? Die Musik von Thomas Pegram.«

»Schatz, dann geh du doch auf das Konzert, und ich gehe mit Sandro essen. Wir treffen uns danach einfach am Campingplatz. Was meinst du?«

Was ich meine? Ich meine, dass er unseren Plan ruiniert, hier zusammen Zeit zu verbringen. Ich meine, dass er sich wie ein Idiot benimmt und mich hier einfach so stehen lässt. Das meine ich. Es ist fast so, als hatte unser Gespräch beim Italiener nie stattgefunden.

Aber ich nicke wieder nur und beschließe, mir den Abend nicht kaputt machen zu lassen. Wenn er nicht mit mir gute Musik hören will, dann ist das seine Entscheidung.

»Danke.«

Oliver wirft mir einen Luftkuss zu und wendet sich wieder dem Telefon zu.

»Gern geschehen.«

Ich hole die Karten also alleine ab. Dabei ertappe ich mich dabei, wie ich dem freundlichen Herrn an der Abendkasse eine rührselige Geschichte über die plötzliche Erkrankung meines Partners erzähle, die erklären soll, wieso ich nur eine Karte abhole. Dabei müsste ich das gar nicht, aber es ist mir wichtig, dass der Mann mit dem typischen vorarlbergischen Akzent nicht denkt, Oliver hätte mich einfach so für einen Kollegen alleine gelassen. Obwohl er das hat.

Ich hole mir erst mal ein Bier, bin fast schon erleichtert über die spärliche Beleuchtung und suche mir dann einen Platz in der Nähe der Bühne. Die Stimmung ist gut. Zwar kenne ich die drei Musiker auf der Bühne nicht, aber sie spielen beschwingte Gitarrenmusik, die in die Beine geht. Ich wippe mit, schaue mich um und ärgere mich, meine Kamera nicht bei mir zu haben. Nur Olivers kleine Digicam. Ich wollte eigentlich meine Kamera einpacken, aber Oliver war der festen Überzeugung, sie wäre zu unhandlich und vermutlich sogar verboten. Also haben wir einen friedlichen Kompromiss geschlossen und uns für seine kleine Digitalkamera entschieden. Die wird mir keine Kunstwerke schenken, ist aber besser als gar nichts. Schließlich heißt es ja immer: Ein wahrer Meister seiner Kunst kann auch mit zweitklassiger Ausstattung Großes schaffen. Ohne die Möglichkeit, den Fokus oder die Belichtungszeit selber einzustellen, entscheide ich mich deswegen für den künstlerischen Weg: unorthodoxe Einstellungen und Blickwinkel auf die Bühne.

Ich klicke mich lächelnd durch meine Fotos und bin mit ihnen sogar recht zufrieden. Dann kommen einige Bilder, die Oliver gemacht hat: ein Schiff, ein paar kleine Boote, eine Familie, eine junge Frau am Strand, zwei junge Frauen, die Beachball spielen, eine junge Frau im Wasser, ein Pärchen beim Schwimmen, eine Frau auf einer der schwimmenden Holzinseln im Wasser. Ich spüre, wie meine Haut brennt. Zuerst im Gesicht, so als hätte ich einen leichten Sonnenbrand, dann auch an den Händen. Ich klicke mich tapfer weiter durch eine Galerie voller hübscher und junger Frauen in Badebekleidung. Dazwischen finde ich nur ein einziges Foto von mir, während ich schlafe, mit seinem Sonnenhut auf dem Kopf. Ich formuliere es einmal vorsichtig: Besonders vorteilhaft ist es nicht. Weder für meinen offenen Mund noch für mein Doppelkinn, das mir vor diesem Foto noch nie so drastisch aufgefallen ist.

»Hey! Da bist du ja!«

Ich zucke zusammen und blicke schnell auf. Ein junger Mann tritt neben mich und grinst mich an. Natürlich erkenne ich ihn sofort, selbst wenn unser letztes Treffen einige Jahre zurückliegt. Dank Facebook und seiner zahlreichen YouTube-Musikvideos, die er von Zeit zu Zeit hochlädt, erkenne ich ihn sofort wieder. Er nimmt mich fest in den Arm und sieht sich dann suchend um.

»Ist Oli nicht hier?«

»Nein, er ist …«

 … einer äußerst dramatischen Entführung zum Opfer gefallen und wird augenblicklich von einer Spezialeinheit der GSG 9 befreit …

» … lieber mit einem Kollegen essen.«

Die Wahrheit klingt wenig spektakulär, aber wieso soll ich immer wieder Ausreden für ihn erfinden. Das habe ich schon bei Tristan getan, wann immer wir über ihn gesprochen haben. Jetzt ist Schluss damit. Aber Thomas scheint das auch nicht groß zu stören.

»Hauptsache, du bist da. Ich muss auch gleich auf die Bühne, wünsch mir Glück!«

Das werde ich, und noch etwas werde ich: diesen Abend genießen. Es ist nicht schlimm, dass Oliver nicht hier ist. Wer so ein Foto von mir macht, hat einen so schönen Abend nicht verdient. Ich kann das Konzert auch für mich alleine genießen.

Während sich die drei Jungs von der Bühne verabschieden und Thomas angesagt wird, schreien einige Mädchen neben mir begeistert auf. Aha, er hat sich also eine ernst zu nehmende Fanbase aufgebaut. Das freut mich.

Die nächste Dreiviertelstunde, die Thomas auf der Bühne mit seiner Gitarre die Konzertmenge begeistert, schieße ich fleißig Fotos und singe bei den bekannten Liedern lauthals mit. Er ist doch tatsächlich noch besser geworden! Schon nach wenigen Akkorden hat er das Publikum in seinen Bann gezogen – ich schließe mich dabei nicht aus. Seine Stimme ist einfach unglaublich, und seine Lieder berühren mich tief im Herzen. Ich bin einmal mehr begeistert und frage mich, wieso ein solcher Künstler nicht schon längst große Konzerthallen füllt und unzählige Alben verkauft. Wenn ich mir die Zuschauer vor der Bühne anschaue und ihre glücklichen Gesichter fotografiere, bin ich mir allerdings sicher, dass der Durchbruch im Fall von Thomas Pegram nur noch eine Frage der Zeit ist.

Als Nächstes spielt er ein Lied, das ich noch nicht kenne. Ein neues Lied aus seiner Feder, und die Menge lauscht gespannt, saugt jedes Wort auf – so wie ich. Mich trifft der Text in meinem Inneren.

Vollgetankter Wagen,

nach Westen soll es gehen.

Es gibt nichts, was mich hier

am Leben hält.

Hab kein Ziel, weiß nicht, wo

ich heute schlafen werde.

Vor mir schon die Grenze,

die Freiheit ist so nah.

Fernweh.

Volltreffer, Thomas! Ich vergesse zu fotografieren. Fast vergesse ich zu atmen. Fernweh. Ich weiß genau, wovon er singt. Er singt von Australien, von Indien, von Freiheit. Im Refrain stimmen die Menschen um mich herum lautstark ein. Immer wieder bin ich überrascht, wie gut Musik Gefühle ausdrücken kann. Noch überraschender finde ich die Tatsache, dass Thomas meine Gefühle in Songs verpackt, Gefühle, von denen ich noch gar nicht genau wusste, dass ich sie kenne – dass ich sie habe. Mir hat er mit diesem Auftritt ein Lächeln ins Gesicht gezaubert und ein weiteres Highlight zu meinem Kurzurlaub hinzugefügt.

Als er die Bühne verlässt, will der Applaus einfach nicht mehr abebben. Immerhin scheint er hier eine kleine Berühmtheit zu sein. Ich kann mich also geehrt fühlen, als er nach dem Auftritt in einem frischen T-Shirt wieder neben mir auftaucht und etwas geschlaucht, aber mindestens so glücklich wie die anderen Menschen hier wirkt.

»Das war … echt spitze!«

Als ob er das nicht schon wüsste. Aber ich habe trotzdem das Gefühl, es ausdrücklich betonen zu müssen. Es scheint ihm auf eine sympathische Art und Weise unangenehm.

»Danke. Ich hatte ja erwartet, dich mit deiner Kamera zu sehen. Also mit der echten.«

Er wirft einen belustigten Blick auf Olivers Digitalkamera.

»Ja, ich auch, aber …«

…durch einen überaus dramatischen Überfall wurde mir meine Spiegelreflexkamera von drei vermummten Männern gestohlen und vermutlich in Rumänien unter Wert verkauft.

» … Oli meinte, es sei albern und verboten.«

Die Wahrheit kommt mir erstaunlich leicht über die Lippen. Oder liegt das am zweiten Bier, das ich inzwischen leer getrunken habe?

»Albern? Die Kamera ist wie ein Teil von dir, wenn ich mich richtig erinnere. Und die Fotos bei Facebook sprechen ja auch eine sehr deutliche Sprache. Das mit dem Sonnenaufgang habe ich als Hintergrund auf meinem PC. Es ist … echt spitze.«

Er grinst mich an. Sogar ein alter Bekannter, den ich seit Jahren nicht gesehen habe, sieht meine Leidenschaft mit ganz anderen Augen als mein Freund, der mich meistens mit dem aufzieht, was ich für mein Leben gerne tue. Soll mich diese Tatsache stolz oder traurig machen? Den Gedanken an Olivers Fotos verdränge ich schnell wieder.

»Ich bin doch nur Partyfotografin.«

Genau, Layla, stellen wir das Licht lieber wieder unter den Scheffel, da ist es gut aufgehoben.

Aber während wir uns einen Weg zur Bar erkämpfen, schüttelt Thomas den Kopf.

»Unsinn. Ich erkenne einen Künstler, wenn ich einen sehe.«

Abgesehen von seinem Talent, als Österreicher ein perfekteres Hochdeutsch zu sprechen als ich, überrascht mich die Tatsache, dass er mich Künstler genannt hat. Oliver und sein Arbeitskollege erscheinen mir plötzlich unendlich weit weg.

»Danke.«

Wir bestellen noch ein Bier und nutzen die nächste Stunde, um uns wieder auf den aktuellen Stand der Dinge im Leben des anderen zu bringen. Er macht nach wie vor Musik, komponiert ganz fleißig Songs und spielt so viele Gigs, wie er kriegen kann. Ich bewundere seine Ausdauer.

»Ich spiele demnächst übrigens mal wieder in Stuttgart.«

»Ja? Wie schön! Wann?«

»Das ist noch nicht ganz klar. Es ist ein Gefallen für einen alten Freund, also, einen sehr spontanen und etwas chaotischen Freund. Das Wo und das Wann erfahre ich wahrscheinlich genau einen Tag vor dem Auftritt, aber spätestens da hätte ich mich auch wieder bei dir gemeldet.«

»Mach das! Ich könnte deine Lieder immer und immer wieder hören.«

»Danke.«

Er blickt etwas verlegen zur Seite, und sein Blick wandert über das Festivalgelände.

»Es ist so viel passiert, Konzertanfragen, Gigs, Radio … das ganze Programm. Ich kann es noch gar nicht richtig glauben.«

»Das ist auch höchste Zeit. Das hast du verdient.«

Wieder diese sympathische Art, ein ehrlich gemeintes Kompliment ungerne anzunehmen. Kein Zweifel, er ist auf dem Boden geblieben – und trotzdem würde ich ihn gerne packen und schütteln.

»Im Ernst, Thomas, du hast das Zeug dafür. Du bist so talentiert, und ich habe doch eben gesehen, wie die Leute an deinen Lippen hängen, wenn du singst. Das können nicht viele.«

Während ich spreche und versuche, meine Weisheit zu ihm durchdringen zu lassen, spielt er mit der Digitalkamera, die neben uns auf dem Tisch liegt. Er klickt sich durch einige meiner Fotos von heute Abend und scheint mir gar nicht richtig zuzuhören.

»Weißt du, Layla – das nächste Mal, wenn du so was sagst, solltest du in den Spiegel schauen.«

Er zeigt mir eines der Fotos, das ich heute gemacht habe. Er steht mit seiner Gitarre auf der Bühne, die Augen geschlossen, singt für die Menschen. Im Vordergrund unzählige Handys, die alle das Bild der Bühne im Kleinformat wiedergeben. Dazu summt er den Refrain des Songs, den er heute als letzte Zugabe für die Fans gespielt hat.

»Das ist unfassbar mit einer solchen Kamera. Was ist mit Veröffentlichungen und Ausstellungen? Du musst dir eine goldene Nase verdienen.«

Ich schüttele lächelnd den Kopf und merke, dass meine Wangen heiß werden.

»Ich bin Partyfotografin. Alles andere ist nur ein Hobby.«

»Erzähl das jemandem, der deine Fotos nicht gesehen hat. Aber nicht mir. Und verkaufe dich bloß nicht unter Wert.«

Damit reicht er mir die Kamera zurück und scheint zu wissen, wie sehr er den Kern der Sache getroffen hat. Trotzdem ist er nett genug, den Rest des Abends die Themen Talent, Träume und Erfolge nicht mehr anzusprechen. Wir sprechen viel über Urlaubsziele, Musik, neue Alben, die wir beide gerne mögen. Und sogar über Oliver.

Bevor Thomas mich am Campingplatz absetzt, drückt er mich noch einmal und zwinkert mir zu.

»Denk daran, Künstler erkennen Künstler. Und hier sitzen gerade zwei von der Sorte.«

Damit entlässt er mich in eine schlaflose Nacht. Oliver ist noch nicht zurück. Aber es sind Thomas’ Worte, die mir zu denken geben. Kann Oliver deswegen vielleicht nicht sehen, was meine Fotos für mich bedeuten? Wenn dem so ist, dann kann ich Oliver gar keinen Vorwurf machen. Oliver ist so weit davon entfernt, ein Künstler zu sein – so weit, wie Stuttgart von Australien oder Indien entfernt ist.

Als ich Oliver draußen höre, stelle ich mich schlafend und muss mir keine Ausrede für seine verspätete Heimkehr anhören, die er in seinem betrunkenen Zustand von sich geben würde. Gleichzeitig gönne ich mir noch ein paar Stunden mehr Zeit, um mir über den Abend, meine Fotos und die Kunst an sich Gedanken zu machen. Und über seine Fotos. Vor allem über sein Bild von mir. Sieht er mich so? Sehe ich so für ihn aus? Warum zum Teufel ist der dann noch mit mir zusammen?

Ich halte Oliver zugute, dass er mich am nächsten Vormittag mit einem großartigen Frühstück überrascht und damit irgendwie um Verzeihung bittet. Es gibt alles, was mein Herz begehrt. Frischen Kaffee, frisches Brot, Marmelade, gekochte Eier … Er hat einfach an alles gedacht. Dazu sein unglaublich süßer Blick, als er versucht, seinen Kater zu überspielen. Er ist mit Sandro nach dem Essen noch in eine Bar und dann in einen Club gegangen. Sie haben ein Bier nach dem anderen getrunken und sind dann irgendwann zum Whiskey übergegangen. Als sich die Welt angefangen hat zu drehen, ist Oliver in ein Taxi gestiegen und brav zu mir gefahren. Ich kann es ihm nicht übel nehmen, denn seine Augen leuchten, als er mir von seinem Männerabend in Bregenz erzählt. Immerhin sind wir im Urlaub. Noch. Ich bin geneigt, ihm zu verzeihen.

Auch wenn es schmerzt, dass ich nicht dabei war.

Am Abreisetag würde ich am liebsten heulen, denn ich fürchte: Sobald ich in Stuttgart bin, wird das alles wieder anders.

Gestern haben wir unseren letzten gemeinsamen Tag verbracht. Am See. Oliver hat sich einen ziemlichen Sonnenbrand zugezogen, nachdem er völlig entspannt und etwas übermüdet am Ufer eingeschlafen ist. Ich habe mich heimlich davongestohlen, um ein paar letzte Fotos zu machen, und als ich wieder zurückgekommen bin, lag da ein krebsroter Oliver in der knalligen Sonne. Ich hatte natürlich ein schrecklich schlechtes Gewissen. Ich habe nicht auf ihn aufgepasst.

»Süße, alles okay?«

Er küsst meine Wange und fährt mir durchs Haar. Alltägliche Zärtlichkeiten, die ich zu Hause so sehr vermisst habe. Hier sind sie wieder. Ich muss schmunzeln, denn durch solche Aktionen beantwortet er die Frage selbst.

»Ja, alles okay. Ich würde nur so gerne noch länger bleiben.«

Er setzt sich neben mich und folgt meinem Blick über den ruhigen See, dessen Ende wir von hier aus nicht sehen, nur erahnen können. Irgendwo da hinten ist die Schweiz, aber es könnte auch Indien sein. Oder Brasilien.

»Wir sollten das wirklich öfter machen. Zusammen wegfahren.«

Er nickt und greift nach meiner Hand.

»Das sollten wir wirklich. Aber ich muss nächstes Wochenende erst mal alleine nach Hamburg. Das hast du nicht vergessen, oder?«

Er scheint es in meinem Gesicht zu lesen. Ich habe es vergessen. Das liegt aber nicht nur an mir. Zu Beginn des Monats nennt mir Oliver immer alle kommenden Termine und denkt, ich könnte mir das ohne Probleme oder Zuhilfenahme eines Bleistiftes merken. Damit irrt er nur leider gewaltig. Ich höre mir die Städte und die Daten an, nicke und habe sie schon vergessen. Deswegen erwischt es mich immer so kalt, und ich bin jedes Mal aufs Neue überrascht, wenn Oliver mit völliger Selbstverständlichkeit seinen Koffer packt.

»Du hast es vergessen.«

Er schüttelt amüsiert den Kopf und greift nach meiner Kamera, die neben mir auf dem Klappstuhl liegt. Ich habe noch Abschiedsfotos gemacht, nicht viele, ich wollte nicht, dass es wieder heißt, ich würde im Urlaub nur arbeiten.

»Das nächste Mal schreibe ich es dir auf.«

»Das wäre gut.«

Er lächelt. Das sagt er immer, aber er schreibt es mir nie auf, ich vergesse es, und dann haben wir genau dieses Gespräch in ein paar Wochen wieder. Er sieht durch den Sucher und schwenkt die Kamera in meine Richtung.

»Lächeln!«

Und dann drückt er ab. Ich versuche zu lächeln, bin entspannt und finde, dass ich durch die Sonnenbräune der letzten paar Tage besser aussehe als in der Winterzeit, in der ich mich immer wie eine Packung Frischkäse fühle. Er betrachtet das Ergebnis und dreht mir den Monitor der Kamera zu. Ich sehe mich in die Kamera grinsen, zum Glück ohne Doppelkinn, dafür erreicht das Lächeln auf meinen Lippen meine Augen nicht ganz.

»Na also, du kannst lächeln.«

Ja, das kann ich. Wenn ich will und er mir einen Grund gibt. Ich sehe ihn wieder an, er sieht glücklich aus. Entspannt und unverschämt attraktiv, so braun gebrannt und mit seinem Dreitagebart. Als er meine Hand in seine nimmt, wird es mir warm ums Herz. So soll es immer sein.

»Ich liebe dich, Oli.«

Er beugt sich zu mir, küsst meine Wange, dann meine Lippen und schließlich meine Stirn. Dann steht er auf.

»Das weiß ich doch, Layla.«

Es hallt in meinem Kopf nach. Er weiß es. Natürlich weiß er es, weil er es immer und immer wieder von mir zu hören bekommt. Ich sehe ihm dabei zu, wie er den Klapptisch in das Wohnmobil packt. Heute kommt er mir nicht so leicht davon. Ich will es hören. Jetzt.

»Und liebst du mich?«

Er wirft einen Blick über die Schulter und nickt. Dazu dieses Lächeln, in das sich wohl die meisten meiner Freundinnen augenblicklich und Hals über Kopf verlieben würden. Aber ich bleibe hart.

»Und kannst du es auch mal sagen?«

Er lacht und schließt eine Klappe neben der Tür. Oliver ist sehr gewissenhaft. Wenn er das Mobil packt, dann geht nie etwas schief. Noch nie bin ich auf der Autobahn stehen geblieben oder habe Gepäckstücke verloren.

»Wenn Männer die magischen drei Worte sagen, dann meinen sie es meistens auch. Aber sie sagen es eben dann, wenn sie es fühlen.«

Dabei zwinkert er mir zu.

»Okay.«

Ich lächle, weil es irgendwie süß klingt, und versuche, nicht darüber nachzudenken, warum ich manchmal so lange warten muss, bis er mich damit überrascht. Meine Mutter sagt immer, ich würde zu viel nachdenken, wenn etwas gut läuft. Jetzt läuft es gut. Mit ihm und mir, mit uns. Ich werde jetzt nicht anfangen, nach Kleinigkeiten zu suchen, um mir das wieder kaputt machen zu lassen. Oliver wird es mir also sagen, wenn er es fühlt, und es ist nicht seine Schuld, dass ich es ihm ständig sage.

»Und jetzt hebe deinen süßen Hintern von diesem Stuhl, damit ich ihn verstauen kann und wir nach Hause kommen.«

Ich lehne mich in dem Stuhl zurück.

»Ich will aber noch gar nicht nach Hause.«

Das ist wahr. Ich möchte weiterfahren. Solange der Sommer dauert.

»Das müssen wir aber, weil ich Holger versprochen habe, mit ihm den Grill aufzubauen.«

»Du hast Holger …«

»Er hat gestern angerufen, da kann ich nicht Nein sagen. Es ist ein Steingrill, der packt das alleine nicht.«

»Steingrill. Klar.«

Ich lasse mir die Enttäuschung nicht anmerken.

»Und wann?«

»Heute Abend.«

Langsam stehe ich auf und schaue zu, wie er den Stuhl zusammenklappt und damit auch unsere Urlaubswoche ganz offiziell für beendet erklärt.