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Beccie sieht sich die Bilder an. Wir sitzen auf den warmen Treppen am Kleinen Schlossplatz und haben ein Sandwich und ein kühles Getränk neben uns stehen. Wir genießen die Sonne und fallen unter all den anderen Leuten, die hier plaudern oder in der Mittagspause ein bisschen Tageslicht tanken, gar nicht auf. Während sich Beccie ein Foto nach dem anderen ansieht, beobachte ich ihren Gesichtsausdruck und muss wieder einmal feststellen, dass sie blendend aussieht. So frisch und erholt, als wäre nicht ich, sondern sie die letzte Woche zum Entspannen an den Bodensee verschwunden.

»Die sind ja richtig gut.«

Sie klingt so überrascht, dass ich fast schon ein bisschen gekränkt bin.

»Ich verliebe mich gerade in meine eigene Heimatstadt. Wahnsinn.«

»Danke.«

»Also das hier … ist wunderschön. Ich bin echt stolz auf dich. Wann hast du die gemacht?«

»Gestern. Ich bin einfach losgezogen und habe sie geschossen. Mir war danach.«

Das ist keine Lüge. Mir war wirklich danach. Trotzdem bin ich noch nicht bereit zuzugeben, dass bei dieser Entscheidung ein gewisser Herr Wolf nicht gänzlich unbeteiligt war.

Beccie nimmt die Sonnenbrille ab und betrachtet mich einen Moment eingehend.

»Habe ich was verpasst?«

»Wieso?«

»Du bist eine Woche lang weg, einfach so, mit Oliver. Du kommst zurück, strahlst und bist voller Elan … Das klingt für mich nach jeder Menge Sex. Phänomenalem Sex.«

Wenn sie wüsste, wo ich die gestrige Nacht verbracht habe, sie wäre überrascht. Ich grinse also nur und werde nicht zugeben, dass die meisten dieser Fotos Trotzreaktionen sind.

»Süße, die Dinger hier sind Welten besser als diese Partyfotos. Und ich finde die ja schon nicht übel.«

»Danke.«

»Was machst du jetzt mit ihnen?«

Sie reicht mir den Stapel zurück. Auf die Frage habe ich noch keine Antwort. Beccie war mein Testpublikum, aber Marco wird mir schon sagen, ob und wozu sie taugen. Er kann am besten einschätzen, wie gut sie wirklich sind – im Vergleich zu allen guten Fotos dieser Welt. Bevor ich damit die Welt erobern und meinem Traum wieder einen festen Platz in meinem Leben zugestehen kann, muss ich wissen, wie weit ich mit meiner eigenen Einschätzung von der Realität entfernt bin. Vielleicht bin ich ja nicht von meinen Bildern, sondern bloß von der wiederentdeckten Leidenschaft begeistert.

»Was meinst du? Was soll ich damit machen?«

Ich muss Zeit schinden.

»Na, die werden doch wohl einen Platz finden, an dem die Leute sie bestaunen können, oder willst du sie in deiner Schublade einsperren?«

Oder auf meinem Computer, im dem Ordner direkt neben dem Papierkorb.

»Ich weiß nicht. Ich dachte, ich mache das, um wieder warm zu werden. Stuttgart ist dafür ein guter Anfang. Und wenn das gut klappt, dann packe ich meine Kamera, meine Stative und dann …«

»Gehst du weg?«

»Vielleicht.«

»Das kannst du nicht. Wer geht dann mit mir Mittagessen und hört sich den ganzen Quatsch an, den ich den ganzen Tag von mir gebe?«

Sie schaut mich etwas entsetzt an, und ich muss grinsen. Schön zu wissen, dass es jemanden gibt, der mich vermissen würde.

»Nicht für immer, nur auf … Reisen. Ich würde gerne ein paar schöne Fotos machen. Von der Welt.«

»Wann?«

»Bald.«

Beccies Augen werden größer und größer. Dabei sollte es sie am wenigsten überraschen. Sie kennt mich so lange und gut, sie kennt auch diesen großen Traum, den ich viel zu lange vor mich hin geträumt habe, ohne ihn zu verwirklichen. Eine Weltreise, auf der ich Neues und Fremdes entdecke. Ich liebe Stuttgart, aber manchmal brauche ich mehr.

»Seit wann bist du so spontan? Was ist los? Bist du schwanger?«

Ich lache laut auf. Ich war noch nie so weit davon entfernt, schwanger zu werden.

»Nein. Ich möchte nur …«

Ich sehe auf die Bilder in meiner Hand, dann wieder zu ihr.

»Ich möchte wieder fotografieren. Richtig fotografieren. Verstehst du?«

Schwingt da Stolz in ihrem Blick mit?

»Ich denke nicht, aber ich freue mich für dich. Wann wollt ihr los?«

»Wir?«

Jetzt bin ich es, die sie überrascht ansieht. Moment.

»Na, du und Oli. Kann er sich so lange freinehmen?«

Ich weiß nicht, was ich drauf antworten soll. Warum habe ich mir darüber bisher keine Gedanken gemacht?

»Das wird bestimmt stark. Stell dir nur mal vor, ihr werdet ganz viele fremde Orte sehen. Dubai, Hawaii, Bali. Du wirst mir dann eure Fotos zeigen, und ich werde vor Neid platzen!«

Ich nicke. In meinem Kopf sieht das alles etwas anders aus. Es sollen keine Urlaubsfotos werden. Es geht nicht darum, Oliver an verschiedenen Touristenorten zu knipsen, um danach wieder am Pool einer All-inclusive-Anlage zu entspannen. Ich will die Welt sehen, ich will Abenteuer erleben, die ich hier und vor allem mit Oliver nicht erleben kann. Fernweh macht sich breit. Ich will neue, fremde Leben kennenlernen und Momente festhalten, die so kein zweites Mal passieren können.

Marco kommt grinsend auf mich zu, begrüßt mich mit einem Kuss auf die Wange und sieht mich dann an. Es ist wirklich eine kleine Ewigkeit her, dass wir uns gesehen haben. Marco hat sich trotzdem kaum verändert. Er sieht immer noch aus wie ein südländisches Männermodell. Die Schläfen sind etwas ergraut, aber auch das steht ihm. Macht ihn sogar noch attraktiver, als er ohnehin schon ist.

»Du siehst toll aus, Layla.«

Wieder ein Kompliment aus dem Mund eines Mannes, der nicht meiner ist. Als ich mich vor nicht mehr als einer halben Stunde im Bad geschminkt habe, kam Oliver herein und fragte nach seinen Hemden. Immerhin müsse er am Freitag nach Hamburg, und vielleicht müssten ja vorher noch Hemden in die Reinigung. Ich habe gesagt, alle Hemden seien gewaschen, gebügelt und in bester Verfassung in seinem Schrank. Das entsprach der Wahrheit. Er ist dann einfach zurück ins Wohnzimmer gegangen. Kein Kommentar über meinen kurzen Rock, meine hohen schwarzen Pumps oder mein wirklich gelungenes Augen-Make-up. Inzwischen tut es nicht mehr so sehr weh. Ich lasse das alles nicht mehr an mich ran. Die Fotos für Marco hatte ich zu diesem Zeitpunkt in einer schönen grauen Mappe in meiner Handtasche. Ich lächelte mir selbst aufmunternd im Spiegel zu und hörte Oliver im Wohnzimmer den Fernseher anschalten.

»Schatz?«

»Hm?«

Ich war schon an der Tür.

»Hast du mir deine Bilder in meinen Urlaubsfoto-Ordner gelegt?«

Auf die Frage hat er keine Antwort von mir bekommen. Ich bin aus der Wohnung raus, ohne weiter auf diese unglaublich unpassende Frage einzugehen.

Jetzt sitze ich hier mit Marco an einem der wenigen freien Plätze im I love Sushi und bin nervös wie selten. Er hat meine Mappe auf- und die Speisekarte zugeschlagen. Olivers Kommentar erscheint so weit weg, als wäre er aus einer anderen Welt.

»Wann sind die entstanden?«

Er blättert durch meine Mappe und spricht mit mir, ohne mich anzusehen. Ich klammere mich an mein Wasserglas.

»Gestern – und das sind nur die Abzüge aus meinem Drucker in der Arbeit. Ich hatte heute keine Zeit mehr, die Bilder professionell entwickeln zu lassen.«

Langsam sieht er hoch, ein Lächeln liegt auf seinen Lippen.

»Spontane Aktion?«

»Sehr, ja.«

»Emotionaler Ballast?«

»Auch.«

»Wunderbar.«

»Was?«

»Da liegt viel Gefühl drin. Sehr viel von dir.«

Mein Herz fängt an zu hüpfen – nein, eigentlich sind es ausgewachsene Sprünge. Im Weitsprung der Herzen habe ich gerade einen neuen olympischen Rekord aufgestellt.

»Wie heißt er?«

»Wer?«

»Liebes, ich bin doch nicht blöd. Schau dir das hier an.«

Er zeigt mir eines meiner Bilder. Ein junges Pärchen liegt im Schlosspark, sie greift nach der dünnen Goldkette, die um seinen Hals hängt, sein Blick lässt ihren nicht los, ein Lächeln umspielt seine Lippen. All seine Gefühle scheinen in diesem Blick zu liegen. Und man weiß sofort: Er liebt sie.

»Du kannst so was nicht fotografieren, ja, nicht mal sehen, wenn du nicht weißt, was es ist.«

Ich entscheide mich, weiterhin die »Ich-verstehe-nicht-was-du-meinst-Tour« zu fahren. Ich hasse es nämlich, wenn man mich einfach so durchschaut.

»Was – was ist?«

»Nicht mit mir, Layla. Wer ist es? Oli?«

»Es ist nicht … Es ist nur das, was ich fühle.«

»Sicher. Und für wen fühlst du … das

Ich kenne die Antwort, aber sie gefällt mir nicht. Deshalb beschließe ich, zurück zur eigentlichen Frage zu kommen.

»Marco, sind die Fotos gut?«

»Sie sind mehr als gut. Sie sind wunderbar. Sie sind echt. Sie sind voller Gefühle. Sie sind … Das bist du!«

Es spielt keine Rolle, ob es jemand hören kann – aber der Stein, der mir vom Herzen fällt, muss das ganze Lokal erschüttern. Ich hole so tief und erleichtert Luft, dass dem jungen Mann am Nebentisch fast seine Bestfriend-Roll aus den Essstäbchen rutscht.

»Gott sei Dank.«

»Komm schon. Layla, du brauchst mich nicht, um zu wissen, wie gut sie sind. Das sieht ein Blinder. Dein Talent war schon immer da. Aber diese Bilder … Sie sprechen eine ganz neue Sprache. Das kenne ich von dir nicht. Das ist ein neues Level.«

Er klappt die Mappe zu und sieht mich nach wie vor wartend an, aber ich bin zu erleichtert und glücklich, um das zu bemerken. Seit unserem Telefonat bestreiten mein Magen und mein Herz eine Tour de Force ohnegleichen. Mal wollte ich zu viel essen, mal zu wenig. Einmal wollte ich tanzen, dann weinen. Es war eine Achterbahnfahrt de Luxe, und auch wenn es irgendwie unerträglich war, fühlte es sich so gut an. Und jetzt die Auflösung.

»Du warst über drei Jahre von der Bildfläche verschwunden. Was hat dich zurückgebracht?«

»Es tut mir leid. Ich war beschäftigt und habe viel … Nun ja. Ich habe weiter fotografiert. Und meine eigene kleine Firma aufgebaut.«

»Das habe ich gesehen. Gute Bilder. Viele sind sogar sehr gut.«

»Danke.«

Er klopft auf die Mappen neben sich.

»Aber kein Vergleich hierzu.«

Das weiß ich selber. Es ist so surreal, hier bei rohem Fisch mit einem Fotografen zu sitzen, von dem ich viel halte und der mehr kann, als blondierte Teenagermädchen zu knipsen. Der Mann hat schon diverse ernst zu nehmende Preise mit seinen Bildern gewonnen und Ausstellungen in ganz Deutschland. Man muss das so hart sagen: Marco ist keine Fotohure geworden, so wie ich. Er hat immer nur das fotografiert, wonach ihm war, und offensichtlich war auch anderen Menschen danach. Sie haben seine Bilder ausgestellt und gekauft. Er hat auf sein Herz gehört und auf nichts anderes. Und es hat ihm gutgetan.

»Gut, lass mich raten. Du hast eine … Muse.«

Ich verschlucke mich fast und greife schnell nach der Karte. Wie kommt es, dass Marco mich einfach so durchschauen kann? Bei meiner aktuellen Lebenslage kann das ja was werden. Ich brauche Alkohol, und zwar sehr viel davon.

»Oder eine Affäre. Beides wäre dir zuzutrauen.«

Andererseits fühle ich mich jetzt schon leicht beschwipst und sollte es nicht übertreiben.

»Na klar. Und wenn ich dir sage, dass ich außerdem noch mit Drogen experimentiert habe?«

»Dann hätte ich gerne welche davon.«

Wir lachen, essen, reden, trinken und lachen noch mehr. Dazwischen schauen wir immer wieder Fotos an. Er möchte einige davon gerne einem Freund zeigen, der ein kleines, feines Café mit Ausstellungsfläche hat und immer wieder gerne etwas Neues auf die Beine stellt. Wieso nicht? Im Moment habe ich rein gar nichts zu verlieren.

Zwischen den Maki und Inside-out-Rolls, von denen wir schon zu viele verdrückt haben, erzähle ich von meinem Leben, was ich so gemacht habe und wieso ich aufgehört habe, an meinen Traum zu glauben. Ich benutze dabei nicht Olivers Namen, weil das ungerecht ist. Ich lüge aber auch nicht und sage, dass mein aktuelles Leben es nicht zugelassen hat. Das schließt Oliver mit ein. Ich denke, Marco kann sich auch ohne die direkte Aussprache des Problems ganz gut ein Bild machen. Er lässt es unkommentiert im Raum stehen. Gegen elf Uhr ziehen wir schließlich weiter in eine andere Location, in der heute Abend das Konzert stattfindet.

Dank der öffentlichen Verkehrsmittel haben wir um kurz nach elf Uhr unsere neue Destination erreicht: die Kiste. Als wir den kleinen Jazzclub betreten, stelle ich zu meiner Erleichterung fest, dass ich mit meinem schicken Casual Look genau die richtige Wahl getroffen habe. Nur bei Beccies Leihgabe der hohen schwarzen Pumps bin ich mir inzwischen nicht mehr ganz so sicher. Ich will nicht jammern, aber meine Füße tun mir weh.

Marco organisiert uns dankenswerterweise zwei Hocker an der Bar und bestellt direkt zwei Biere dazu. Ich war schon einige Male hier, habe so manches Jazz-Konzert genossen, manchmal sogar fotografiert. Gegen Bezahlung. Heute habe ich meine Kamera zwar auch in der Tasche, allerdings nicht aus beruflichen Gründen, sondern weil ich beschlossen habe, wieder auf jede Eventualität vorbereitet zu sein. Manchmal erwischt man das perfekte Motiv und ist unbewaffnet. Das wird mir nicht mehr passieren. Ich werde meine Kamera bei mir haben, komme was wolle.

Marco scheint hier jeden zu kennen. Ich bin beeindruckt und freue mich, mal wieder einen Abend außer Haus in netter Gesellschaft zu genießen. Er begrüßt eine junge Frau mit einer herzlichen Umarmung und stellt sie mir vor: Es ist Nesli, Volkans Frau. Mit einem sympathischen Lächeln bedankt sie sich für unser Kommen und lädt uns auf einen Drink nach dem Konzert ein. Dann verschwindet sie wieder in der Menge und begrüßt weitere Gäste.

»Sie ist nett.«

»Ja, sie ist auch so ein kreatives Köpfchen wie du.«

Ich muss grinsen, und meine Wangen werden heiß. Ich schiebe es auf den Alkohol und die Hitze hier im Raum.

»Und woher kennst du Volkan?«

»Ach, Volkan ist ein Universalkünstler. Jede Woche versucht er etwas Neues. Momentan hat er diese Band, die spielen eigene Lieder und Cover-Songs, die sie neu interpretieren. Es gibt keine feste Besetzung. Jeden Monat werden neue Musiker gesucht, und dann treten sie gemeinsam auf.«

Ich nicke, das Konzept klingt ganz unterhaltsam.

»Und wie heißen sie?«

»Uns gibt’s nicht.«

»Sind sie gut?«

»Das letzte Mal waren sie … ganz okay.«

Er lacht und stößt mit mir an.

»Es kann nur besser werden.«

Dann wird das Licht gedimmt, und die Musiker betreten die Bühne. Ein kleiner, dicklicher Mann verschwindet sofort hinter das Schlagzeug und gibt fortan nur noch den Blick auf seine schwarze Lockenpracht frei. Dann tritt Marcos Freund Volkan auf die Bühne, ein Mann um die dreißig in lässigen grauen Jeans und einem blau-weiß-rot kariertem Flanellhemd. Er trägt einen dünnen Schal um den Hals und einen grauen Hut, der ihm den Look eines Straßenmusikers verleiht. In seiner Hand hält er, wie Marco mir erklärt, eine Pro-Arte-Klassik-Akustikgitarre, die schon etwas mitgenommen aussieht. Sofort fällt mir der große Silberring an seiner rechten Hand auf. Er begrüßt die anwesenden Gäste mit einer tiefen, rauchigen Stimme. Ohne Zweifel verbringt er viel Zeit am Mikrofon – wahrscheinlich auch mit Zigaretten und Alkohol, wenn er nicht gerade singt.

»Schön, dass ihr alle gekommen seid, obwohl wir beim letzten Mal ja unser Bestes gegeben haben, um euch zu vergraulen.«

Kurzes Gelächter im Publikum.

»Ich würde euch jetzt gerne die geniale Mischung an Musikern vorstellen, die wir für heute Abend gewinnen konnten. Außer Lucy, meiner treuen Begleitung, haben wir ein paar echte Schmuckstücke für euch auftreiben können.«

Lucy, so erfahre ich von Marco, ist seine Gitarre, die er seit sechzehn Jahren bei keinem seiner Konzerte daheim lässt. Dann stellt er den Schlagzeuger als Stuttgarter Urgestein vor, dessen Namen ich nicht verstehe, der aber ein bisschen wie »Ragna« klingt und von dem ich außer den wilden Locken auch jetzt nichts sehe. Dann kommt ein Mann mit schulterlangen Haaren und Vollbart, Ben, in Led-Zeppelin-T-Shirt, Bootcut-Jeans und braunen Doc Martens auf die Bühne. Ich hätte ihn mir gut in einer Band wie den Foo Fighters vorstellen können. Die Lefthand Gibson Les Paul vervollständigen dieses Bild. Während er auf einem Barhocker Platz nimmt, grüßt er kurz in die Menge. Optisch will er so gar nicht zu dem wuschelhaarigen Ragna und Volkan passen, der mit Lucy im Arm eher wie eine lässige Version von Eric Clapton wirkt.

»Da wir heute ein sehr gitarrenlastiges Set spielen werden und auf einen Bassisten einfach verzichten, bringe ich noch einen weiteren großartigen Gitarristen auf die Bühne.«

Meine Augen weiten sich.

»Den kenne ich!«

Marco sieht mich überrascht an, als ein gut aussehender junger Mann mit geränderter Brille und kurzen dunklen Haaren auf die Bühne springt. Er trägt ein weißes T-Shirt, schwarze All Stars und eine braune Leinenhose, an der Hosenträger baumeln. In der Hand hat er eine Martin-Gitarre, die sich in der Musikwelt als das Babyface-Signature-Modell einen Namen gemacht hat, wie mir der Musiker einmal selbst erklärt hat.

»Musikexpertin Layla Desio?«

Marco grinst, aber es handelt sich wirklich um Thomas Pegram, der hinter einem Mikrofonständer in Position geht und neben Ragna, Ben und Volkan das Quartett der verschiedenen Typen perfekt ergänzt. Niemals hätte ich mir diese vier Männer zusammen in einer Band vorstellen können, aber genau das scheint den Reiz dieser ganzen Aktion auszumachen.

Thomas stellt sich in Position, schirmt seine Augen mit der Hand vor dem grellen Scheinwerferlicht ab und lässt seinen Blick über das Publikum schweifen. Als er mich entdeckt, winkt er mir kurz zu – ganz so, als hätte er mich hier erwartet. Ich winke leicht irritiert zurück und deute mit einer drehenden Fingerbewegung an, dass wir uns nachher sehen. Er nickt und konzentriert sich wieder auf das Mikrofon vor ihm. Stimmt, er hat in Bregenz erwähnt, dass er demnächst in Stuttgart spielt – für einen Freund, spontan. Volkan sieht noch immer zum Bühneneingang, ganz so, als ob er ein weiteres Bandmitglied erwarten würde.

»Wir warten noch auf unseren nächsten Gitarristen, und dann legen wir für euch los. Wie immer spielen wir so ziemlich jeden Musikwunsch, wenn er weniger als drei Akkorde hat.«

Erneutes Gelächter. Volkan ist gut. Er hat uns sofort in seinen Bann gezogen, und die Musiker werden schon vor ihrer Arbeit mit Applaus bedacht.

»Und hier ist er auch endlich. Begrüßen Sie den Mann für die harten Gitarrenriffs! Tristan!«

Mein Herz bleibt stehen. Das kann nicht sein, und doch ist es so: Tristan, in dunkler Jeans und einem schwarzen Hemd, spurtet auf die Bühne, die E-Gitarre schon um den Hals. Er sieht mich nicht – wie sollte er auch? Die Scheinwerfer blenden ihn, und anders als Thomas hält er nach niemandem im Publikum Ausschau, aber ich sehe ihn. Er hat sich nicht verändert, und auch seine Wirkung auf mich hat sich kein bisschen verändert. Mein Herz schlägt sofort schneller, mein Blut rauscht in den Ohren, und die Schmetterlinge und kleinen Käfer drehen einfach durch. Ich glaube, ich habe aufgehört zu atmen. Marco sieht mich von der Seite an, sagt aber nichts, und ich muss mich konzentrieren, um mich irgendwie wider in den Griff zu bekommen.

Die Band legt los, und vom ersten Takt an bin ich gefesselt. Was optisch wie eine bunte Fruchtbowle wirkt, harmoniert musikalisch so wunderbar, dass man das Gefühl hat, diese Jungs stehen seit Jahren jeden Abend zusammen auf der Bühne. Das zeugt von großer Musikalität, wie ich annehme. Aber so gut alle zusammen auch sein mögen, ich habe nur Augen oder Ohren für einen – für Tristan, der lässig dasteht und die Finger über die Gitarrensaiten sausen lässt. Es sieht so einfach aus, und plötzlich fallen mir die Gitarre in seinem VW-Bus und seine Performance für mich in den Weinbergen wieder ein. Sein herzzerreißendes Lied über Lieblingsmomente, bei dem ich fast angefangen hätte zu weinen. Wieso bin ich eigentlich so überrascht? Immerhin scheint Tristan eine Art Lebenskünstler zu sein. Fahrradkurier, Kellner und Aushilfstürsteher. Warum also nicht auch noch professioneller Musiker? Und das hier ist ein Konzert. Wohl oder übel muss ich mich darauf einstellen, dass ich ihn in Stuttgart immer mal wieder spontan treffen werde. Und der Gedanke beruhigt mich.

»Kennst du ihn etwa auch?«

Marco beugt sich zu mir und stellt die Frage direkt in mein Ohr, um die Musik zu übertönen. Lügen ist zwecklos, so wie ich mich gerade verhalten habe.

»Ja.«

Marco nickt nur. Es folgt kein Kommentar, und dafür bin ich ihm sehr dankbar.

Ich bin in einer überaus guten Situation, das gestehe ich mir ein. Er kann mich nicht sehen, er weiß vermutlich nicht einmal, dass ich mich in diesem Raum befinde, und ich kann ihn in aller Ruhe betrachten. Ich kann die Erinnerungen auffrischen, die schon zu verblassen drohten. Ich sehe, wie er sich bewegt, wie er langsam hin und her geht, wie er lächelt, wie er die Hände um das Mikrofon legt, die Augen während des Gesangs schließt. Ich bekomme eine Gänsehaut, dabei ist es nicht einmal eine Ballade.

»Solche Momente sollte man festhalten.«

Marco beugt sich wieder zu mir und erinnert mich an die Tatsache, dass ich nicht alleine hier bin.

»Was?«

»Fotos. Von der Band. Volkan kann sie auf seine Homepage stellen.«

Er nickt auf meine Tasche, in der sich meine Kamera befindet, und dann zur Bühne, auf der sich die Band langsam warm gespielt hat und das Publikum sie mit begeistertem Applaus versorgt.

Ich versuche, Vollprofi zu sein, knipse Ragnas schwarze Lockenmähne und Ben, wie er fast schon achtlos lässig auf seinem Barhocker sitzt und seiner Gitarre vor allem bei den ruhigeren Stücken immer wieder Töne entlockt, die den ganzen Raum verstummen lassen. Er spielt, als wäre er alleine, nur für sich, als wäre der Laden nicht ausverkauft. Ich stelle den Fokus meiner Kamera auf Thomas, der mit seiner gefühlvollen Stimme jedem Song seinen Stempel aufdrückt und mit seiner Gitarre so natürlich dasteht, als wäre sie ein Körperteil von ihm, ohne den er nicht leben könnte. Immer wieder halte ich das Lächeln fest, das er Volkan zuwirft, wenn der Thomas’ warme Stimme mit perfekt gesetzten Akkorden ergänzt, die das Lied ausschmücken und dem Zuhörer das Gefühl geben, es zum ersten Mal zu hören.

Aber auch wenn ich mir wirklich Mühe gebe, für mich gibt es eigentlich nur ein Motiv, von dem ich mich unwiderstehlich angezogen fühle: Tristan und seine Gitarre. Nachdem ich alle anderen Musiker fotografiert habe, wende ich mich endlich ihm zu. Wie in Trance stelle ich die Blende und die Belichtungszeit passend für das Licht ein und werfe dann einen Blick durch den Sucher. Es fühlt sich vertraut an, Tristan so zu sehen. Immerhin habe ich ihn so kennengelernt, habe ihn zum Mittelpunkt dieses einen Fotos gemacht, das alles sagt, was ich zu dem Zeitpunkt empfunden habe – und auch heute noch empfinde. Sehnsucht. Ich wusste nicht, wie er heißt, und jetzt steht er vor mir auf der Bühne, im Scheinwerferlicht, und ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn ich ihn noch ein Mal umarmen könnte und ihn nicht wieder loslassen müsste.

Schnell schiebe ich den Gedanke beiseite und schieße auch wieder Aufnahmen von den anderen Musikern – aber sie spielen keine Rolle, sie haben nur den Zweck, meine Mission zu verdecken. So muss sich ein Alkoholiker fühlen, der schwach wird und wieder zur Flasche greift. Ich spüre diese Hitze in meinem Körper, ich spüre, wie sie ganz langsam in mir aufsteigt, wie meine Hände fast ein wenig zittern und wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht zeigt.

Innerhalb von weniger als drei Minuten hat sich eine ganze Urlaubswoche in nichts aufgelöst. Alle guten Vorsätze schmelzen dahin. Ich sehe nur noch ihn und warte auf das perfekte Foto. Mir entgeht keine noch so winzige Bewegung. Ich habe die offizielle Erlaubnis, ihn zu beobachten, und ich muss mich nicht entschuldigen. Losgelöst von all dieser Angst mache ich Fotos von ihm, auf die ich mich schon freue. Dieses Selbstbewusstsein, mein Handwerk zu beherrschen, ist wieder zurückgekehrt und fühlt sich unglaublich gut an.

Ich beobachte ihn weiter durch mein Objektiv. Er wippt leicht mit dem treibenden Schlagzeugbeat mit, wartet auf seinen Einsatz und blickt auf einen Punkt irgendwo über dem Publikum. Seine Körperhaltung verrät Anspannung und Konzentration, während sein Blick beinahe leer in die Ferne schweift. In wenigen Takten ist es so weit. Als ich plötzlich für den Bruchteil einer Sekunde etwas in seinem Blick aufflackern sehe, tut es tief in meinem Inneren, also gut, in meinem Herzen, kurz weh, und ich drücke ab. Sofort werfe ich einen prüfenden Blick auf die digitale Anzeige meiner Kamera, und eine Art Miniaturvorschau des Bildes erscheint. Mein Puls beschleunigt sich, denn ich weiß, dass ich gerade ein weiteres dieser besonderen Bilder eingefangen habe. Doch beim Anblick des Ergebnisses zieht sich mir mein Herz gefährlich fest zusammen, als wolle es sich zu einer winzigen Origami-Figur zusammenfalten – und mir wird kalt. Ich kann nicht glauben, was ich da sehe. Ich habe es geschafft, diese tiefe Traurigkeit einzufangen, die mir schon öfter an Tristan aufgefallen ist. Und alles, an was ich beim Anblick des Fotos denken kann, ist: Es geht ihm nicht gut.

Marcos Gesicht schiebt sich neben mich, ein fachmännischer Blick.

»Verdammt, Süße.«

Ich sehe zu ihm, fragend, wieder bröckelt alles, und meine Selbstsicherheit ist dahin. Habe ich mich überschätzt? Ist es der Alkohol?

»Das ist spitze!«

Er zwinkert mir vielsagend zu und nickt dann wieder zu Tristan. Ich sehe langsam nach oben.

Er ist an den Bühnenrand gekommen und hat mich entdeckt. Überraschung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Ob er sich freut, mich zu sehen, oder ob es ihm eher unrecht ist, dass ich hier bin, kann ich nicht sagen. Ich hebe eine Hand zum Gruß und versuche, dabei sehr locker zu wirken. Allerdings bewege ich mich dabei, als hätte ich einen Besen verschluckt, und in mir beginnt sich eine eisige Angst breitzumachen. Was, wenn er mich nicht hierhaben will? Wenn er mich nicht wiedersehen will?

Aber dann sehe ich ein Lächeln und mein Herz schwillt an, wird größer und weist die anderen inneren Organe in ihre Schranken. Er winkt mir kurz zu, so gut es beim Spielen geht. Okay, es ist in Ordnung, dass ich hier bin.

Aber dann beschleicht mich ein anderer Gedanke: Helen! Ich sehe mich erschrocken um. Irgendwo hier muss sie sein, ich kann es fast schon spüren. Sie ist hier. Ich sehe zu den anderen Tischen, dann zu den Leuten, die keinen Sitzplatz bekommen haben. Der Raum ist gut gefüllt. Einige Frauen in unserem Alter. Ich suche nach ihrem Gesicht, ihrem Lächeln. Ich komme mir wie »die andere Frau« vor, und das fühlt sich mies und schäbig an. Ich kann sie nicht finden, aber ich bin kein Idiot, sie ist hier irgendwo. Vermutlich sind sie mehr oder weniger direkt aus Frankreich hier angekommen. Mein Blick geht wieder zur Bühne, und ich versuche, in jeder seiner Bewegungen zu erkennen, wo sie sein könnte. Ein Lächeln in eine bestimmte Ecke des Raumes, ein Zwinkern oder Winken. Aber er spielt einfach nur die Lieder, und das auch noch sehr gut.

Nach fast einer Dreiviertelstunde entscheidet sich die Band, eine kleine Pause zu machen, und somit habe ich die Chance, mich wieder etwas zu fangen. Wir bestellen jeweils ein neues Bier, und Marco entschuldigt sich plötzlich, aber er müsse sich jetzt sofort eine Zigarette genehmigen. Ich blicke ihm verdattert hinterher.

»Hey!«

Ich zucke merklich zusammen. Tristan taucht neben mir an der Bar auf, eine Flasche Bier in der Hand und dieses typische Tristan-Lächeln im Gesicht.

»Hey.«

Meine Stimme klingt merkwürdig belegt. Stille. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und ihm scheint es nicht anders zu gehen.

»Was machst du hier?«

Eine durchaus stimmige Frage, und ich bin sehr froh, eine Antwort zu haben. Vielleicht denkt er ja, dass ich nur wegen ihm da bin. Aber das ist nicht der Fall, und das finde ich gut.

»Marco, ein Freund, hat eine Begleitung gebraucht. Und du?«

Ganz offensichtlich bin ich noch nicht wieder Herr meiner Gedanken, denn sonst würde ich wohl kaum eine so selten dumme Frage stellen. Er grinst und zieht sich Marcos Stuhl zurecht. Na toll, jetzt hat er sich zu mir gesetzt und ist mir näher, als ich es verkrafte.

»Ich spiele mit Volkan und den Jungs in der Band.«

Ich will ihn umarmen und wissen, was mit ihm los ist, und ihm sagen, dass ich ihn vermisse, aber ich traue mich nicht, weil es unpassend ist und keinen Sinn ergibt. Vor allem nicht, wenn Helen da ist, und nach alldem, was ich bei unserem letzten Treffen zu ihm gesagt habe.

»Wie war der Bodensee?«

Er hat es also gelesen, ich muss lächeln.

»Toll. Wie war Frankreich?«

»Toll.«

Ich entscheide mich, ihm zu glauben, so wie er mir glaubt. Vielleicht waren beide Trips schön, und vielleicht hatten beide den gleichen Zweck, nämlich uns zu vergessen. Aber jetzt sitzen wir doch wieder zusammen an diesem Tresen und sehen uns an. Ich weiß nicht, was er fühlt, was ich für ihn bin, wo wir stehen oder wo Helen ist, aber ich freue mich so sehr, ihn zu sehen.

»Ich hoffe, wir sind nicht zu mies.«

Er nickt zur Bühne, und ich schüttele den Kopf, müsste aber lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich mich an die Songs erinnern könnte. Er nimmt einen Schluck Bier, und mein Blick fällt auf das Tattoo an seiner Handkante. Hope. Es berührt mich nach wie vor in meinem Inneren.

»Nein, ihr seid gut. Mit viel Alkohol sogar sehr gut.«

Er lacht, und ich entspanne mich etwas.

»Hast du einen Musikwunsch?«

Ich überlege kurz, kann aber nur in seine fragenden grünen Augen blicken und somit keinen klaren Gedanken mehr fassen.

»Keinen spontanen, nein, tut mir leid.«

»Wenn dir was einfällt, lass es mich wissen. Wir spielen so ziemlich alles.«

Ich nicke, sehe dann kurz an ihm vorbei und versuche zu erkennen, wo Marco steckt. Er müsste eigentlich gleich wieder hier sein, und ich weiß nicht so recht, wie viel ich von meinen Gefühlen für Tristan noch verbergen kann.

Da beugt Tristan sich zu mir herunter, so wie vorhin Marco, aber diesmal wird mir ganz warm. Es ist so, als würde von seinem Körper eine Wärme auf mich überspringen. Sofort kribbelt mein ganzer Körper, und mir wird bewusst, wie sehr ich seine Nähe vermisst habe.

»Du siehst atemberaubend aus.«

Damit steht er auf und ist wieder verschwunden. Ich halte mich an meinem Getränk fest und weiß: Mein Kopf läuft gerade knallrot an. Es scheint so, als würde mein Körper nicht wissen, wohin mit dem ganzen Blut, und als würde er es deshalb in mein Gesicht schießen, damit auch wirklich jeder im Raum sieht, wie sehr mich Tristans Worte bewegen.

Ich kann Marco riechen, noch bevor ich ihn sehe, und er lässt sich wieder auf den Stuhl neben mich fallen. Das verschafft mir den Bruchteil einer Sekunde, um mich wieder zu fassen.

»Kennt ihr euch gut?«

Er kommt direkt auf den Punkt, und ich spiele mit.

»Ja.«

»Woher kennt ihr euch?«

»Er ist mein Fahrradkurier.«

Das ist nicht einmal gelogen, und ich lächle ihn ehrlich an.

Bisher habe ich nicht gelogen. Ja, ich kenne ihn gut – und ja, er ist mein Fahrradkurier. Aber Marco scheint ebenso wenig überzeugt davon wie ich, nickt und deutet auf mein Gesicht.

»Nun, dein Fahrradkurier hat dir eine gesunde Farbe ins Gesicht gezaubert, meine Liebe.«

Er lacht und nimmt sein Glas in die Hand. Bevor ich etwas zu meiner Verteidigung erwidern kann, stößt er mit mir an.

»Er ist es, habe ich recht?«

»Er ist was?«

»Deine Muse. Die Fotos. Das neue Gefühl. All das, was du mir vorhin im Restaurant erzählt hast. Er ist es, oder?«

»Was? Nein, Quatsch. Er ist nur ein Freund.«

Und er weckt in mir längst verschüttete Träume und Hoffnungen und füllt mein Leben im Sekundentakt mit Lieblingsmomenten an, was eben schon wieder passiert ist. Als würde Gott nicht glauben, dass ich es bereits verstanden hätte. Zur Sicherheit lieber noch eine weitere Lektion in Sachen: »Was Tristan dir wirklich bedeutet«. Ich könnte genauso gut alles zugeben und nicken. Aber ich kann nicht.

»Er ist nur ein Freund. Wirklich.«

Das Licht wird wieder etwas stärker gedimmt, die Leute haben ihre Position eingenommen, und ich sehe wieder zur Bühne. Tristan ist nur ein Freund, der jetzt auf der Bühne steht, seine Gitarre neu stimmt – leicht gebeugt, das Plektrum zwischen den Zähnen, mit ernstem Gesichtsausdruck, und damit perfekt für ein Foto. Ich weiß nicht mehr, wie lange es gedauert hat, vermutlich nur Sekunden, aber ich weiß, noch während ich auf den Auslöser drücke, dass die Fotos, die ich von diesem Moment mache, unwiderstehlich gut werden. Sie sind voller Intimität. Tristan und seine Gitarre. Er hält sie wie einen Frauenkörper, zärtlich, fast schüchtern, voller Liebe. Sein Blick zeigt völlige Konzentration, seine nur einen schmalen Spalt geöffneten Lippen, seine leicht geröteten Wangen, ich habe alles aufgezeichnet.

Mich stört Marcos Blick nicht, weil ich ihm scheinbar ohnehin nichts vormachen kann und er mich bereits durchschaut hat. Aber mit der Kamera in der Hand habe ich zumindest eine Ausrede, um Tristan wieder betrachten zu können. Als er während des Stimmens einmal kurz aufblickt, seine grünen Augen direkt auf mich gerichtet sind und für einen Moment aufleuchten, schreckt er damit einen Schwarm Schmetterlinge in meinem Bauch auf, und ich falle fast vom Hocker. Als er sich sofort wieder lächelnd seiner Gitarre zuwendet, ist alles wieder so, als wäre nichts gewesen, nur das Flattern in mir beweist, dass das gerade wirklich passiert ist.

Volkan wendet sich wieder ans Publikum.

»Okay, als Nächstes spielen wir einen Klassiker der Wunschlieder. Und der Wunsch kommt diesmal direkt aus der Band. Tristan?«

Mein Körper spannt sich an, meine Hände klammern sich fest an meine Kamera, meine Atmung verändert sich. Und setzt schließlich aus. Tristan tritt ans Mikrofon und grüßt kurz die Menge.

»Sorry, wenn ich diesmal egoistisch meinen Wunsch vorschiebe. Aber heute ist jemand im Publikum, und ich möchte ihr gerne dieses Lied widmen. Viel Spaß.«

Mein Puls rast durch meinen Körper, als hätte Sebastian Vettel die Kontrolle über die roten Blutkörperchen übernommen, um das letzte Rennen der Formel-1-Saison zu gewinnen. Alles in meinem Kopf dreht sich. Ich versuche, mich zu beruhigen. Helen. Er spricht von Helen. Er wird ein kitschiges Liebeslied für seine Freundin singen. Er singt nicht für mich, also hör auf, dir so was einzubilden, du dumme Nuss! Es kann nicht um dich gehen. Es geht nicht um dich. Meine Atmung beruhigt sich wieder, und ich nehme einen Schluck Bier.

Tristan entfernt sich einen Schritt vom Mikrofon und scheint schon wieder seine Gitarre zu stimmen. Zumindest hört es sich zunächst so an. Er zupft verschiedene Saiten an, und dann entsteht plötzlich eine vage Melodie, aber es weckt keine musikalische Erinnerung. Ich lehne mich zurück. Er nickt mit dem Kopf, als habe er die richtige Stelle gefunden, und dann passiert es: Ich höre die Musik, nur ein paar Akkorde, und sofort weiß ich, um welches Lied es sich handelt. Es ist weltbekannt, es ist ein Klassiker, es ist ein Lied zum Tanzen und Mitsingen. Es ist, mehr denn je, mein Lied. Seine Finger sausen jetzt nur so über die Saiten. Er spielt Layla von Eric Clapton.

Tristan nähert sich dem Mikro und singt die ersten Zeilen mit geschlossenen Augen. Und für die nächsten drei Minuten muss mein Körper ohne mich überleben.

Würden nicht gerade tausend Gedanken gleichzeitig über mich hereinbrechen, wäre ich schon längst wie ein Groupie auf diese Bühne gestürmt, um ihn zu umarmen, zu küssen und von der Bühne zu schleifen. Tristan öffnet die Augen, sein Blick sucht im Publikum nach einem ganz bestimmten Gesicht, und es ist nicht das von Helen. Seine Augen finden meine. Die anderen Gäste scheinen zu verschwinden. Ich sehe nur noch ihn, sogar Marco existiert für diesen kurzen Moment nicht mehr. Ich habe Tristan bereits singen gehört, aber dieses Lied scheint für seine Stimme gemacht. Noch nie ist mir der Text so bewusst geworden wie heute Nacht. Ich weiß, dass Eric Clapton das Lied für die Frau von George Harrison geschrieben hat, in die er damals ganz schrecklich verliebt war. Sie war vergeben, und das auch noch an einen seiner Freunde. Tristan kennt Oliver nur von Fotos und aus Erzählungen, aber auch ich bin vergeben. Ich interpretiere zu viel in dieses Lied, nicht wahr? Es ist nur ein Lied, das so heißt wie ich.

Aber als im Refrain ein ganzer Saal meinen Namen singt, fällt mir die Behauptung schwer, ich würde mich nicht angesprochen fühlen. Durch seinen Gesang bittet Tristan mich – Layla – um eine Chance: Er sei doch schon auf seinen Knien! Und tatsächlich geht er in die Knie. Aber noch weigere ich mich, dem Liedtext Glauben zu schenken. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, Tristan einfach nur anzustarren. Er steht wieder auf, kommt an den Rand der Bühne, ein freches Lächeln auf seinem Gesicht, während er mich dabei genau ansieht. Ich muss lächeln und denke, spätestens jetzt haben auch die anderen im Raum verstanden, für wen er dieses Lied spielt. Es folgt ein Gitarrensolo, und Tristans Hände tanzen über die Saiten, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Er wirkt so selbstsicher und gelöst auf der Bühne. Er geht in diesem Lied scheinbar auf. Ich habe wirklich versucht, cool zu wirken, aber alle anderen im Raum klatschen auch. Und so gebe ich auf. Das Lächeln auf meinem Gesicht wird noch größer, und Tristan zwinkert mir zu, geht dann zum anderen Bühnenrand, und ich weiß, dass ich das Lied von nun an für immer mit Tristan in Verbindung bringen werde und dass … ich mich ohne Zweifel und endgültig in Tristan verliebt habe. Es ist sinnlos, mich weiterhin selbst zu belügen. Ich bin verliebt, in Tristan Wolf.

Marco lehnt sich zu mir.

»Nur dein Fahrradkurier, hm?«