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Der Kleine Schlossplatz ist, wie oft um diese Tageszeit, gut gefüllt, und das schöne Sommerwetter lockt noch mehr Menschen als üblich nach draußen. Da sitzen sie auf den Treppen, schlürfen ihren Starbucks-Kaffee oder genießen den Ausblick auf den Schlossplatz und den Kessel, der unsere Stadt beherbergt. Junge Pärchen liegen im Gras auf dem Schlossplatz oder hängen ihre Füße in die Springbrunnen, halten Händchen, tauschen trotz verspiegelter Pilotensonnenbrille verliebte Blicke aus und küssen sich ungeniert. Ältere Paare haben es sich auf den Bänken vor dem Schloss bequem gemacht, halten sich ebenfalls an den Händen und denken vielleicht an die Zeit zurück, als auch sie jung und verliebt waren. Mütter jagen Kindern hinterher und versuchen, die kleine Sauerei, die durch das schmelzende Eis entstanden ist, zu verhindern oder zumindest einzudämmen, während Väter die Kinderwägen im Schatten der Bäume bewachen. Jungs in locker sitzenden Hosen und schrägen Basecaps springen mit ihren Skateboards über die Treppen und versuchen, mit ihren Flips oder Grabs die Mädchen zu beeindrucken, die sich trotz ihrer noch nicht ganz abgeschlossenen Pubertät und ihren Starbucks-Bechern wie Carrie Bradshaw fühlen. Dazwischen tummeln sich, wie immer um die Mittagszeit, die Anzugträger – viele Manager, die aus den klimatisierten Büros ins Freie eilen, um ein flüchtiges Mittagessen zu verschlingen, und kaum die Zeit haben, Stuttgart so zu erleben, wie ich es jetzt erleben darf. Fast ärgere ich mich, dass ich meine Kamera im Büro zurückgelassen habe, denn es drängen sich so viele Motive auf. Und obwohl ich meine Pubertät schon lange in Rente geschickt habe, fühle auch ich mich ein kleines bisschen wie ein Teenager. Ich hoffe, ihn zwischen all den Leuten hier überhaupt zu finden, aber ich mache mir da keine Sorgen. Immerhin habe ich sein Gesicht in der Menge auch beim ersten Mal gefunden.

Er sitzt auf einer der großen Stufen, die nach unten führen, und scheint in seiner eigenen Welt versunken zu sein. Ab und an schaut er sich suchend um. Ich streiche schnell mein T-Shirt glatt und gehe dann mit mutigen Schritten auf ihn zu.

Dank dem dm-Markt in der Nähe meines Büros habe ich schnell noch etwas Make-up besorgen können, um mich zumindest ein kleines bisschen chic zu machen, denn als ich heute Morgen meine Wohnung mit nassen Haaren und einem rasch gegriffenen T-Shirt verlassen habe, hatte ich nicht gerade diesen Verlauf meines Tages im Sinn. Er erkennt mich auf halber Strecke und steht auf. Wieder will mir seine Größe zuerst auffallen, aber heute nehme ich mir vor, andere Dinge an ihm zu bemerken. Dinge, die beim ersten Betrachten vielleicht nicht auffallen. Ich bin eine Liebhaberin von Details, und Tristan wird heute mein neues Studienobjekt. Das werde ich ihm natürlich nicht sagen.

Er trägt dunkelgraue Jeans, die bis zu den Waden hochgekrempelt sind, ein blaues ärmelloses Shirt, das er bei so durchtrainierten Armen gerne öfter tragen kann, und zu meiner Überraschung ist das Pflaster über seiner Braue verschwunden. Als er auch mich entdeckt, stiehlt sich ein Grinsen auf seine Lippen, und während er auf mich zukommt, nimmt er seine Sonnenbrille ab. Das gehört sich so. Er sieht also nicht nur gut aus, er hat auch noch Manieren. Vor allem aber hat er ein ziemlich blaues Auge, aus dem es hellgrün heraus leuchtet, nein, strahlt. Sein Blick bringt die vielen kleinen Käfer in meinem Kopf erneut zum Surren.

»Hey, Layla.«

»Hi, Tristan.«

Wir reichen uns etwas ungelenk die Hände, weil wir wohl beide irgendwie von einer Umarmung ausgegangen sind, uns im letzten Moment aber doch dagegen entschieden haben.

»Hast du Hunger?«

Ich nicke, da ich seit seiner E-Mail keinen Bissen mehr herunterbekommen habe und inzwischen nach diesem Burger hungere, wie ein Teenagermädchen auf den Kinostart von Twilight.

»Schön, dass du an mich gedacht hast … also wegen des Mittagessens. Ich esse nämlich nicht gerne alleine. Zu Mittag.«

Ich sollte es vielleicht doch lieber erst mal beim Nicken belassen.

»Und ich finde es schön, dass du so spontan zugesagt hast.«

Er grinst mich an, und ich muss nach oben sehen, um ihn anzuschauen. Irgendwann werde ich ihn fragen, wie groß er ist. Sicher, ich könnte manchmal als Hobbit durchgehen, aber er muss wirklich an die zwei Meter groß sein, anders kann ich mir das nicht erklären. Ich reiche ihm ja gerade mal bis zur Schulter. Also fast. Er grinst mich immer noch gut gelaunt an.

»Dein Auge sieht heute schlimmer aus als gestern.«

Was? Er lacht kurz auf, und ich bin überrascht. Nicht von meiner dämlichen Feststellung, sondern von seinem Lachen. Ich habe es mir anders vorgestellt, tiefer, irgendwie bebend, aber es klingt fast wie das eines frechen Jungen. Sofort habe ich wieder das Bild von Facebook vor meinem geistigen Auge, das Lachen und die Unbeschwertheit.

»Danke. Wie charmant.«

»Gerne.«

Wir setzen beide unsere Sonnenbrillen wieder auf, gehen nebeneinanderher, und zwischen all den anderen Menschen fallen wir nicht weiter auf.

Kurz darauf biegen wir in die Calwer Straße ein, wo sich der Burgerladen befindet, und prallen mit einem Mann zusammen.

»Tschuldigung.«

»Verzeihung.«

»Layla?«

Stuttgart ist manchmal wirklich ein Dorf. Wieso treffe ich immer dann Leute, wenn ich es nicht gebrauchen kann. Ich stehe vor Holger, einem Arbeitskollegen von Oliver, der mit der Zeit erst zu seinem Bekannten und dann zu seinem Freund und so irgendwann auch zu einem meiner Freunde geworden ist. Das passiert doch immer. Freundeskreise vermischen sich, und bevor man sichs versieht, hat man nur noch gemeinsame Freunde und Bekannte.

»Holger! Hi! Schön, dich zu sehen.«

»Hi, Layla. Tut mir leid, ich habe euch gar nicht um die Ecke biegen sehen.«

Er spricht mit mir, sieht aber zu Tristan, der unbeteiligt danebensteht und freundlich lächelt. Ich sehe keinen Sinn oder Zwang, die beiden einander vorzustellen, und so lasse ich Holger im Dunkeln, was die Identität dieses fremden jungen Mannes angeht, und ich muss gestehen: Dabei komme ich mir ein bisschen verrucht vor.

»Ja, dann wünsche ich dir noch einen schönen Tag, und Grüße zu Hause.«

»Sicher, wünsche ich dir auch, und richte ich aus.«

Eine kurze Umarmung, das obligatorische Küsschen und schon ist er verschwunden, jedoch nicht, ohne mir noch einen Blick über die Schulter zuzuwerfen. Ich winke höflich. Tristan grinst.

»Ein Freund?«

»Na ja. Ein Freund meines Freundes. Das trifft es wohl eher.«

Wir gehen weiter und erreichen die Burgerbude. Die Schlange ist wie immer beachtlich, und so stellen wir uns an. Das wird eine kleine Weile dauern, aber die Warterei ist es ohne Zweifel wert.

»Wie lange seid ihr schon zusammen, wenn ich fragen darf?«

Seine Hände stecken in den Hosentaschen, dabei rutscht die Jeans etwas weiter nach unten, und wieder erhasche ich einen Blick auf den Bund seiner Boxershorts, diesmal sind sie schwarz. Ein unwichtiges Detail, aber mir wird wärmer.

»Darfst du. Fünf Jahre und ein paar Monate.«

»Ihr wohnt zusammen?«

»Ja, wir haben vor zwei Jahren eine schöne Wohnung gefunden. Es war eigentlich nicht geplant, aber die Miete ist geteilt einfach besser. Außerdem hat er sowieso nur noch bei mir gewohnt. Es war die logische Konsequenz.«

Er nickt, und wir warten an der Hauswand gelehnt. In meinem Kopf hallen meine Worte wider. Logische Konsequenz. Das klingt nicht ganz so romantisch und verliebt, wie es sollte. Ich muss plötzlich an die Fotos von Tristan und seiner Freundin denken. Sie sahen glücklich und verliebt aus. Ganz und gar nicht logisch konsequent. Vermutlich sind sie das noch immer, verliebt wie am ersten Tag.

»Wohnst du mit deiner Freundin zusammen?«

»Nein.«

»Aber sie wohnt in Stuttgart, oder?«

»Nicht mehr.«

»Fernbeziehung?«

»So was in der Art.«

Das erklärt, wieso sie auf den neuesten Fotos nicht zu sehen war. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als Oliver für sechs Monate in Hamburg war, beruflich natürlich. Da haben wir uns fast nie gesehen, das Telefon wurde unser bester Freund.

»Kenne ich. Fernbeziehungen sind echt scheiße.«

»Das sind sie.«

Er sieht zu mir runter, und ich lächle aufmunternd.

»Aber wenn man sich wirklich liebt, dann klappt das. Wirst schon sehen.«

Ich klinge so, als würde ich den Leitspruch einer Glückwunschkarte ablesen, dabei meine ich es auch so. Einige meiner Freunde führen Fernbeziehungen, was in der heutigen Zeit auch keine Seltenheit mehr ist. Manche sind wirklich kreativ geworden, was Skype und Webcams angeht, aber die Details erspare ich ihm wohl besser. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Das hat meine Mutter immer gesagt, und es stimmt sogar. Wenn man sich genug anstrengt, dann kann auch die Entfernung nichts an den Gefühlen ändern.

»Was macht dein Freund beruflich?«

»Oh, er ist Vermögensberater. Geld und all das.«

»Klingt trocken.«

Ich muss lächeln und besinne mich dann aber darauf, seinen Beruf zu verteidigen.

»Nein, es ist interessant. Er hat mit vielen verschiedenen Menschen zu tun, manchmal ist er der rettende Engel. Einmal konnte eine Familie ihr Haus nur dank ihm behalten.«

Ich sage das nicht ohne Stolz und denke an die Auszeichnungen, die sein Büro und unseren Flur schmücken. Oliver liebt seinen Job, und ich sollte das auch tun. Bedingungslose Unterstützung.

»Verstehe.«

Er nickt, und endlich machen wir wieder Schritte nach vorne. Der Duft von gegrilltem Fleisch umgibt uns, und im Inneren ist es fast noch wärmer als draußen. Aber zumindest können wir das Fleisch zwischen den Brotscheiben schon sehen.

»Und deine Freundin?«

»Ähm. Journalistin.«

»Oh wow, das klingt spannend.«

Und das meine ich ernst! Journalisten sind in meiner Vorstellung ungemein interessante Personen, haben immer etwas zu erzählen und sind viel unterwegs, immer auf der Suche nach der nächsten Story. Keine Sorge, ich weiß: Natürlich ist das eine sehr romantische Vorstellung des Jobs, aber er klingt für mich einfach spannend.

Endlich können wir unsere Bestellung abgeben. Tristan wählt den Dopple-Cheeseburger mit zweimal Hacksteak, Salat, Gurken, Zwiebeln, Käse und der unverwechselbaren Udo-Soße. Ich nehme den einfachen Cheeseburger, mit viel Soße, und verzichte auf die Zwiebeln. Wir lassen uns die Burger zum Mitnehmen einpacken, liegen kurz darauf im Halbschatten der Bäume auf dem Rasen im Schlossplatz und genießen unser Mittagessen. Er hat ein Sprite dazu bestellt, ich meine Cola. Gestern noch edle Pasta zu einem guten Rotwein mit Beccie – und heute ganz ordinär Burger und Cola im Grünen mit Tristan. Ich liebe diese Stadt.

Während wir unsere Burger genießen, lernen wir uns besser kennen. Er hat Literatur studiert und verdient sein Geld mit zahlreichen Jobs. Ich bin beeindruckt, und bei seinen lustigen Anekdoten aus dem Alltag als Fahrradkurier, Kellner und Türsteher muss ich immer wieder lachen. Er will niemandem etwas beweisen, sondern einfach nur durch die Tage und Wochen kommen. Ich höre ihm während des Kauens gebannt zu, vergesse dabei die Uhrzeit und meinen Job und lasse mich einfach auf diesen Mittag mit Tristan ein. Irgendwann fragt er nach meinen großen Träumen und Plänen für die Zukunft – als hätte ich welche!

»Da gibt es nichts zu erzählen. Ich habe diese kleine Firma, und das macht Spaß.«

Ob ich ihn oder mich zu überzeugen versuche, weiß ich nicht.

»Nichts für ungut, aber das kann doch nicht das Ende deiner Pläne sein. Hast du keine Träume? Ich meine, ich habe deine Fotos gesehen. Du solltest sie verkaufen und dir ein schönes Haus am Killesberg zulegen.«

»Ich glaube nicht, dass sich Galerien für Knipserei aus dem Nachtleben interessieren.«

»Nein, ich meine ja auch die Bilder in deinem Büro und das, was ich online so gesehen habe … Du verschenkst dein Talent.«

Er beißt in seinen restlichen Burger und zuckt mit den Schultern, während mein Herz so schnell schlägt, dass es jeden Moment den Geist aufgeben dürfte. Ich habe fast das ganze letzte Jahr gebraucht, um mich selber davon zu überzeugen, dass dieser Job genau das ist, was ich machen möchte, dass ich glücklich und zufrieden bin. Ich brauche keine höheren Ziele. Ich brauche eine sichere Einnahmequelle, die mich glücklich macht. Und jetzt kommt er daher und zerlegt das alles wie den Burger in seiner Hand? Gut, er zerlegt ihn nicht, er hält ihn sogar ziemlich geschickt, aber seine Hände sind auch groß und er hat lange Finger. Bei genauerer Betrachtung hat er überraschend schöne lange Finger. Nicht zu dünn, nicht zu dick, und erst jetzt fällt mir eine Tätowierung an seiner Handkante auf. In geschwungenen Buchstaben steht dort: Hope. Hoffnung. Wieso ist mir das vorher nicht aufgefallen?

Vorsichtig berühre ich seine Hand und drehe sie so herum, dass ich es besser betrachten kann. Er hält inne und folgt meiner Bewegung. Dabei zerfällt der Burger hoffnungslos in seine Einzelteile, die angebissene Gurkenscheibe rutscht zwischen den Brötchenhälften hervor und alles landet wie mit einem Bauchklatscher im Gras.

Er sagt nichts, wischt sich nur mit der Serviette über den Mund, während ich mit meinem Zeigefinger über die Buchstaben streiche.

»Das ist ein schönes Tattoo.«

Er lässt mich seine Hand etwas genauer untersuchen. Es scheint ihm nichts auszumachen, vielleicht ist er es aber auch einfach gewöhnt. Vermutlich machen Leute das die ganze Zeit. Ihn ungefragt berühren. Erst jetzt bemerke ich, was ich da eigentlich tue – und dass ich darauf kein Recht habe –, und ziehe meine Hand hastig zurück.

»Oh, tut mir leid.«

»Das ist okay.«

Er hält die Hand so in die Luft, dass ich das Tattoo in Ruhe ansehen kann. Es ist schlicht, nicht sonderlich groß und berührt mich tief in meinem Inneren. Gerne würde ich die Geschichte erfahren, die dahinter verborgen ist, weil Tristan keiner dieser Kerle ist, die sich einfach ein hübsches, aber sinnloses chinesisches Schriftzeichen auf ihren Oberarm oder den Unterschenkel tätowieren lassen.

Da erst bemerke ich, dass er mich beobachtet, und als sich unsere Blicke treffen, stiehlt sich wieder dieses freche Lächeln auf seine Lippen.

»Und? Hast du irgendwo ein Tattoo?«

Ich muss fast lachen. Nein, habe ich nicht. Ich sterbe ja schon bei der Blutabnahme. Wie um alles in der Welt sollte ich da eine Tattoo-Session voller Nadelstiche überstehen?

»Nein. Ich stehe nicht auf Schmerzen.«

»Wegen den Schmerzen habe ich es auch nicht gemacht.«

»Weswegen dann?«

Er sieht kurz auf sein Tattoo, gedankenverloren streicht er mit dem Finger über die Buchstaben, dann erst sieht er wieder zu mir.

»Weil ich sie von Zeit zu Zeit verliere.«

»Als Erinnerung daran, dass es sie doch gibt?«

Er nickt und sieht mir direkt in die Augen. Etwas ist anders. Seine grünen Augen strahlen nicht mehr so wie sonst. Sie wirken dunkel, er wirkt traurig, aber ich traue mich nicht zu fragen, wieso er die Hoffnung von Zeit zu Zeit verliert. Vielleicht will er es mir irgendwann einmal erzählen. Wenn nicht jetzt, dann vielleicht eines Tages.

Er schüttelt leicht den Kopf, als wolle er unangenehme Gedanken vertreiben, und es scheint ihm zu gelingen, da das Leuchten in den Augen langsam zurückkehrt, das Lächeln ebenfalls. Ich hole kurz tief Luft, lege mich ins Gras und schaue in den blauen Sommerhimmel.

»Ich kenne das Gefühl …«

Das spreche ich sonst nie aus, aber jetzt scheint mir ein guter Moment dafür. Tristan lässt mich nicht aus den Augen. Ich spüre seinen Blick auf mir.

»… klar, das ist Meckern auf hohem Niveau, aber manchmal …«

Ich sollte das vielleicht doch nicht sagen, ich sollte das nicht mal denken. Es geht mir gut, ich habe alles, was ich will, und ich sollte wirklich aufhören, dauernd mehr zu wollen.

»Manchmal?«

Er sammelt die Reste seines Burgers ein, faltet sie in der Alufolie zusammen und streckt sich aus. Er liegt bäuchlings neben mir im Gras und sieht mich fragend an.

»Manchmal frage ich mich, ob es das wirklich ist. Ich meine, ist das alles

Er stützt sein Kinn in die Hände, sagt nichts, hört nur zu. Beccie hätte mir jetzt schon gesagt, dass ich ein phantastisches Leben habe und obendrein noch gesund bin, dass ich einen Freund habe, der mich liebt und den ich liebe, und dass ich einen tollen Job habe, der mir Spaß macht. Ich lasse mich nur zu gerne von ihr überzeugen, aber Tristan bleibt stumm. So etwas kenne ich nicht.

»Was ist aus den ganzen Plänen geworden … und den Träumen?«

Ich schließe die Augen, die plötzlich leicht brennen, und spüre dieses Gefühl in mir. Dieses kalte, stumpfe Gefühl im Bauch. Ich belüge mich erfolgreich selber. Ich rede mir ein, diese Träume wären alle in Erfüllung gegangen oder nicht so wichtig. Aber es ist so schwer, sich selbst zu belügen – auf Dauer und vor allem, wenn diese Träume noch dauernd in einem flattern. Ich bekämpfe sie, schiebe sie weit, weit von mir weg, aber sie kommen tapfer immer wieder zurück. Ja, ich habe noch Träume, große Träume, und ich habe langsam, aber sicher Angst davor, dass sie immer schwächer werden und irgendwann nicht mehr wiederkommen und mich aufgeben.

»Wir sind doch noch jung. Was hält dich davon ab?«

So ziemlich alles.

»Ich mich selbst, nehme ich an.«

Es sich endlich einmal offen selbst einzugestehen tut gut. Die Sonne wärmt mein Gesicht, und ich genieße diesen kurzen Moment der Ehrlichkeit mit einem fast Fremden. Vielleicht trifft es Fremder nicht ganz, aber ich kenne ihn auf keinen Fall gut genug, um ihm all das zu erklären.

»Und wenn das noch nicht alles wäre, was würdest du tun?«

Sofort huscht ein Grinsen über mein Gesicht.

»Reisen und fotografieren!«

Es muss für jemanden wie Tristan vollkommen albern klingen. Seine Freundin hat bestimmt schon die ganze Welt gesehen. Und seine Fotos bei Facebook haben ihn auch an unterschiedlichen Orten gezeigt.

»Wohin reisen?«

In meinem Kopf gibt es irgendwo verstaubt in der hintersten Ecke eine Liste mit Orten, die ich gerne sehen würde, aber ich weiß nicht, ob ich ihm das einfach so erzählen möchte. So lange habe ich nicht mehr daran gedacht, wieso sollte ich sie jetzt wieder ausgraben?

»Australien. China. Südamerika. Oder so.«

Das ist keine Lüge, aber ich verschweige lieber die ganzen anderen exotischen Orte.

»Und was sagt dein Freund dazu?«

Oliver. Was würde Oliver sagen? Ich weiß, was er sagen würde. Er würde sagen, ich sei eine Tagträumerin und ich solle mir gefälligst nicht dauernd selber im Weg stehen. Nein, er wäre nicht so direkt, er würde sagen, ich wollte immer mit Fotografie mein Geld verdienen und das würde ich ja wohl tun. Das wäre doch das Wichtigste. Dann würde er das Thema irgendwie auf Geld bringen und mich daran erinnern, wie gut mein Konto aussieht, seitdem er mein Geld gewissenhaft angelegt hat und es betreut. Ich würde ihm recht geben und versuchen, seine Stimme gegen das Flattern der Träume in meinem Inneren zu hören. Aber das will ich nicht sagen, denn es würde Oliver in ein schlechtes Licht rücken, und das will ich auf keinen Fall.

Tristans Blick ruht noch immer auf mir. Ich kann es spüren, dafür muss ich ihn nicht ansehen. Aber ich habe keine Antwort parat. Sage ich ihm die Wahrheit, wird er denken, dass Oliver ein arroganter Vogel ist. Es ist mir wichtig, was Leute von Oliver halten, immerhin ist er mein Partner, und auch wenn ich manchmal wütend auf ihn bin, hat sonst niemand das Recht dazu. Ich würde ihn immer und immer wieder verteidigen.

»Sprichst du nicht mit ihm darüber?«

Langsam blinzele ich wieder gegen die Sonne und setze mich auf. Das ist kein besonders gutes Thema, und ich möchte nicht mehr darüber reden.

»Doch. Wir sind da nur anderer Meinung. Und jetzt lass uns bitte das Thema wechseln.«

Zum ersten Mal muss er zu mir aufsehen, weil er noch immer liegt.

»Okay, wie du möchtest.«

Er lächelt mich entwaffnend an. Obwohl ich weiß, dass ich bereits zu viel Zeit mit ihm verbracht habe, möchte ich gerne für den Rest des Tages hier sitzen und nichts tun. Aber es geht nicht. Ich muss Geld verdienen.

»Ich sollte zurück ins Büro.«

Sieh einer an, meine Vernunft siegt über meine Gefühle. Ein bisschen bin ich stolz auf mich. Oliver würde das gefallen.

»Wir sehen uns ja spätestens am Freitag.«

Er bewegt sich nicht, macht keine Anstalten, ebenfalls aufzustehen. Ich warte noch einen kurzen Moment, aber er liegt noch immer regungslos da und sieht zu mir.

»Musst du nicht auch irgendwann los?«

»Noch nicht.«

Ich werfe doch einen Blick auf die Uhr. Mein Handy ist in meiner Tasche, bei einem wichtigen Notfall kann man mich also auch hier erreichen, und ich brauche maximal zwölf Minuten, um zurück ins Büro zurückzuhetzen. Notfalls. Ich habe nicht unendlich viel Arbeit vor mir, und da Oliver heute Abend aus ist, habe ich noch Zeit, um länger an den Bildern zu arbeiten, wenn ich möchte. Wieso also nicht?

»Na, dann leiste ich dir noch ein bisschen Gesellschaft.«

Ich lehne mich wieder zurück ins Gras und schließe die Augen. Es ist herrlich, die Geräuschkulisse wahrzunehmen, die Sonne auf der Haut zu spüren, die Sommerluft zu atmen und für einen kurzen Moment an nichts anderes mehr denken zu müssen. Ich lächle vor mich hin.