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»Oli, ich geh dann mal. Die Arbeit ruft.«

Es ist Freitagabend, und Oliver sitzt in seiner Wohlfühlhose auf der Couch. Er sieht mich aus müden Augen an, obwohl es noch nicht einmal acht Uhr ist. Diese Woche war er oft lange unterwegs und morgens schon früh wieder auf den Beinen.

»Mach dir einen schönen Abend, Süße.«

Er lächelt mich ehrlich an, aber ich bin doch getroffen, denn ich gehe nicht, um mir einen schönen Abend zu machen. Ich gehe, um zu arbeiten.

Wir haben uns die letzten Tage kaum gesehen, geschweige denn gesprochen, und während für mich jetzt eine anstrengende Nacht beginnt, in der ich hoffe, möglichst viele gute Fotos zu schießen, die ich danach dem Veranstalter verkaufen kann, gibt er mir das Gefühl, ich würde nur einen netten Abend mit Freunden verbringen. Das macht er oft so, und ich fühle mich wieder klein, weil meine Arbeit es niemals mit seiner aufnehmen kann. Auch nicht, wenn ein bekannter Berliner DJ zu Gast in der Kesselstadt ist und ich mich heute mit ziemlicher Sicherheit die ganze Nacht durch eine dicht an dicht gedrängte Menschenmenge drängen muss, um brauchbare Bilder zu bekommen. Er hat ja keine Ahnung, und ich beschließe, zur Abwechslung doch einmal etwas zu sagen.

»Das ist Arbeit, kein netter Abend.«

Ich müsste nur noch lernen, es etwas lauter zu sagen. Aber er hat mich auch so gehört und sieht mich überrascht an.

»Das weiß ich doch, aber du sollst ja auch Spaß haben bei deinem Job.«

Wieso es mich kränkt, wie er mit mir spricht, kann ich nicht genau erklären. Es ist vielleicht auch nur die Art und Weise, wie er es sagt. Als wäre ich ein kleines Kind, das man an die Hand nehmen muss. Der Begriff »Party-Knipserin« stammt übrigens von ihm.

»Spaß wäre es höchstens, wenn du mich mal wieder begleiten würdest. Wann kommst du mal wieder mit?«

Er hebt nur die Arme und lässt sie dann wieder auf seine Oberschenkel fallen.

»Keine Ahnung. Ich bin müde, und ich fühle mich inzwischen, ehrlich gesagt, auch ein bisschen fehl am Platze, zwischen all den feierwütigen Teenies.«

Ich glaube ihm, allerdings kommt mir gerade nicht zum ersten Mal der Gedanke, dass es ihm irgendwie auch peinlich ist, mit mir durch die Clubs zu ziehen, vielleicht vor seinen Freunden oder sich selbst. Das würde schmerzen, wenn es wahr wäre. Deshalb frage ich lieber erst gar nicht, sondern gehe einfach alleine.

»Okay. Es kann spät werden.«

»Aber nicht zu spät. Morgen kommen meine Eltern. Vergiss das bitte nicht.«

Ich nicke nur bitter, packe meine Tasche und gebe mir Mühe, dabei besonders genervt zu wirken. Er beobachtet mich, aber ich denke, dass es ihm nicht wirklich auffällt. Ja, ich bin wütend auf ihn, aber natürlich sage ich es ihm nicht, weil er dann eine unendlich lange Diskussion eröffnet und ich zu spät zu dem Event komme. Das kann ich mir nicht leisten.

»Trägst du nicht dein Werbeshirt?«

Oha! Er hat es bemerkt! Das muss ich ihm hoch anrechnen.

»Richtig. Ich habe mich zur Abwechslung mal ein bisschen chic gemacht. Gefällt es dir?«

Ich stelle mich etwas aufrechter hin und drehe mich einmal um die eigene Achse. Ich trage meine perfekt sitzende schwarze Lieblingsjeans, die mich immer dazu zwingt, zwei Tage vor dem Anziehen nichts mehr zu essen, um den Knopf auch ohne Verrenkungen schließen zu können. Dazu trage ich eine stylische weiße Bluse aus zartem Chiffon mit einem schönen – etwas gewagten – Ausschnitt und feinen goldenen Ziernähten. Meine silbernen Standard-Knopfohrringe habe ich durch dezente goldene Kreolen ersetzt.

»Doch, das ist nett, aber dein Arbeits-T-Shirt ist eine gute Extrawerbung, und deine Finanzen könnten eine kleine Aufbesserung gut vertragen.«

Ich nicke. Das kam aus dem Nichts – und saß.

»Das ist nicht böse gemeint, Schatz, aber deswegen haben wir sie ja machen lassen.«

Ich nicke wieder. Ich habe keine Ahnung, wie ich darauf reagieren soll. Er lächelt mich an, und ich bin mir ganz sicher, er meint es nur gut. Oliver würde mir nie wissentlich wehtun. Manchmal drückt er es vielleicht etwas ungeschickt aus, aber ihm ist es wichtig, dass es mir gut geht. Er sorgt sich um mich, immer schon. Er hat immer alle meine Rechnungen daraufhin gecheckt, ob ich auch ja nicht über den Tisch gezogen werde, und er hat auch meine Versicherungen überprüft, damit ich keinen Unsinn abschließe. Dank ihm habe ich jetzt einen tollen Handyvertrag mit einem Spitzentarif und Flatrate ins Festnetz. Oliver ist wie einer dieser gelben Engel auf der Autobahn. Er ist da, wenn man ihn braucht, und die Sicherheit, die er mir gibt, ist einer der Gründe, wieso ich mich bei ihm so wohlfühle.

»Na? Willst du dich nicht doch lieber umziehen?«

Und zugleich der Grund, wieso ich mich unendlich klein und nutzlos fühle.

»Nein.«

Damit verlasse ich unsere Wohnung.

Die Schlange zieht sich um den halben Block, und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich den wartenden Fans am liebsten jetzt schon sagen würde, dass sie es ohne Eintrittskarte nicht mehr in das enge Kellergewölbe schaffen werden. Aber wozu Herzen brechen? Ich schlendere an ihnen allen vorbei und ernte einige missgünstige Blicke, die ich vielleicht sogar verdient habe. Nein, habe ich nicht. Ich arbeite hier. Die wenigen echten Vorteile meines Jobs lasse ich mir nicht von Leuten vermiesen, die sich nicht rechtzeitig um Karten gekümmert haben – oder keine Ahnung davon haben, was ich hier eigentlich leiste.

An der Tür stehen zwei Männer, beide in Schwarz gekleidet. Ist das ein geheimer Türsteher-Dress-Code oder so was in der Art? Da dreht sich einer der beiden um, und sofort beginnt es leise in mir zu flattern. Es ist Tristan. Er lächelt mich an und winkt mir zu.

Seit Dienstagnacht haben wir nur über Facebook Kontakt gehabt, ganz öffentlich und harmlos, nur Beccie hat sich natürlich beschwert, wieso er sie nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit bedacht hat wie mich. Eine Antwort darauf habe ich bis heute nicht, und meine Ahnung verdränge ich ganz schnell und tief irgendwohin, wo ich sie nicht finden und mich mit ihr beschäftigen muss. Gleich neben den Pool-Traum.

Ich winke zurück und gehe direkt zu ihm an die Eingangstür, was zu einem kurzen Aufruhr in der Schlange führt, der vom anderen Türsteher aber mit einem strengen Blick sofort beendet wird. Dann stehen Tristan und ich uns gegenüber, und ich weiß nicht, wie ich ihn begrüßen soll. Ich unterdrücke den Impuls, ihm einfach schnell meine Hand entgegenzustrecken, und mache einen mutigen Schritt auf ihn zu. Er lächelt, beugt sich zu mir herunter, und kurz flackern in mir Bilder von einem nur von Sternenlicht erleuchteten Pool auf. Ich halte den Atem an und versuche, an etwas anderes zu denken.

Oliver. Helen. Nur Freunde.

Das funktioniert. Wir umarmen uns kurz, dann schiebe ich mich auch schon ins Innere, steige die erste Treppenstufe nach unten und frage mich, wieso ich nichts gesagt habe.

»Layla?«

Ich drehe mich wieder um. Er hält die Tür oben offen und lächelt zu mir runter.

»Gut siehst du aus.«

Damit lässt er die Tür wieder zufallen, und ich spüre, wie sich meine Lippen zu einem besonders dümmlichen Grinsen verziehen. Solche Komplimente sind in meinem realen Leben eher selten angesiedelt, vielleicht freut es mich deswegen besonders. Oder es liegt daran, dass es von Tristan kommt, was ich mir vorstellen kann, es aber nicht möchte. Andererseits können sich Freunde doch gegenseitig Komplimente machen, oder? Eben.

Im Inneren werde ich vom Veranstalter in Empfang genommen, bekomme backstage noch ein paar Instruktionen und bereite dann meine Kamera vor. Langsam füllt sich der Laden, die Luft wird schlechter, die Laune dafür besser, und so steigen auch die Temperaturen. Hände werden in die Luft gehalten, zappelnde Körper, jubelnde Menschen. Der Hauptakt ist noch nicht mal da, und doch kocht die Stimmung. Ich mache ein paar Fotos von der Menge, schieße mich quasi warm. So wie die Fußballer im Training, die üben ja schließlich auch immer ihre Freistöße für den Ernstfall.

Da entdecke ich Beccie in der Menge und winke ihr zu. Sie winkt zurück und deutet zur Bar. Ich kämpfe mich durch die immer dichter gedrängt stehenden und tanzenden Leute und werde mit einer herzlichen Umarmung von Beccie begrüßt.

»Hey, Layla, ich dachte schon, du kommst nicht mehr!«

»Natürlich komme ich. Ich arbeite hier.«

»Wenn noch mehr Leute reinkommen, kann sich bald keiner mehr bewegen!«

Beccie fächert sich Luft zu und bestellt ein Bier, untypisch für sie, aber jetzt muss das Getränk nur kalt und flüssig sein. Ich nehme ein Bitter Lemon, weil es zu früh ist, um mit dem Alkohol anzufangen. Ich muss noch viele Fotos machen, auch von dem DJ, den ich bereits hinter dem Mischpult werkeln gesehen habe. Er hat über die Anlage gemeckert und über den schlechten Sound. Typisch arroganter Berliner, will die Schwäbin in mir denken, aber auch er macht nur seinen Job und möchte vermutlich die beste Performance abgeben, die ihm dieser Club hier ermöglicht. Bisher war sein Gesichtsausdruck jedenfalls so, dass ich kein Foto von ihm schießen wollte.

»Tristan sieht heute toll aus!«

Sie schreit mir so laut ins Ohr, dass ich annehme, die meisten Clubbesucher haben das nun auch vernommen, und so nicke ich nur.

»Wirklich gut!«

Dabei grinst sie mich vielsagend an. Ich kenne Beccie und weiß, was sie denkt und was sie damit sagen will. Aber ich finde, auch sie sollte etwas mehr Respekt vor der Tatsache haben, dass Tristan vergeben ist.

»Er hat eine Freundin, Beccie. Sie heißt Helen!«

»Und? Ich habe sie noch nie bei ihm gesehen. Vielleicht haben die gerade eine Krise?«

Sie zwinkert mir zu und nimmt einen beherzten Schluck Bier.

»Beccie …«

»Entspann dich! Er wird sich schon wehren, wenn er nicht will! Und mach ein paar schöne Fotos von mir!«

Damit drückt sie mir einen festen Kuss auf die Wange und tanzt wieder in die Menge, darauf bedacht, keinen Schluck Bier zu verschütten, während ich noch immer mit den Mordgelüsten in meinem Inneren kämpfe. Sie hat wirklich keine Skrupel. Beccie kann doch nicht einfach so die Grenze überschreiten, fast tänzelnd, während ich mich verzweifelt an genau diese Grenze klammere. Manchmal wünsche ich mir wirklich, ich hätte einen miesen Charakter. Dann wäre mir das alles egal, und ich würde einfach schauen, wie weit ich gehen kann – oder will. Um mich abzulenken und nicht daran zu denken, dass Beccie in spätestens zehn Minuten die Treppe nach oben wackelt, um sich mit Tristan zu unterhalten, stelle ich mich wieder an den Rand der Tanzfläche und mache weitere Probeschüsse.

Immer wieder bin ich irritiert, wie jung manche Besucher hier sind oder zumindest wirken. Während die Jungs noch so aussehen, als würde Mama sie morgens mit einer passenden Klamottenauswahl überraschen, scheinen die weiblichen Pendants etwas älter, tragen aber mehr Make-up als Daniela Katzenberger an ihren guten Tagen und bewegen sich so, als wäre eine Go-go-Tanzausbildung schon in der Unterstufe Pflichtfach. Ich schüttele innerlich den Kopf und schenke ihnen die fünf Sekunden Aufmerksamkeit, die sie sich bei dem Besuch heute erhofft und erwünscht haben. Ich bin immer wieder überrascht, wie willig sich die Leute vor meine Kameralinse werfen. Sie werden vielleicht auf der Homepage des Veranstalters und des Clubbesitzers auftauchen, und das ist dann eine Rundmail an alle Facebook-Freunde wert. Sie werfen sich in Pose, sie lächeln, sie versuchen so verführerisch zu schauen wie Adriana Lima bei ihrem Bikini-Shooting in Rio für die Sports Illustrated, und sie machen sich dadurch manchmal leider eher lächerlich. Aber ich bin Profi, lächle, mache ein paar Schüsse, die ich sofort wieder lösche, und widme mich dem nächsten Objekt, das auf der Suche nach Aufmerksamkeit ist. Ein typischer Freitagabend im schönen Stuttgart.

Nur leider flaut die Stimmung langsam, aber sicher ab, denn der DJ lässt sich erstaunlich viel Zeit, und auch in mir flammt, während ich darauf warte, dass es endlich losgeht, wieder eine leichte Wut auf, die noch immer in mir brodelt. Wieso nimmt Oliver mich und meine Arbeit nicht ernst? Das, was ich hier tue, ist ziemlich anstrengend. Obwohl man die Luft im Club inzwischen schneiden könnte und ich dauernd von angetrunkenen Gästen angerempelt werde, habe ich bereits eine beachtliche Menge brauchbarer Fotos schießen können. Ich würde Oliver auch gerne zeigen, dass dieser Event wirklich etwas bedeutet und ich angefragt worden bin. Niemand sonst! Ich bin die erste Wahl. Manchmal werden zwei Fotografen beauftragt und dann die besten Fotos in einer Art Mischung ausgewählt. In diesem Fall haben die Veranstalter nur mich angefragt – weil sie mir vertrauen. Das bedeutet mir viel. Aber ich weiß, selbst wenn ich Oliver das erklären würde, er würde es nicht verstehen. Andererseits kann ich ihm nicht die ganze Schuld in die Schuhe schieben. Es liegt auch an mir. Sobald ich jemandem meinen Job erklären möchte, mache ich mich automatisch kleiner, als ich bin. Auf die Frage, was ich beruflich denn so mache, antworte ich für gewöhnlich: »Ach, ich bin Party-Knipserin.« Dabei liebe ich die Fotografie von ganzem Herzen und wünsche mir insgeheim so viel mehr. Am liebsten würde ich einfach meine Koffer packen und für ein halbes Jahr verschwinden, um die ganze Welt zu sehen. Ich würde gerne einzigartige Fotos von den unterschiedlichsten Menschen rund um den Globus machen, aber sobald ich das Wort »Reise« auch nur in den Mund nehme, schlägt Oliver vor, mit dem Wohnmobil an den Bodensee zu fahren, um ein bisschen auszuspannen. Ich liebe den Bodensee, aber er ist nicht gerade das, was ich mir unter einer Reise vorstelle. Sobald ich aber mal Australien oder gar Asien anspreche, zählt mir Oliver alle möglichen Impfungen auf, die wir vorher über uns ergehen lassen müssten – und spätestens da vergeht auch mir der Spaß. Er hat mit alldem vermutlich sogar recht, aber ich würde manchmal gerne etwas mehr sehen als nur das hier.

Es wird immer voller, und der DJ hat sich noch immer nicht blicken lassen. Auch Beccie habe ich schon länger nicht mehr auf der Tanzfläche gesehen, was mich nervös werden lässt. Ist sie oben bei Tristan? Zwar macht er nicht den Eindruck, von Beccie besonders angetan zu sein, aber ich kenne meine beste Freundin nur zu gut. Wenn sie etwas will, dann kriegt sie es meistens auch. Vergeben oder nicht, auch Tristan ist nur ein Mann, und Beccie weiß genau, wie sie die Waffen einer Frau einsetzen muss, um auch ihn ins Wanken zu bringen. Da bin ich mir sicher.

Während ich weiterhin einige Betrunkene knipse, kippt die Stimmung um mich herum ganz. Die ersten Gäste tuscheln, dass der DJ nicht auftreten wolle, weil das Soundsystem nicht so gut sei, wie er angenommen hat. Noch ist es nur ein Gerücht, aber die verbreiten sich ja gewöhnlich schneller und besser als jede Tatsache zu einem Thema. Zuerst wird nur ein bisschen genervt geschubst, dann gegrölt, dann wird die Mischung plötzlich explosiver. Die Menge gerät in Bewegung. Die erste Bierflasche fliegt in Richtung DJ-Pult, und obwohl über Lautsprecher darum gebeten wird, ruhig zu bleiben und sich zu beruhigen, weil alles in bester Ordnung sei, haben das manche noch nicht verstanden. Mädchen versuchen, sich mit angsterfüllten Gesichtern an den Rand der Tanzfläche zu retten, während leicht alkoholisierte Früh-Twens sich wütend weiter in Richtung DJ-Pult schieben. Direkt auf mich zu. Ich werde an die Wand daneben gedrückt, wo ich mich direkt in der Schusslinie potenzieller fliegender Geschosse befinde. Einer der Security-Gorillas schiebt sich zwischen Menge und DJ. Seine Größe wirkt auf einige zwar sicherlich imposant, aber ich befürchte, hier wird es gleich einen Knall geben. Wir kennen solche Situationen doch alle. Es läuft nicht so, wie es soll, irgendwas geht schief, sei es nun der Soundcheck oder etwas anderes, dazu das Gemisch aus Wut und Alkohol – und bevor man sichs versieht, ist man mitten in einer unüberschaubaren, von den Umständen angeheizten Meute, die nicht mehr zu halten ist. Ich spüre, wie mir das Adrenalin durch den Körper schießt. Obwohl ich mich wirklich nicht als Paparazzi oder gar Kriegsfotografin fühle, schieße ich hastig ein paar Fotos, die den Moment ziemlich gut einfangen. Wütende Gesichter junger Leute, die sich einiges mehr vom heutigen Abend versprochen haben, sammeln sich auf der einen Seite, während der Mann von der Security zwar noch immer größer ist als die meisten anderen, aber momentan eben auch alleine. Vom Hauptakt des Abends ist jedenfalls nichts mehr zu sehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der DJ den Laden bereits durch den Hinterausgang verlassen hat und in einem Van mit verdunkelten Scheiben durch die Stuttgarter Nacht düst. Somit trifft das, was auch immer hier gleich passieren mag, auf jeden Fall die falschen Leute.

Plötzlich fliegt eine Bierflasche aus den hinteren Reihen nach vorne und schlägt nur knapp neben mir und dem Security-Mann ein. Das Licht im Laden wird eingeschaltet, und ich sehe mehr Menschen, als mir lieb ist. Manche Mädels sehen genauso unglücklich aus wie ich und wollen eigentlich lieber sofort gehen, während die meisten Jungs ihr Testosteron auf volle Pulle stellen und sich beweisen wollen. Durch die Tür an der Treppe treten zwei weitere Männer in Schwarz. Ich erkenne Tristan, der die Lage im Raum kurz sondiert und mit gezielten Handgriffen die ersten Jungs zur Tür bugsiert und ins Freie schiebt.

Ich fühle mich auf einmal wie in der Mitte eines Punk-Konzertes, bei dem sich alle Zuschauer zu einer wilden Runde Pogo aufgefordert fühlen. Egal ob man will oder nicht, der Name landet auf der Tanzkarte, und man kann nur hoffen, nicht zu stolpern. Ich halte mich an meiner Kamera fest, in der stillen Hoffnung, sie würde mir den Halt geben, den ich jetzt brauche – denn auch ich bin durch das Geschubse und Gedränge irgendwie in diesem Chaos gelandet. Die Luft ist ohnehin schon schlecht genug, und ich neige dazu, mich in einer extremen Menschenmenge, die ganz offensichtlich nicht in einem Zustand besonderer Begeisterung steht, unwohl zu fühlen. Ich spüre Hände an Körperstellen, die eher privater Natur sind, Ellenbogen auf Gesichtshöhe, werde von links nach rechts geschubst und hoffe sehr, nicht zu fallen. Wobei fallen in dieser Menge kein treffendes Wort wäre, ich würde den Boden vermutlich ohnehin nicht berühren. Ich atme tief durch und versuche, die Ruhe zu bewahren. Panik würde jetzt ohnehin nichts bringen. Doch dann zerrt mich plötzlich irgendwer zu Boden. Ich lande auf den Knien, meine Kamera baumelt verdächtig nah an den Schuhen tretender Jugendlicher. Ich versuche, sie irgendwie zu schützen, muss dafür aber in eine embryonale Schutzhaltung. Ich muss hier raus. Und zwar schnell.

Kriechend bekomme ich vom Chaos über mir nicht besonders viel mit. Ich bin auf Bodenhöhe irgendwie 20000 Meilen unter dem Meer. Aber hier unten ist es leider nicht viel ruhiger als oben. Das Getümmel über mir wird etwas ruppiger, und ein Mädchen tritt mir bei meinem Versuch, gleichzeitig meine Kamera zu schützen und nicht umzukippen, auf die Hand. Falls es mir nicht aufgefallen sein sollte, heute ist der Tag wirklich für die Katz! Da packt eine Hand meine Schulter und zerrt mich zurück an die Oberfläche, bis ich wieder auf meinen Füßen stehe. Jemand zieht mich entgegen meinem geplanten Fluchtweg nach hinten, bis ich hart gegen die Wand pralle, und eine dunkle Gestalt stellt sich sehr dicht vor mich. Ich sehe nach oben in Tristans angespanntes Gesicht, und sofort macht sich Erleichterung in meinem Körper breit. Sicherheit. Er lehnt sich nach vorne, und seine Wange streift meine.

»Bist du okay?«

Ich nicke schnell und kann mich auf nichts anderes als seinen Körper konzentrieren, der zwischen mir und der Menge steht – und mir sehr nah ist.

»Bleib genau hier, verstanden?«

Wieder nicke ich, weil es wie ein Befehl klingt und weil mein Herz gerade ganz wild schlägt und ich froh bin, mich an diese Wand lehnen zu können. Meine Knie sind zittrig, und die Stimmung um uns herum ist noch bedrohlicher geworden.

Tristan löst sich von mir, erkämpft sich einen Weg zurück in die Menge, wo noch andere Mädchen panisch nach einer rettenden Hand suchen. Tristan und ein paar Kollegen versuchen etwas Ruhe in das Gedränge zu bekommen, und es gelingt ihnen soweit ganz gut. Einige Jungs sind scheinbar eingeschüchtert von Tristans Größe, was ich von meiner Position an der Wand zu beobachten meine. Es wird ein wenig ruhiger, und Tristan schaut mit bösen, durchdringenden Blicken um sich, die ihre Wirkung nicht zu verfehlen scheinen. Langsam bringt er andere Mädchen an die Seite, die erleichtert und kurzatmig versuchen, nicht die Nerven zu verlieren. Dann kommt Tristan zurück zu mir. Er stellt sich wieder dicht vor mich hin und sieht mich direkt an. Er muss die Frage nicht aussprechen, ich lese sie in seinem Blick. Er will wissen, ob es mir gut geht, und ich nicke zwar, weil ich ihn nicht beunruhigen möchte, aber in Wahrheit kippe ich gleich um und meine Hand tut höllisch weh. Manche Frauen sollten wissen, dass die Pumps an ihren Füßen verkappte Waffen sind.

Jemand prallt von hinten gegen Tristan, sein Becken wird gegen meines geschoben, und wir berühren einander plötzlich an Körperstellen, von denen ich vorgestern Nacht geträumt habe. Unsere Gesichter sind nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, und es fühlt sich plötzlich ein kleines bisschen so an, als würde die Welt stillstehen. Ich unterdrücke den Impuls, meine Hände an seine Hüften zu legen, um ihn an mich zu ziehen … und wenn ich nicht sofort wieder anfange zu atmen, werde ich tatsächlich gleich noch ohnmächtig. Seine Hände liegen an der Wand neben meinen Schultern, und er schirmt mich mit seinem Körper von der noch immer aufgebrachten Menge ab. Von Zeit zu Zeit muss Tristan sich anstrengen, um nicht umgestoßen zu werden. Ich weiß, er sollte jetzt eigentlich irgendwelche Mädchen aus der Menge ziehen, aber ich will nicht, dass er geht. Egal was hinter Tristans Rücken passiert, ich bin hier sicher. Sein Blick liegt ruhig auf meinem Gesicht, aber ich sehe, wie konzentriert er ist, seine Kiefermuskeln sind angespannt, und sein Atem geht schnell. Ich halte seinen Blick, und ein kurzes Lächeln huscht über meine Lippen. Er bemerkt es, und sein Blick wird etwas weicher. Er hat unverschämt schöne Augen.

Im hinteren Bereich wird endlich eine Doppeltür nach oben geöffnet, und so wird Platz auf der Tanzfläche geschaffen. Ich spüre die Nachtluft ins Innere strömen und höre erleichterte Schreie der Mädels. Der Laden leert sich. Tristan entspannt sich langsam. Noch immer berühren sich unsere Körper. Ich will nicht, dass er sich von mir löst. Ich will genau so stehen bleiben. Für immer. Er sieht mich fragend an, und mit einem Mal jagen Millionen Schmetterlinge und kleine surrende Käfer wie wild durch meinen Körper. Ich müsste mich jetzt nur ein wenig vorbeugen und … Ich schließe die Augen und spüre seine Nähe. Ich will ihn anfassen, berühren, ich will ihn küssen und festhalten. Dieses Gefühl, dem ich unter keinen Umständen nachgeben darf, zerreißt mich. Nein, es darf nicht sein. Zuerst einmal atme ich aber tief durch. Es ist nur das Adrenalin, mehr nicht. Mehr gestehe ich mir offiziell nicht ein und öffne langsam wieder die Augen. Verdammt. Ich könnte ihn stundenlang einfach nur anstarren.

Die anderen Security-Männer schieben nicht mehr ganz so vorlaute Jungs und Mädels durch die Tür, lassen sich auf keine Diskussion ein, und so leert sich alles binnen weniger Minuten. Die Situation ist, für meinen Geschmack, im letzten Moment entschärft worden. Tristan bleibt trotzdem nah bei mir stehen, unsere Körper berühren sich seit mehreren Minuten nonstop. Auch ich bewege mich keinen Zentimeter und spüre eine Gänsehaut am ganzen Körper. Wie wir für Außenstehende wohl gerade aussehen?

»Ist alles okay? Hast du dir wehgetan?«

Ich schüttele den Kopf. Er macht einen kleinen Schritt zurück, und sein Blick fällt auf meine Hand, die ein bisschen blutet und schon fast nicht mehr wehtut. Es ist sicherlich nichts Ernstes. Ich werde keine Gliedmaßen verlieren, so viel steht fest. Allerdings stört mich die plötzliche Distanz zwischen uns mehr, als ich jemals zugeben würde. Als er dann aber nach meiner Hand greift und sie berührt, ist das wie ein kleiner Stromschlag, und ich atme schnell ein.

»Tut sie weh?«

»Nicht wirklich.«

Tristan hält meine Hand behutsam in seiner. So als könnte sie jeden Moment zerbrechen.

»Das sieht übel aus.«

»Das ist … doch nur ein Kratzer.«

Tristan lässt meine Hand nicht los. Er führt mich langsam zur Bar, wo er sich über die Theke beugt, nach einem Geschirrtuch greift und Eiswürfel aus einem Eimer hineinpackt. Ich setze mich auf einen der Barstühle und beobachte ihn. Natürlich erhasche ich wieder einen Blick auf seine Boxershorts, und natürlich machen sich meine Gedanken sofort wieder selbstständig. Mein Traum. Am Pool. Im Pool. Ich atme tief durch und lächle ihn an, als er sich mit dem Geschirrtuch voller Eiswürfel zu mir dreht. Das Ganze wickelt er vorsichtig um meine Hand.

»Das dürfte erst einmal reichen.«

Ich betrachte sein Erste-Hilfe-Geflecht um meine Hand und bin beeindruckt.

»Danke.«

»Eigentlich müsste ich deine Wunde jetzt noch mit hochprozentigem Alkohol zwingend desinfizieren … Aber … ich glaube, das geht auch so.«

Ich lächle und behalte meine Hand aus reiner Vorsicht trotzdem in meiner Nähe. Tristan macht einen Schritt auf mich zu, und sofort flattert und schwirrt es wieder in mir. Er legt seine Hand an meine Wange und sieht mich genauer an. Meine Knie werden weich, er muss aufhören, mich zu berühren, sonst kann ich für nichts garantieren.

»Sonst bist du okay? Willst du was zu trinken?«

Diesmal nicke ich, mein Mund ist trocken. Ich schiebe es darauf, dass, wenn der Adrenalinspiegel erst mal wieder gesunken ist, man zittrig wird. Das klingt jedenfalls besser als die Alternative.

Er greift nach einer frischen Bierflasche hinter dem Tresen und reicht sie mir.

»Ich bin sofort wieder da.«

Und während ich mein Bier in kleinen Schlucken trinke, geht Tristan seinem eigentlichen Job nach. Ich weiß nicht, worüber gesprochen wird, ich weiß nicht, was als Nächstes passieren wird. Ich sitze nur da, trinke mein Bier und ertappe mich dabei, wie ich zwei Fotos schieße. Natürlich von Tristan.

Dann betrachte ich das Chaos um mich herum und eines wird mir schnell klar: Zum Glück war Oliver heute nicht dabei. Er ist nicht besonders gut in solchen Situation, denn sie sind nicht klar und durchstrukturiert. Das ist alles nichts für ihn. Und ob er mich in der Menge hätte beschützen können? Ich bezweifele es. Das soll nicht abwertend klingen, ohne Zweifel hätte er sich Sorgen um mich gemacht, gar keine Frage, aber er ist nicht der Typ, der sich durch eine aufgebrachte Menge kämpft, um mich mit einer beherzten Handbewegung an den Rand zu ziehen. Er hätte wahrscheinlich nach mir gerufen und versucht, meine Hand zu halten, aber er hätte nicht wie Tristan reagiert. Er ist nicht wie Tristan. Und vor allem ist er kein Held in strahlender Rüstung, der wütend und besorgt alles aus dem Weg schlägt, was sich ihm entgegenstellt. Hand aufs Herz: Er hätte das alles schon früh kommen sehen, hätte mich rechtzeitig aus der Schusslinie geholt und draußen von seinem Handy aus die Polizei angerufen, dann hätte er den Veranstaltern morgen einen bösen Brief geschrieben, bei Facebook eine Gruppe gegen solche Ereignisse gegründet und all seine Freunde dazu eingeladen. Er ist ganz einfach so, daran wird sich auch nichts mehr ändern. Das alles ist nicht zu verurteilen, aber er ist nicht Tristan. Ich habe auch keine solche Situation gebraucht, um das zu verstehen. Ich wusste es schon vorher.

»Soll ich dich nach Hause fahren?«

Ich weiß nicht, wie lange ich schon alleine an der Bar sitze oder was wirklich in der Zwischenzeit passiert ist. Ich bin nicht besonders gut im Abschätzen von Zeit, Entfernungen oder gar Gewicht. Ganz und gar nicht. Meine Bierflasche ist jedenfalls leer, wie auch der komplette Club. Nur noch Tristan steht da.

»Klar.«

Irgendwie ist alles noch nicht so ganz in mein Bewusstsein gesickert, was hier gerade geschehen ist. Es fühlt sich eher an, als hätte mir jemand eben ganz aufgeregt davon erzählt. Als hätte Beccie es mir erzählt. Beccie! O nein! Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit wir uns an der Bar verabschiedet haben, und wer weiß, wo sie sich befunden hat, als das Chaos losging.

»Hast du Beccie gesehen?«

Tristan nickt.

»Sie war bei mir oben an der Tür. Ich bin rein, als das Chaos ausgebrochen ist.«

»Also war sie draußen?«

»Keine Sorge. Ihr ist nichts passiert. Komm, ich fahre dich nach Hause.«

Ich atme erleichtert aus. Dann fällt mir etwas anderes ein.

»Mit dem Roller?«

In dem Fall wäre mir ein Taxi tatsächlich lieber. Ich glaube nicht, dass ich in der Lage bin, mich heute Abend in den Kurven an ihm festzuhalten. Das wäre zu viel. Ich bin auch nur ein Mensch.

»Ich bin mit meinem VW-Bus hier.«

»Bus? Das klingt gut.«

Mir fallen die Fotos auf Facebook wieder ein.

Der blaue VW-Bus ist eine sympathische Kreuzung aus Wohnzimmer und Auto. Er steht auf dem Parkplatz, in der zweiten Reihe, und der Innenraum ist mit viel Liebe eingerichtet. Als ich einsteige, fühlt es sich so an, als dürfe ich ein bisschen weiter in Tristans Welt eintauchen. Ich sehe Kleinigkeiten, die für mich jetzt schon typisch Tristan sind. Polaroidfotos von lachenden Freunden und schönen Momenten, die an der Seitenwand kleben, Erinnerungen, die er offensichtlich bei jeder Fahrt um den Block bei sich haben möchte. Am Rückspiegel hängt eine Kette mit einer kleinen Muschel als Anhänger, auf dem Armaturenbrett entdecke ich eine kleine Packung Surfbrett-Wachs, und im hinteren Teil sehe ich eine Gitarre, die schon deutlich bessere Zeiten erlebt hat. Es ist kein Kitsch, es ist kein Trash – es ist Tristan. Hier drinnen könnte er sicherlich auch leben, wenn er müsste oder dürfte, das sehe ich sofort. Mir wird bewusst, diese Fahrt im Bus könnte um einiges intimer werden als die Rollerfahrt vor einigen Tagen. Ich nehme auf dem Beifahrersitz Platz und spüre, wie die Realität langsam wieder in meinen Körper zurückkehrt. Ich greife nach meinem Handy und bemerke vier Anrufe in Abwesenheit und drei SMS-Nachrichten. Vermutlich hat Oliver mitbekommen, dass etwas passiert ist, und will jetzt wissen, ob es mir gut geht. Ich checke meine Mailbox, während Tristan seine schwarze Jacke auszieht und in einem weißen T-Shirt neben mir Platz nimmt.

Aber es ist nur Beccie. Und zwar jedes Mal. Voller Panik fragt sie nach, wo ich bin und ob ich es lebend aus der Hölle geschafft habe. Ihre Stimme klingt eine Oktave höher als sonst, und ich würde sie dafür am liebsten knutschen. Auch zwei der Kurznachrichten sind von ihr, nur eine ist von Oliver, und sofort überfällt mich ein Schuldgefühl. Er hat sich bestimmt große Sorgen gemacht – und ich? Ich genieße Tristans Nähe. Ich öffne die Nachricht.

Keine Milch mehr im Haus, auf dem Heimweg bitte besorgen!

Sonst nichts. Wieso macht sich diese Kühle in meinem Inneren breit und vertreibt die Rührseligkeit, die Beccies Reaktion in mir ausgelöst hat? Und wieso lasse ich das zu? Schnell schreibe ich Beccie, dass es mir gut geht und dass sie sich keine Sorgen zu machen braucht. Ich überlege kurz, aber mir fällt nichts ein, was ich Oliver antworten sollte. Seine Nachricht ist ja auch eher ein Befehl als eine Frage.

Tristan wirft mir einen kurzen Blick zu.

»Alles okay da drüben?«

Ich nicke, aber das überzeugt weder ihn noch mich.

»Macht es dir was aus, wenn ich schnell an der Tanke halte?«

Ich sehe das blaue Schild, das eine baldige Antwort auf seine Frage erfordert. Ich habe Angst zu sprechen, weil er sonst hören könnte, wie traurig ich bin. Ein weiteres Nicken reicht. Ich spüre seinen Blick auf mir, und es ist kein unangenehmes Gefühl. Es ist keine Last. Es ist nicht wie Blei, sondern fühlt sich an, als ob er mich mit seinen Blicken trösten möchte, als ob er mir sanft über die Wange streichelt. Aber er soll damit aufhören, weil es sich zu gut anfühlt und weil wir das nicht dürfen. Ich hätte mir doch ein Taxi nehmen sollen.

Er parkt den Bus in der Nähe des Tankstellen-Shops und wartet einen kurzen Moment, aber ich sage nichts. Als auch er nichts sagt, schaue ich ihn an und sehe, wie er mich verschmitzt anlächelt. Was ist hier los?

»Layla … Ich denke, ich habe eine ganz gute Idee. Komm mit.«

Eigentlich will ich gar nicht mit, aber ich bin müde und habe keine Lust zu streiten, vor allem nicht mit ihm. Außerdem bin ich neugierig, was für eine Idee das sein könnte. Also folge ich ihm aus dem Bus und in den Tankstellen-Shop.

Als sich die Schiebetür hinter mir schließt, weiß ich, dass Tristans Idee mehr als ganz gut ist. Sie ist perfekt. Für mich sind überteuerte Shops wie diese nämlich ein kleines Paradies. Ich könnte alles, was es hier käuflich zu erwerben gibt, für viel weniger Geld auch in meinem Edeka gegenüber kaufen, aber da will ich solche Dinge nie. Ich weiß nicht genau warum, aber in einer Tankstelle verliebe ich mich grundsätzlich augenblicklich in die kleinen Plüschhunde, die einen traurig aus großen Kulleraugen anschauen, und ich will auf einmal jede Schokolade, die ich sonst links liegen lasse, oder ein Magnum-Eis, das ich nur bis zur Hälfte schaffe, und ein Sixpack Bier, das in meinem Kühlschrank fast eine ganze Hinrunde der Bundesliga überlebt. Mit anderen Worten: Es ist gefährlich, mich in eine Tankstelle zu lassen, und jetzt ist meine schlechte Laune mit einem Schlag verflogen. Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, das noch breiter wird, als Tristan meine Hand nimmt und mich direkt zu der Eisbox in der Mitte zieht.

»Schlag zu.«

»Was?«

»Eis. Schokolade. Süßkram. Alkohol. Egal. Nimm mit, was du willst.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Der Abend war ein Reinfall.«

Er sieht mich an, dreht sich dann zur Kühlschrankfront und zieht eine Flasche Cola heraus.

»Aber jetzt machen wir unsere eigene Party und lassen uns nicht einfach so den Abend ruinieren. Schlag zu. Ich zahle.«

Die Liste seiner Jobs, mit denen er sich über Wasser hält, lässt mich kurz zögern – aber wie würde er sich fühlen, wenn ich jetzt anbiete, selbst zu zahlen? Ungefähr so, wie ich mich fühle, wann immer Oliver in einem vollen Restaurant in einer gut hörbaren Stimmlage meint, mir und allen anderen Gästen mitteilen zu müssen, dass mein Monat finanziell nicht so gut gelaufen sei und er zahle. Das kann ich Tristan nicht antun. Auch wenn es nur gut gemeint ist. Also nicke ich und lasse seine Hand los. Ich packe mir alles auf den Arm, worauf ich Lust habe: drei verschiedene Tüten Chips, Salzstangen und Schokolade. In Tristans Nähe fällt es mir leicht, einfach das zu tun, worauf ich Lust habe, das habe ich schon bemerkt. Ob es nun in der Sonne im Park ist oder beim Essen in meinem Büro, es fällt mir einfach leicht. Ich habe, und das ist noch viel besser, kein schlechtes Gewissen. An der Kasse packen wir dann unsere Einkäufe in eine große Tüte. Neben dem Standardknabberzeug und der Schokolade verirren sich neben der Flasche Cola auch eine Flasche Rum und zwei Sixpacks Bier dazu. Dann laufe ich noch kurz zur Kühltheke zurück und kaufe zwei Packungen Milch dazu. Tristan zahlt alles bar und dreht sich dann mit einem großen Lächeln zu mir um. Er sieht fast wie ein kleiner Junge aus, dem gerade etwas Großartiges eingefallen ist. Seine Augen leuchten – und mein Herz will Anlauf für einen Sprung ins Chaos nehmen.

»Bereit für ein kleines Abenteuer?«

Es klingt ein bisschen verrucht und gleichzeitig wie ein Angebot, das niemand (vor allem niemand mit doppelten X-Chromosomen) ausschlagen kann.

»Ich bin dabei.«

Er greift nach meiner Hand und zieht mich zurück zum VW-Bus, und ich habe keine Ahnung, wohin mich diese Fahrt in die Nacht führen wird. Aber ich kann es kaum erwarten, dort anzukommen.