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Oliver hat seinen Koffer gepackt, stopft gerade noch ein paar Akten in seine Tasche und wirkt genervt. Meistens freut er sich, wenn er mal ein Wochenende mit seinen Kollegen weit weg von zu Hause verbringen kann, heute offenbar nicht. Ich habe diese Schulungen nie besonders ernst genommen. Männer in Anzügen, die sich ein Zimmer teilen, abends viel Wein trinken und dann vielleicht noch in eine Disco gehen, um zu schauen, was die Frauen hier können. Aber ich vertraue Oliver.

Jetzt wirkt er gehetzt, genervt und gereizt. Die Woche schien bei ihm nicht besonders gut gelaufen zu sein. Er hat einige Male versucht, mir zu erzählen, was bei der Arbeit so passiert ist, aber das hat mich nicht wirklich interessiert. Ich habe diese Woche weniger auf das geachtet, was er sagt, als vielmehr darauf, was er macht. Der flüchtige Begrüßungskuss blieb aus, an drei von fünf Tagen. Umarmungen? Fehlanzeige. Nachfragen bezüglich meines Tages? Nada. Ich habe also im Gegenzug ebenfalls kein Interesse mehr an seinem Alltag gezeigt. Es scheint ihm nicht einmal aufgefallen zu sein. Auch diesen Dienstag hat er mich nicht gefragt, ob ich mit möchte. Also haben Beccie und ich den Tag zusammen verbracht, und ich konnte endlich mein Versprechen einlösen, für sie zu kochen.

»Verdammt. Ich komme zu spät. Hoffentlich erwischen wir noch den Flieger.«

Er zieht sein Jackett an und zupft nervös an seiner Krawatte. Dann ein kurzer, prüfender Blick zu mir.

»Sehe ich gut aus?«

Ich nicke. Das tut er. Das tut er immer im Anzug. Und ich werde nicht lügen. Er lächelt etwas erleichtert.

»Okay. Wir sehen uns dann am Montag. Ich wünsche dir ein schönes Wochenende.«

Er küsst meine Wange. Nicht meine Lippen, nicht einmal meine Stirn. Nur meine Wange.

»Bis Montag.«

Es klingelt, er schnappt seine Tasche und winkt mir an der Tür noch umständlich über die Schulter zu, dann ist er weg. Ich gehe zum Fenster und warte, bis er unten aus der Tür raus ist. Fast so, als wolle ich sichergehen, dass er auch ja nicht wieder nach oben kommt.

Unten neben einem roten Kleinwagen lehnt eine Frau mit langen blonden Haaren. Ich kenne sie nicht und habe sie noch nie gesehen. Sie trägt ein schickes Kostüm und winkt ganz aufgeregt, als Oliver auf den Wagen zukommt. Sie steigen ein, keine Begrüßung, kein Küsschen, keine Umarmung. Trotzdem gibt es mir zu denken. Er erzählt immer von seinen Kollegen, erwähnt aber nur männliche Namen. Wieso war er eben so genervt? War er nervös? Ich spinne schon wieder. Durchatmen.

Oliver ist nicht mehr da, und so verrückt das klingt, genau so habe ich es mir gewünscht. Ein Wochenende für mich. Ich werde Beccie einladen, wir werden etwas kochen oder es zumindest vorhaben, dann etwas bei unserem Lieblingsitaliener bestellen und auf der Couch einen Frauenfilm ansehen. So etwas haben wir schon lange nicht mehr gemacht. Sie fehlt mir. Und wenn ich den Mut finde, dann werde ich ihr vielleicht sogar von dem Konzert und alles über Tristan erzählen. Das Schlimmste an der ganzen Sache ist nämlich die Tatsache, dass es niemand weiß. Ich trage es alleine mit mir herum und kann nicht darüber sprechen. Dabei möchte ich das so gerne. Welche Frau kann schon den Mund halten, wenn ein Mann wie Tristan für sie ein Lied singt? Genau genommen zwei Lieder. Ich muss lächeln, auch wenn ich es gar nicht will. Tristan hat eine komische Wirkung auf mich. Andererseits habe ich seit Montagabend nichts mehr von ihm gehört. Meine Bilder haben offenbar eine ähnlich starke Wirkung auf ihn – nur dass sie ihn verjagen.

Bevor ich mich zu irgendeiner Dummheit hinreißen lasse, packe ich meine Handtasche und entscheide mich für einen entspannten Spaziergang zum Büro. Lange ist es her, dass ich meine Kamera bei jeder Gelegenheit bei mir hatte. Manche Motive kommen ganz unerwartet, und unterwegs knipse ich einfach darauflos, zum Spaß, als Übung, und ich überrasche mich dabei, wie ich mit dem Ergebnis sehr zufrieden bin.

In meinem Büro ist es noch angenehm kühl, und ich genieße einen Moment lang die Stille. Das ist der beste Teil des Tages: wenn noch niemand wirklich etwas von mir will, wenn ich noch nicht in den Arbeitsalltag eingespannt bin, wenn alles noch etwas ruhiger ist.

Zunächst einmal hole ich mir eine Cola aus dem Kühlschrank, fahre den Rechner hoch und schaue mich in meinem Reich um. Auch wenn ich die Fotos, die an den Wänden hängen, liebe, muss ich doch gestehen, dass sie alt sind. Ich sollte mal wieder ein wenig updaten. Inzwischen hat sich eine ganz ansehnliche Anzahl an neuen Fotos ergeben, durch die ich meine alten Meisterwerke ersetzen könnte. Kaum zu glauben, wie viele schöne Fotos ich allein in den letzten paar Tagen gemacht habe. Irgendein Knoten hat sich bei mir gelöst, und ich arbeite zwar noch immer gerne auf Events, aber wirklich Spaß macht es mir, mit dem Licht, der Blende und den Motiven zu spielen. Den nicht betrunkenen Motiven. Aber das eine schließt das andere nicht unbedingt aus. Auch nachts gibt es viel zu entdecken. Wieso ich mir diese Freiheit nicht schon viel früher gegönnt habe, verstehe ich nicht mehr.

Ich setze mich an den Schreibtisch, checke meine E-Mails, sortiere die Einladungen und Jobangebote und schaue dann bei meinem Lieblingsnetzwerk vorbei. Ich habe zwei private Nachrichten. Eine ist von Thomas.

Ich antworte schnell, suche den richtigen Ordner und schaue mir die Bilder sicherheitshalber noch mal an. Aber sie sind gut. Immer wieder bin ich überrascht, wie viele Gefühle sie übermitteln und Erinnerungen sie wecken können. Sobald ich die Fotos ansehe, höre ich wieder seine Lieder und fühle mich an den Ort des Konzerts zurückversetzt. Verrückt! Wenn meine Bilder es wirklich in ein Printmagazin schaffen, wäre das ein grandioser Erfolg. Vielleicht könnte ich neben Eventfotos ja auch Konzertfotos verkaufen? Sofort denke ich an das andere Konzert zurück, auf dem ich Fotos gemacht habe, und an Tristan. Und schon verschwindet das Lächeln aus meinem Gesicht. Ich habe seit dem Konzert nichts mehr von ihm gehört. Björn hat mir netterweise auf meine Nachricht geantwortet und beteuert, dass mit Tristan alles in Ordnung sei. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört. Aber warum meldet Tristan sich dann nicht, wenn alles in Ordnung ist?

Schnell öffne ich die nächste Nachricht: Sie ist von Björn. Oh. Mein Herz klopft kurz und heftig an meine Brust, als würde es politisches Asyl an der Tür einer Botschaft erbitten und von einem wütenden Mob verfolgt werden.

Es geht um Tristan! Sofort tippe ich die Handynummer, die Björn mir als PS geschickt hat, und bin versucht, den Atem anzuhalten. Aber dann würde das mit dem Sprechen schwierig.

»Hallo?«

»Björn? Hier ist Layla. Ich habe gerade deine Nachricht gelesen.«

»Oh, hey, super. Ich brauche deine Hilfe. Tristan geht es echt mies, und ich würde ihn jetzt nur ungern alleine lassen. Könntest du dich um ihn kümmern?«

Horrorszenarien rauschen durch meinen Kopf. Tristan hat eine Dummheit gemacht, nachdem ich ihm so wehgetan habe. Ich sehe Blut, ich sehe kaputte Scheiben, ich sehe Alkohol, vielleicht sehe ich auch eine andere Frau.

»Was ist denn passiert?«

»Migräne.«

Ich würde gerne lachen, weil es kein Horrorszenario ist, aber ich erinnere mich an die heftigen Migräneanfälle meines Vaters, die ihn ganze Tage aus dem Verkehr gezogen haben. Alles wurde abgedunkelt, als Kind durfte ich nicht mehr laut sprechen oder durch die Wohnung hüpfen, alles löste nur noch heftigeren Schmerz aus.

»Und was kann ich tun?«

Meine Schultern entspannen sich ganz langsam wieder.

»Dich um ihn kümmern. Sonst ist niemand da. Ich bin auch auf dem Sprung und bringe dir seinen Schlüssel vorbei.«

»Björn, ich denke nicht, dass das eine so gute Idee ist.«

»Ich denke schon. Bitte, Layla.«

»Er will mich doch nicht mal sehen.«

»Es war seine Idee.«

Ich verstumme, und meine Argumente verlieren augenblicklich ihre Wirkung. In meinem Inneren zieht ein Sturm auf, der ganz offensichtlich alles wieder durcheinanderbringen will. Ich schließe für einen kurzen Moment die Augen.

»Wirklich?«

»Es geht ihm echt mies …«

Ich nicke, bevor ich antworte und Björn sich tausendmal bedankt. Ich sage, dass ich sofort kommen kann, und wir beschließen, uns einfach bei Tristan zu treffen. Bevor Björn auflegt, sagt er noch, er stünde hiermit tief in meiner Schuld, aber er könne das geplante Wochenende mit Freunden nicht mehr absagen. Er sei der Fahrer. Ich verabschiede mich und frage nicht, wo Helen ist, auch weil ich Angst vor der Antwort habe.

Ich lasse mich also doch und mit überraschend wenig Gegenwehr in ein Leben hineinziehen, von dem ich gerne ein Teil wäre, in dem es für mich aber keinen Platz gibt. Man muss kein Genie sein, um vorauszusehen, dass diese Geschichte mit einem gebrochenen Herzen endet, und wenn ich einen Tipp abgeben muss: Es wird wohl meines sein.

Schließlich packe ich den Laptop in meine Tasche und gehe los. Zu Tristan.

Keine zwanzig Minuten später stehe ich vor der Haustüre und sehe den Namen Wolf neben dem Klingelknopf angebracht. Ich klopfe leise und hoffe, dass Björn es hört. Tatsächlich öffnet er die Tür und steht mit einem dankbaren Lächeln vor mir.

»Du bist echt ein Schatz.«

Er flüstert, zieht mich in eine warme Umarmung, und ich muss ebenfalls lächeln. Björn scheint nicht nur ein guter Freund, sondern auch ein richtige netter Kerl zu sein, und das macht die Sache für mich nicht leichter.

»Komm rein, er schläft gerade.«

Er führt mich über einen kleinen Flur ins Wohnzimmer. Die Decken sind hoch, klassischer Altbau, Parkett am Boden, weiße Wände. Das Wohnzimmer ist unbeschreiblich gemütlich, mit einer großen Couch, auf der meine gesamte Familie und die Nachbarn obendrein Platz finden würden. Über der Couch hängt eine Schwarz-Weiß-Fotografie in einem schlichten Rahmen. Es zeigt zwei Hände, die einander halten. Eine Männerhand, die ich sofort erkenne, hält eine Frauenhand. Die Finger sind ineinander verschlungen. Beide Handkanten zieren Tätowierungen. Hope, auf Tristans Hand. Faith, auf der weiblichen Hand. Ich muss nicht lange nachdenken, um zu erraten, wem sie gehört. Auch wenn ich einen leichten Anflug von Eifersucht spüre, berührt es mich doch tief in meinem Herzen. Das Bild strahlt so viel Liebe, Vertrautheit und Zärtlichkeit aus. Dann werde ich doch noch kurz neidisch, nicht nur auf Helens Hand, die für immer Tristans halten darf, sondern auf den Fotografen, weil er oder sie ein kleines Meisterwerk geschaffen hat. Aber es ist nicht meines.

Björn klärt mich darüber auf, was ich wo finde, wie ich ihn am besten erreichen kann, was im Notfall zu tun ist, wenn er sich übergeben muss oder die Tabletten nicht mehr helfen. Ein bisschen komme ich mir vor wie eine Frontschwester und nicke nur in unregelmäßigen Intervallen. Dann führt er mich durch den Flur bis an die letzte Tür und schiebt sie langsam auf. Tristan liegt zusammengerollt auf einer Seite eines unendlich großen Doppelbetts. Er scheint zu schlafen, die Rollläden sind ganz geschlossen. Und sosehr sich mein Herz bei dem Anblick zusammenzieht, weiß ich doch ganz genau: Ich sollte nicht hier sein.

»Er weiß, dass du kommst. Solange er schläft, ist alles gut.«

Wir betrachten beide einen kleinen Moment den schlafenden Menschen dort drüben und haben vermutlich unterschiedliche Gefühle, aber in mir schreit alles so laut und ich versuche, stark zu sein. Man kann sehen, wie schlecht es ihm geht, fast kann man seinen Schmerz greifen, so ruhig und bedrückend ist die Situation.

Björn schließt die Tür, und ich komme langsam zurück in das Hier und Jetzt. Er reicht mir einen einzelnen Schlüssel.

»Fühl dich wie zu Hause. Im Bad habe ich dir ein frisches Handtuch und eine nagelneue Zahnbürste hingelegt.«

Moment.

»Was?«

»Für den Fall, dass du über Nacht bleibst.«

Ich werde ganz sicher nicht über Nacht bleiben. Ich kann gar nicht über Nacht bleiben. Das ist absolut unmöglich, und das wissen wir beide nur zu gut.

»Aha.«

Wieso wehre ich mich nicht? Zumindest ein bisschen konsequenter? Wieso stelle ich nicht sofort klar, dass ich zwar gerne als gute Freundin aushelfe, aber bestimmt nicht in Tristans Wohnung übernachten werde. Das will ich gar nicht. Und vor allem, wie soll ich das Oliver erklären? Wenn er überhaupt fragt. Oder Beccie?

»Okay. Viel Glück.«

Er küsst meine Wange und lächelt mich an. Kein Zweifel, er ist in Eile. Während er seine Tasche aus dem Flur schnappt und mir noch einen letzten dankbaren Blick zuwirft, finde ich langsam meine Sprache wieder.

»Und Helen?«

Er hat die Tür bereits geöffnet, bleibt stehen, als hätte ich ihm mit einem Pfeil in den Rücken geschossen. Aber Björn dreht sich nicht mehr zu mir um.

»Helen ist meine Schwester.«

Auch eine Viertelstunde später habe ich noch nicht verstanden, was Björn mir damit sagen wollte, bevor er zur Tür hinausgegangen ist, und ich verstehe auch nicht, warum ich ihn einfach habe gehen lassen. Wahrscheinlich weil ich ein paar Sekunden lang zu einer Salzsäule erstarrt bin. Helen ist seine Schwester! Warum holt Björn dann ausgerechnet mich in Tristans Wohnung? Er weiß doch, dass … ich nur störe.

Nachdem ich mich wieder etwas gesammelt habe, gehe ich durch die stille Wohnung. Helen ist nicht nur Björns Schwester, sie ist auch Tristans Freundin, daran lässt diese Wohnung keinen Zweifel. Alles hier scheint ihren Namen zu tragen. Im Badezimmer hängen zwei Handtücher, zahllose Urlaubsbilder hängen an den Wänden, lustige Polaroids an den Türen. In der Küche stehen ein roter und ein blauer Stuhl, alle anderen sind schwarz. Es leben zwei Menschen in einer sehr liebevollen Beziehung in dieser Wohnung, daran gibt es nichts zu rütteln, auch wenn ich genau das nur zu gerne machen würde.

Jetzt sitze ich also hier auf diesem Sofa, auf dem ich mich fast verliere, und starre auf das Foto der Hände, die sich so entschlossen ineinander verschränken, dass man meinen sollte, nichts auf der Welt könne sie jemals trennen. Ich habe Beccie eine Nachricht geschickt, dass ich das Wochenende wahrscheinlich weg sei, ganz spontan, ein bisschen durchatmen, und dass ich mich am Montag wieder bei ihr melden würde. Zu groß ist das Risiko, dass sie mich anrufen oder vor unserer Tür auftauchen würde – und dann würde sie sich wundern, wo ich wohl wäre.

Erst jetzt merke ich, dass das Radio im Wohnzimmer eingeschaltet ist. Nur ganz leise. Die Stimme im Radio besingt das Ende einer Beziehung so ganz ohne das erwartete Happy End.

Unsere Verbindung, sie war so stark,

gestohlen aus einem Drehbuch,

das man in Hollywood fand,

doch unser Liebesfilm hier wird zum Drama,

mit den traurigsten Klischees.

Deine Heldin kommt zu spät, zu spät.

Ich schüttele den Kopf und weigere mich, weiter auf den Text zu hören, der mich direkt im Herzen zu treffen scheint. Kein Happy End. Worte, und mögen sie noch so schön gesungen sein, tun manchmal mehr weh als ein Faustschlag ins Gesicht.

Ich brauche jetzt Ablenkung. Während ich hier sitze und mir fehl am Platz vorkomme, fahre ich meinen Laptop hoch und beschließe, ein bisschen zu arbeiten. Als Babysitterin habe ich nicht besonders viel Erfahrung, aber solange Tristan schläft, gibt es für mich nichts zu tun, außer mich umzusehen und mehr Details von Helen zu finden. Darauf kann ich gut verzichten. Sie spielt einfach in einer komplett anderen Liga, und die Vorstellung, es mit ihr aufnehmen zu können, ist lachhaft.

Und wieso will oder kann mir niemand sagen, wo sie ist? Vermutlich ist sie gerade an einem sehr spannenden, abenteuerlichen Ort und berichtet aus einem Krisengebiet, immer kurz davor, für ihren Beruf ihr Leben zu lassen. Als gefeierte Heldin steht sie dann später in einem schönen Abendkleid auf der Bühne und erhält einen Fernsehpreis. Sie dankt ihrem Freund Tristan für die unendliche Unterstützung, Liebe und Treue, während sie weit weg war.

Da fällt mein Blick auf ein Bild gegenüber an der Wand, auf dem viele lachende Gesichter versammelt sind. Sie alle haben die deutschen Farben im Gesicht, halten Fahnen oder tragen Blumengirlanden. Alles in Schwarz-Rot-Gold gehalten. Tristan trägt ein schwarzes Deutschlandtrikot und lacht über das ganze Gesicht. Ich erkenne auch Björn, der neben Helen steht und einen Plastikbecher mit Bier in der Hand hält. »WM 2006 in Stuttgart« steht in großen Lettern drauf. Ich war auch dabei und habe unendlich viele Fotos gemacht, die Stimmung genossen, aufgesogen und geliebt. Aber auf keinem meiner Fotos sieht man das alles so deutlich wie auf diesem hier. Ich blicke schnell wieder auf meinen Laptop.

»Hey.«

Erschrocken zucke ich zusammen. Es war so ruhig die letzte Stunde, und ich war so konzentriert, dass ich vollkommen vergessen habe, wo ich bin. Tristan steht in der Tür, er trägt graue Schlafshorts und ein weißes T-Shirt. Sein Gesicht sieht zerknittert aus.

»Hey. Wie geht es dir?«

Er zuckt mit den Schultern und fährt sich mit beiden Händen über das Gesicht. Eine dumme Frage, aber ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.

»Es geht.«

»Kann ich dir irgendwas Gutes tun?«

Ich bin immerhin genau deswegen hier. Ich will für ihn da sein, aber er scheint mich nicht einmal wirklich wahrzunehmen. Sein Blick wandert durch das Wohnzimmer. Er scheint alles genau unter die Lupe zu nehmen. Ich habe meine Tasche und meinen Laptop auf der Couch, daneben ein Glas mit Orangensaft aus der Küche. Björn hatte gesagt, ich könne alles benutzen und mich wie zu Hause fühlen.

Tristan sieht wieder zu mir. Nichts in seinem Auftreten lässt auch nur erahnen, ob er mich sehen will, mich hier haben will. Er kommt etwas weiter ins Zimmer. Ich versuche ihm ein Lächeln zu schenken und mich etwas zu entspannen, aber das will mir alles nicht gelingen. Mein Lächeln sitzt, so unnatürlich, wie es sich anfühlt, wahrscheinlich ziemlich schief in meinem Gesicht, und eine innere Verkrampfung ergreift plötzlich Besitz von meinem Körper. Tristan scheint das alles nicht zu bemerken. Er sieht mich nicht einmal an, nimmt nur mein Glas vom Tisch und geht damit wieder aus dem Wohnzimmer. Etwas verwirrt folge ich ihm über den Flur, wo sein Fahrrad etwas sperrig in der Mitte steht, ein Surfbrett an der Wand lehnt und ein Skateboard neben dem Schuhschrank die Bretter vervollständigt. Dann betreten wir die Küche. Er kippt meinen Orangensaft in die Spüle und wäscht das Glas sorgfältig aus. Das ist deutlich, und ich habe den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Ich bin unerwünscht. Und das tut weh.

»Du hättest auch einfach was sagen können.«

Natürlich habe ich nicht vergessen, was ich, ohne es zu wissen und vor allem ohne es zu wollen, getan habe und wie sehr es ihn verletzt hat. Ja, ich habe mich aus Versehen zwischen ihn und Helen gedrängt und ihn daran erinnert, dass es sie gibt und dass er sie hintergeht, wenn er mir in einem ausverkauften Jazzclub ein Liebeslied widmet. Aber das gibt ihm noch lange nicht das Recht, sich so zu verhalten oder mich so zu behandeln. Ich bin hier, weil sonst niemand kommen wollte oder konnte. Es war seine Idee, nicht meine. Ich bin vermutlich ohnehin die letzte Wahl.

»Hallo? Tristan?«

Er trocknet das Glas ab und stellt es zurück in den Schrank über dem Herd, wo ich es herhatte. Dabei gibt er sich große Mühe. Seine Bewegungen sind langsam und bedacht. Er dreht das Glas in eine scheinbar perfekte Position und schließt die Schranktür dann wieder.

»Du kannst ein anderes nehmen.«

Seine Stimme ist vom Schlaf noch tief und rau. Und fremd.

»Nein, danke. Ich werde jetzt gehen.«

Und genau das werde ich auch. Mir ist das zu blöd. Aber ich komme nicht so weit, wie ich mir vorgenommen habe.

»Nein. Du sollst nicht gehen. Nur ein anderes Glas nehmen. Bitte.«

Er setzt sich müde an den Küchentisch und stützt den Kopf in seine Hände. Gerade wollte ich ihn noch ohrfeigen, jetzt will ich ihn in den Arm nehmen.

»Ich wusste nicht, dass es eine Gläserregel gibt.«

So leicht will ich es ihm dann doch nicht machen und verschränke die Arme vor der Brust. Migräne hin oder her, ein kleines Dankeschön hätte ich mindestens verdient. Und das nicht nur von Björn.

»Gibt es nicht. Aber das ist Helens Glas.«

Natürlich. So langsam, aber sicher habe ich Helens übergroße Präsenz satt. Helen hier, Helen da, Helen überall.

»Ach ja? Nun, das ist ja schön und gut, aber weißt du was? Wieso bin ich dann hier und nicht sie? Wieso kümmert sie sich nicht um dich? Helen? Nein! Die berichtet gerade aus irgendeinem gefährlichen Krisengebiet und holt sich dafür demnächst einen verdammten Fernsehpreis! Rufen wir doch lieber die dämliche Layla, die hat am Wochenende bestimmt nichts Besseres zu tun, als hier Däumchen zu drehen!«

Ich will gar nicht schreien, aber bei uns Frauen passiert das manchmal, da wird man lauter und lauter, und so wie ich jetzt klinge, kann Leona Lewis sich ihr Organ demnächst sonst wohin schieben. Tristan verzieht das Gesicht. Verdammt, ich habe seine Kopfschmerzen für einen kurzen Moment vergessen. Und wieso bin ich noch mal so wütend? Ach ja.

»Wenn Helen so toll und ihr Glas so verdammt besonders ist, dann will ich es gar nicht haben. Aber dann soll sie auch ihren tollen Hintern hierherbewegen und sich um ihren Freund kümmern.«

Ich habe meine Stimme wieder halbwegs im Griff, und doch kann ich das aggressive Zischen nicht abstellen. Tristan lässt mich nicht aus den Augen, aber ich sehe, dass er mit jedem meiner Sätze wütender wird. Irgendwann schlägt er mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Halt den Mund!«

Ha! Das fehlt gerade noch!

»Oliver würde mich nicht einfach so zurücklassen, wenn es mir dreckig geht!«

»Halt. Den. Mund!«

Er steht auf, und seine Größe wirkt auf einmal ziemlich einschüchternd auf mich, vielleicht ist es besser, jetzt wirklich auf Stumm zu schalten.

»Du hast kein Recht, so über sie zu sprechen! Du kennst sie nicht mal!«

Ich will schnell etwas erwidern, will ihm zeigen, dass ich sehr wohl in der Lage bin, mich verbal mit ihm zu messen, aber so spontan will mir einfach nichts einfallen. Immerhin hat er recht, mit dem was er sagt. Ich sehe, dass seine Hände zittern, und er tut mir sofort wieder leid.

»Niemand hat das Recht, so über sie zu sprechen. Sie ist perfekt, einfach perfekt!«

»O ja, sicher, danke, dass du mich daran erinnerst! Glaubst du, ich bin so blöde und merke das nicht? Ich weiß ganz genau, dass sie perfekt ist, sie ist ja auch überlebensgroß! Ich sehe es überall in eurer Wohnung! Du betest sie an! Ich bin kein Idiot, Tristan!«

Zumindest scheinen wir endlich mal ehrlich zu sein. Das ist also der Grund, weshalb ich keine Chance gegen sie habe, weil sie schon perfekt ist. Was soll danach schon noch kommen? Richtig, nichts. Ich bin jedenfalls weit davon entfernt, perfekt zu sein.

Er sieht mich an, ich starre zurück, nicht gewillt zu zeigen, wie sehr mich seine Worte verletzt haben.

Björns Plan, mich als helfende Hand herzubestellen, ist gehörig nach hinten losgegangen, und ich bin wütend auf mich selbst, weil ich gedacht habe, wenigstens als letzter Nothalt einen Platz in seinem Leben einnehmen zu können. Da Tristan meinem Blick noch immer standhält, drehe ich mich schließlich einfach weg. Ich halte das nicht länger aus.

»Ich gehe. Ganz. Du brauchst mich nicht. Du hast ja deine perfekte Helen.«

Ich hoffe, das zugegebenermaßen bissige Ende spielt darüber hinweg, wie schwer mir der erste Teil des Gesagten gefallen ist.

Ohne ihn noch einmal anzusehen, lasse ich ihn in der Küche zurück und eile über den Flur ins Wohnzimmer, wo ich hastig meine Sachen packe. Das Bild über mir an der Wand scheint mich zu erdrücken, auch wenn ich es nicht ansehe. Ich bekomme kaum noch Luft. Es steht für alles, was ich nicht bin, und ich bin, Hand aufs Herz, keine wirklich gute Fotografin, und es ist auch nicht meine Hand, die Tristans Hand halten darf. Ich muss hier raus. Sofort.

Tristan folgt mir nicht, ein sicheres Zeichen, dass Björn sich geirrt hat. Er will mich nicht hierhaben, er will mich nicht in seinem Leben haben, und ganz sicher bin ich nicht halb so perfekt wie Helen.

Als ich aus dem Wohnzimmer auf den Flur trete, sitzt er neben der Küchentür auf dem Boden und stützt seine Stirn auf die verschränkten Arme. Ich will nicht hinsehen, will nicht nachgeben, will nur weg.

Aber ich kann nicht.

Ich bleibe stehen.

»Tristan.«

Er reagiert nicht. Ich weiß, wie schlecht es ihm geht, dass die Szene in der Küche sinnlos war und weder zu seiner Genesung noch zur Verbesserung meines Wohlbefindens beigetragen hat.

Ich komme auf ihn zu, er bewegt sich noch immer nicht.

»Soll ich gehen?«

Ich kann nur flüstern, weil ich Angst habe, die Frage etwas lauter zu stellen. Denn dann würde er sie hören und vielleicht antworten, und ich denke, seine Antwort wird mir nicht gefallen.

Er hebt den Kopf gerade so weit, dass er sein Kinn auf seinen Armen abstellen kann, dann sieht er langsam zu mir hoch. Seine Augen sind leer, unendlich traurig und glasig. Es will mir das Herz zerreißen, aber ich warte.

»Nein.«

Ein leichtes Kopfschütteln, das nach unendlicher Kraftanstrengung aussieht, und ich gehe vor ihm in die Hocke. Langsam streiche ich über seine Wange, während er die Augen schließt.

»Komm, leg dich wieder hin.«

Ich merke, wie warm seine Haut ist, vermutlich hat er Fieber, was bei einer so starken Migräne kein Wunder wäre. Er hat mich gehört, aber er bewegt sich nicht, sitzt einfach nur mit geschlossenen Augen da. Sonst nichts.

»Tristan, du musst wieder ins Bett.«

Er nickt ganz langsam und sieht mich erst dann wieder an. Ich sehe die Tränen in seinen Augen, und so langsam dämmert es mir. Es gibt einen Grund, warum Helen nicht hier ist. Es gibt einen Grund, warum ihm alles, was ich gesagt und getan habe, so wehgetan hat. Es gibt auch für das hier zwischen uns einen Grund. Aber so recht traue ich mich noch nicht, es auszusprechen.

Ich helfe ihm wieder auf die Beine und laufe neben ihm her über den Flur in sein Schlafzimmer. Noch immer ist es abgedunkelt und ich erahne nur die Gegenstände im Inneren. Es ist vielleicht besser so, denn ich würde zu viel von ihr sehen. Ohne ein Wort rollt er sich zusammen, zieht die Decke bis fast unter das Kinn und schließt die Augen. Was soll ich noch hier? Ich fahre ihm kurz durch die Haare.

»Ich bin im Wohnzimmer, wenn du mich brauchst.«

»Bleib hier.«

Wunschdenken, Layla. Das ist reines Wunschdenken. Das hat er nicht gesagt und wenn, dann hat er es nicht so gemeint.

»Bitte.«

Oder eben doch.

Ich habe so viele Fragen, ich will so vieles wissen, und ich kann nicht fragen. Ich nicke nur und klettere neben ihn auf das Bett. Es fühlt sich fremd und ungewohnt an, dabei ist es nur ein Bett. Es ist ein sehr großes Bett, aber ich komme mir auch ohne die beeindruckende Größe sehr klein vor. Und so sitze ich neben ihm und warte darauf, dass er einschläft. Was er irgendwann tut.

Aber es ist kein sehr ruhiger Schlaf. Ich gebe mir größte Mühe, keine Geräusche zu machen. Ich atme leise, ich bewege mich nicht, ich bin nur da. Ohne wirklich da zu sein. Helen verscheucht mich. Ich bin körperlich anwesend, aber ich weiß genau, zu viel ist passiert, als dass ich wirklich jemals hier, auf dieser Seite des Bettes liegen werde.

Immer mal wieder bewegt sich Tristan, begleitet von einem schmerzerfüllten Seufzen. Er dreht sich von einer Seite auf die andere, er schiebt die Decke weg, dann wieder zu sich. Seine Hände bilden Fäuste und verkrampfen sich, seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, dann entspannt er sich für einen kurzen Moment, nur um dann wieder zusammenzuzucken und eine bessere Position zu finden. Manchmal öffnet er die Augen, fast so, als wolle er wissen, ob ich noch da bin. Sein Blick sucht mich, und ich lächle stumm. Er ist nicht alleine.