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Nach zwei Minuten Gezerre reicht es mir. Ich bin völlig außer Atem und weiß nicht, ob es an dem kurzen Sprint liegt oder an Tristans Kuss. Alles dreht sich, ich bin etwas aus der Bahn geraten. Etwas sehr. Alles ist jetzt anders.

»Beccie! Bleib stehen. Ich kann nicht mehr.«

Sie bleibt tatsächlich stehen, dreht sich zu mir um und sieht mich wütend an. Ich halte besser etwas Abstand.

»Was war das gerade?«

»Ich …«

»Ach was, Layla! Ich will das eigentlich nicht hören. Ich weiß, was das gerade … Sag mal, spinnst du?!«

»Aber es ist …«

»Was?! Es ist nicht so, wie es aussieht? Es ist alles ganz anders? Mensch, Layla!!!«

Sie schreit mich an, und unter anderen Umständen hätte sie damit auch wirklich recht. Dann hätte ich es verdient. Aber jetzt muss ich es klären, bevor es zu spät ist. Nur leider lässt sich Beccie nicht so schnell unterbrechen, schon gar nicht, wenn sie meint, dass sie etwas zu sagen hat.

»Weißt du, du warst immer die Gute! Ich habe immer zu dir aufgesehen und gewusst, du bist da. Du bist anständig. Du machst keinen Blödsinn, und immer wenn ich kurz davor bin, welchen zu machen, dann stelle ich mir nur kurz dein Gesicht vor, wie du mich ansiehst und mir sagst, dass ich gleich einen Fehler machen werde. Und schon weiß ich, was zu tun ist. Deswegen habe ich nicht so viel Blödsinn gemacht.«

Ich kann nur zuhören und versuchen, nicht wieder zu weinen.

»Und jetzt das. Oliver ist ein echt feiner Kerl, und du kannst dich glücklich schätzen, ihn zu haben. Er behandelt dich gut, er ist dir treu und er liebt dich! Tristan ist doch nur … keine Ahnung, irgendein dahergelaufener Kerl, der in engen T-Shirts gut aussieht!«

Das ist nicht wahr, aber woher soll sie das wissen? Ich habe mit ihr nie wirklich über Tristan gesprochen. Nicht darüber, was ich empfinde, wenn ich in seiner Nähe bin, was zwischen uns passiert ist und wie nahe wir uns gekommen sind.

»Beccie, es ist viel passiert.«

»Du hast ihn geküsst, verdammt noch mal! Was meinst du, was Oli dazu sagen wird?«

Sie wedelt mit ihrem Handy vor meiner Nase, als wäre es ein Revolver und mein ganzes Leben würde von einer SMS abhängen. Ich lasse die Schultern hängen.

»Gar nichts.«

»Was?«

Spätestens jetzt bemerke ich, wie müde ich bin. Nicht von heute Nacht. Nicht vom heutigen Tag. Von meinem Leben und der plötzlichen Wendung, die es genommen hat. Und zwar damals, als ich gesehen habe, wie Tristan ein fremder Ellenbogen ins Gesicht geflogen kam. Von diesem Moment an ist alles anders geworden. Mein ganzes Leben, mein ganzes Ich.

»Oli wird gar nichts sagen. Das tut er schon eine ganze Weile nicht mehr.«

»Das glaubst du doch selbst nicht.«

Sie ist noch immer wütend, aber sie schreit mich nicht mehr an. In ihre Stimme mischt sich eine kleine Portion Verwirrung und ein bisschen Sorge.

»Weißt du, wie es ist, nach Hause zu kommen und alleine zu sein?«

Die Frage ist vielleicht ungeschickt gewählt, aber ich hoffe, Beccie wird trotzdem verstehen, was ich meine.

»Du hast Oli, du bist nicht alleine.«

»Nein, Beccie, du verstehst nicht. Ich bin nach Hause gekommen und war alleine – obwohl Oli da war. Wir reden schon länger nicht mehr. Er sieht mich nicht mehr. Und er liebt mich auch nicht mehr.«

Ich habe es ausgesprochen. Zum ersten Mal seit der Trennung habe ich es ausgesprochen. Jetzt ist es offiziell und real. Es ist nicht nur in meinem Kopf und in meinem Leben. Es ist da draußen. Ich kann meinen Beziehungsstatus bei Facebook ändern, und die ganze Welt wird wissen, es gibt uns nicht mehr. Es gibt uns nicht mehr, es gibt nur noch ihn oder mich.

»Das ist Quatsch, Süße. Er liebt dich ganz sicher.«

Ich schüttele den Kopf und zucke hilflos mit den Schultern.

»Wir haben uns getrennt.«

Ich breche ihr so ungern das Herz und raube ihr damit die Illusion der perfekten Beziehung, aber es laut zu sagen, hilft mir. Also tue ich es sofort noch einmal.

»Wir sind nicht mehr zusammen.«

Beccies Gesicht zeigt sofort, wie sie sich fühlt, und es tut mir leid.

»Wegen Tristan?«

Ich will fast lachen. Sage ich Ja, versteht sie es falsch. Sage ich Nein, lüge ich. Es ist wegen Tristan. Aber eben nicht unbedingt wegen dem »Mann« Tristan. Auch wenn der einen gehörigen Teil dazu beigetragen hat. Es ist vor allem wegen dem »Gefühl« Tristan – zu ahnen und zu spüren, dass da mehr ist, dass mein Leben anders sein kann, dass meine alten großen Träume und Hoffnungen noch immer da sind, größer und drängender als je zuvor, und vor allem, dass ich sie mir erfüllen kann, erfüllen muss. Dass ich ein Leben leben kann, wie ich es mir wünsche. Dass ich ein Leben führen kann, das zu mir passt und wirklich mein Leben ist, voller Lieblingsmomente. Mit Oliver war das nicht mehr möglich. Das alles spüre ich erst, seit ich Tristan begegnet bin. Insofern: Ja, es ist wegen Tristan, aber es ist nicht wegen Tristan. Ich habe mir allerdings noch keine Kurzversion für diese Erklärung bereitgelegt.

»Es tut mir wirklich leid, Beccie. Ich weiß, wie sehr du Oli magst, aber es ging wirklich nicht mehr.«

»Warum?«

»Es hat nicht gereicht.«

»Das weißt du doch gar nicht.«

»Doch.«

Wir sehen uns an, sagen aber nichts. Ich merke, dass Beccie das Gesagte erst einmal verarbeiten muss. Und ich fühle mich schrecklich, weil ich ihr nicht schon viel früher gesagt habe, was mit mir los ist. Immerhin ist sie meine beste Freundin.

»Und bist du jetzt mit Tristan zusammen?«

»Nein.«

Ich nehme ihr meine Kamera aus der Hand und drücke dabei kurz ihren Arm.

»Ich muss zurück und mit ihm reden.«

Sie hat noch nicht ganz verstanden, das kann ich sehen, aber ich kann es nicht besser erklären. Nicht in diesem Moment.

»Ja. Mach das. Ich … gehe, glaube ich, nach Hause. Außer du brauchst mich.«

»Nein, danke. Das mache ich alleine.«

Ich verabschiede mich von Beccie und gehe ohne Beccie zurück in den Club.

Am Eingang beschleicht mich das Gefühl, dass es schwer wird, ihn zu finden. Schon auf dem Weg zur Bar muss ich meine Ellenbogen einsetzen, um überhaupt vorwärtszukommen. Es ist eng, es ist stickig, es ist eine typische Sommernacht in der Stuttgarter Clubszene. Ich habe so viele Abende erlebt, und sie waren genau wie dieser hier. Tanzende, schwitzende Körper, die diese Nacht zum Tag machen werden.

Aber ich suche nur einen Menschen in diesem Chaos: Tristan. Wir müssen reden. Über so vieles. Aber ich finde ihn nicht. Dafür schieben mich andere Menschen auf der Tanzfläche in eine Richtung, in die ich gar nicht will. Der Bass der Musik vibriert in meinem Magen, fremde Hände schieben mich ruppig zur Seite, und ich habe das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. Ich gehöre nicht hierher. Nicht mehr. Das ist nicht meine Richtung. Ich muss hier raus! Aber zuerst muss ich Tristan finden. Oder habe ich ihn verloren? Ich kann ihn nirgends sehen. In meinem Kopf hämmert es wie verrückt. Die bunten Lichter, die hektisch über unsere Köpfe und Gesichter zucken, die sich irgendwie wiederholende Musik. So war es die letzten Jahre. Jedes Wochenende. Soll es so weitergehen? Die nächsten Jahre? Wem will ich hier etwas vormachen? Wo ist Tristan? Mein Herz hämmert gegen meinen Brustkorb, meine Hände zittern und fast meine ich zu ersticken. Ich muss weg. Sofort. Einige böse Blicke treffen mich, während ich mir mit vollem Körpereinsatz einen Weg zurück zum Ausgang bahne.

Draußen hole ich so tief Luft, dass ich befürchte, meine Lungen zu sprengen – aber das gerade da drinnen, das kam einer Panikattacke sehr nah. Nicht wegen den vielen Menschen, damit kann ich umgehen. Nein, wegen allem. Wegen diesem Club, in dem ich so viele Abende verbracht habe und in dem ich Tristan einfach nicht finden kann. Wegen diesem Job, der mich meinen Traum nicht ausleben lässt, und auch wegen dieser Stadt, die ich über alles liebe, die mir aber im Moment die Luft zum Atmen – ja zum Leben nimmt. Ich halte das nicht mehr aus. Ich muss weg. Weit weg! Ich will nicht rennen, aber irgendwie tue ich es doch. Ich renne los, nur ein paar Meter, nur um mich zu bewegen. Weg! Ich muss weg!

Erst als ich auf dem Heimweg alleine durch die Straßen meiner Stadt gehe, meine Kamera um den Hals trage und obwohl jeder Atemzug ein kleines bisschen wehtut, fallen mir die Schritte von Mal zu Mal leichter. Ich gehe nicht schnell, aber es fühlt sich schnell an und leicht. So als würde ich gleich abheben.

Ich spüre, wie ein leichtes Lächeln auf mein Gesicht zurückkehrt, und weiß, es sieht nur jetzt so chaotisch aus. Es kann nur aufwärtsgehen. Der erste, härteste Schritt ist getan. Jetzt fängt der Rest meines Lebens an. Und ich freue mich schon darauf.

An einer Bushaltestelle setze ich mich auf eine Bank und betrachte die Fotos, die ich heute Nacht geschossen habe. Bunte, grelle Fotos, grinsende Gesichter, zu viel Make-up, zu viel Alkohol, zu viel von allem. Ich entscheide mich, alle Fotos auf dieser Speicherkarte zu löschen. Ich werde viel Geld verlieren, aber so kann es nicht weitergehen. Ich will keine Partys mehr knipsen.

Wollen Sie die Fotos alle löschen?

Meine Kamera fragt mich das immer, und diesmal drücke ich aus voller Überzeugung auf Ja.

Ich bin das nicht mehr. Ich kann nicht mehr durch die Clubs dieser Stadt ziehen und so tun, als wäre ich dabei glücklich. Ich schließe für einen kurzen Moment die Augen. Und da ist es. Ich kann es so klar in meinem Inneren sehen. Ich stehe an der Chinesischen Mauer, ich grinse breit und halte die Daumen in die Luft. Ich stehe vor einem Tempel in Indien und halte die Hände wie zum Gebet gefaltet. Ich trage einen Neoprenanzug und halte ein großes Surfbrett unter dem Arm, hinter mir liegt Bondi Beach und die Wellen machen mir ein bisschen Angst. Ich esse ein Eis und trage eine coole Piloten-Sonnenbrille, während die Sonne die Brooklyn Bridge hinter mir in wunderschönes Licht taucht.

Jedes Mal sehe ich nur mich, ganz alleine.

Und immer lächle ich.