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Es ist schon spät, als ich die Tür zu meinem Büro – Schrägstrich – Schlafzimmer aufschließe. Es ist nicht mehr ganz so trostlos, hierherzukommen. Es ist jetzt mein Reich, mehr denn je. Meine Basisstation. Sicher, es ist bestimmt schöner zu wissen, dass man eine Tür zwischen Schlafplatz und Arbeitszimmer hat, aber es ist das, was ich im Moment habe. Der erste Schritt in Richtung Freiheit ist immer der schwerste, heißt es. Ich habe ihn getan.

Licht mache ich erst gar nicht an, ich lege meine Kamera auf den Schreibtisch, ziehe endlich das nach Alkohol stinkende Oberteil aus und greife nach einem T-Shirt aus der Reisetasche. Egal welches, nur frisch und bequem muss es sein.

Erst als ich es anhabe und mir auffällt, dass ich darin fast verschwinde, erkenne ich es wieder. Zu lange habe ich es in den unteren Bereich des Schranks verbannt. Ausgerechnet jetzt mogelt es sich wieder an die Oberfläche: Tristans T-Shirt. Ich muss lächeln. Ich erinnere mich daran, wie er zum ersten Mal als Fahrradkurier hier in diesem Büro stand. Damals waren wir fast noch Fremde. Ich wusste nichts über ihn, und er hat doch sofort erkannt, dass alles in mir noch wie wild pochte. Mein Blick wandert zu der Wand, an der meine richtig guten Bilder hängen. Es sind immer noch meine alten Meisterwerke, die darauf warten, durch neue ersetzt zu werden. In einem Regal an der Wand stehen einige Reiseführer, nach Kontinenten sortiert. Damals habe ich sie voller Begeisterung gekauft, war fest davon überzeugt, in weniger als einem Jahr in allen noch so abgelegenen Teilen der Welt gewesen zu sein und dann mit vielen Erinnerungen im Gepäck und Bildern auf der Festplatte wieder genau hier zu stehen. Ich hatte diesen Traum schon immer, und er hat nichts mit Tristan zu tun.

Andererseits hat alles mit Tristan zu tun. Vor allem der Wunsch, hierzubleiben. Ich kann seinen Kuss noch immer auf meinen Lippen spüren, weiß noch, wie es sich angefühlt hat, als er mich an sich gezogen hat. Ich kann jetzt nicht weg. Oder?

Mein Blick fällt auf mein Lieblingsbild. Meine Großmutter hat einmal gesagt, dass wir alle unsere Träume ewig mit uns tragen, und nur wir können entscheiden, ob wir sie in Erfüllung gehen lassen oder ob wir sie unerfüllt mit ins Grab nehmen. Mit Oliver habe ich andere Träume in Erfüllung gehen lassen, habe Dinge erlebt, die ich genossen habe und nicht vergessen werde. Ich habe gerne mit ihm zusammengelebt. Nur leider war er nicht der Richtige, um auch die anderen großen Träume in Erfüllung gehen zu lassen.

Alles hat seinen Preis. Ich höre jetzt schon meine Eltern und Freunde sagen, dass es Wahnsinn ist, diese Beziehung zu beenden. Wer weiß, vielleicht haben sie sogar recht. Aber ich will nicht eines Tages in der fernen Zukunft mit meinen unerfüllten Träumen zu Grabe getragen werden. Ich will sie erfüllen.

Ich könnte auch jetzt gleich damit anfangen. Später ist es vielleicht zu spät. Ich entscheide mich hier und jetzt für mich. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben. Die Reisetasche ist doch ohnehin gepackt. Mein Reisepass ist gültig, meine Impfungen auf dem neuesten Stand. Und den Urlaub genehmige ich mir einfach selbst.

Ich schalte den Rechner an, nehme auf meinem Bürostuhl Platz und logge mich auf der Homepage des Reisebüros meines Vertrauens ein. Schnell checke ich die Ziele, die mir als Erstes in den Sinn kommen. Ich brauche nur eine Tasche, meinen Laptop, meine Kamera und viel Geld.

Ich atme langsam ein, dann wieder aus. Geld.

Geld bekommt man für Aufträge. Aufträge bekommt man durch Können und Beziehungen. Marco hat mir schon vor zwei Tagen eine E-Mail mit dem Betreff »Deine Fotos« geschickt.

Ich habe die E-Mail noch nicht angesehen, weil mir ihr Inhalt viel zu viel Angst gemacht hat. Aber jetzt klicke ich ihn an, und Marcos Nachricht füllt meinen Bildschirm gänzlich aus.

Ich starre auf die Zahl am Ende der E-Mail. Sie würde mir diese Reise ohne Probleme finanzieren, da ich ohnehin nicht vorhabe, in teuren Hotels zu nächtigen. Bevor mein Gehirn reagieren kann, tippen meine Finger schnell eine Antwort und der Cursor drückt auf SENDEN. Ich kann es nicht mehr ändern. Mein Herz pocht wie wild. Ich habe das Angebot angenommen und schon vor Reiseantritt die Fotos, die ich schießen werde, an eine Galerie verkauft. Wenn das mal kein Zeichen ist! Ich kann nur noch hoffen, dass dieser ominöse Förderer der Künste auch Lust auf Fotos aus der ganzen Welt hat und nicht erwartet, dass ich ihm weitere Stuttgart- oder Konzert-Fotos schicke. Aber irgendetwas wird mir dann schon einfallen.

Zurück auf dem Portal des Reisebüros lasse ich mir eine individuelle Reiseroute planen, schaue mir Unterkünfte und Preise an. In weniger als zwei Stunden habe ich mich entschieden und muss nur noch auf BUCHEN drücken. Ein knappes halbes Jahr wäre ich weg aus Stuttgart, weg aus diesem Büro, von meinen Freunden und diesem Leben. Weg von Tristan. Dieser Gedanke schmerzt am meisten. Aber ich kann jetzt nicht zurück. Ich kann nicht schon wieder kneifen und meine Träume hintenanstellen. Ich will sie nicht warten lassen, bis sie mir ins Grab folgen. Und ich weiß nicht, ob ich es je wieder so weit schaffe, nur noch auf ein BUCHEN drücken zu müssen, um meine Träume zu erfüllen.

Jetzt oder nie.

Jetzt oder nie.

Jetzt oder nie.

Jetzt.

Ich sende die Buchung ab.

Das ist verrückt, das ist spontan, das ist alles, was ich nicht mehr war – für mehr als fünf Jahre. Schade, dass jetzt niemand da ist, mit dem ich diesen großen Moment zusammen verbringen und mit dem ich gleich ein Glas Sekt trinken kann. Aber manchmal sind die ganz großen Momente eben auch die stillen, die man nur mit sich alleine ausmacht. Außerdem kann ich mich an das Alleine-Freuen jetzt schon mal gewöhnen.

Ich sitze da und sehe zum Fenster. Der Himmel ist klar und dunkel. Eine ruhige, schöne Sommernacht. Perfekt für diesen Moment. Und dann, ja fast wie geplant, schießt eine Sternschnuppe vorbei. So was kommt nicht im echten Leben vor, nur in Büchern und Filmen, aber ich bin mir sicher: Es war eine Sternschnuppe. Und da! Noch eine! Und noch eine! Und … Will mich der Himmel heute veräppeln? Langsam stehe ich auf und blicke durchs Fenster ins Freie, wo es Sternschnuppen zu regnen scheint.

Aber natürlich sind es keine Sternschnuppen, das wäre auch zu verrückt gewesen. Sie fallen nicht vom Himmel, sie werden in den Himmel geworfen und fallen dann zurück auf den Boden.

Und da sehe ich ihn.

Unten auf der Straße vor meinem Fenster steht er, zündet Wunderkerze um Wunderkerze an und wirft sie an meinem Fenster vorbei.

Tristan.

Ich mache das Fenster auf, und er hält eine Wunderkerze in die Luft.

»Ich dachte, das wäre eine gute Art, um Verzeihung zu bitten?«

Ich muss kurz auflachen.

»Das ist auf jeden Fall ein guter Anfang. Auch wenn es nichts mehr gibt, wofür du dich entschuldigen müsstest.«

»Darf ich hochkommen?«

Ich nicke. Er darf. Er soll. Er muss.

Als er die Treppe nach oben kommt, schlägt mein Herz viel zu schnell und wild. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich weiß nicht, wie ich sagen soll, was ich noch nicht sagen kann, und ich weiß nicht, wie wir jetzt zueinander stehen. Ich sehe ihn einfach nur an, als er mir gegenübertritt.

Aber Worte werden überhaupt nicht gebraucht. Er legt einen Arm um meine Hüften und zieht mich zu sich. Wir sind zusammen. Uns trennt kein Zentimeter mehr, und es fühlt sich an, als ob dieser ganze Sommer nur auf diesen einen Moment zugesteuert hätte. Das mag absurd klingen und vielleicht ist es auch so, aber all die Zeit, die wir zusammen verbracht haben, hat uns unweigerlich genau zu diesem Moment geführt. Wir sind endlich zusammen.

Ich sehe in seine klaren grünen Augen, berühre seine Wange und spüre nichts mehr, was uns trennen könnte. Seine Lippen sind so nah, und diesmal küsse ich ihn. Nicht auf die Wange. Und auch nicht schüchtern. Ich küsse ihn, weil die Nähe, die ich schon immer in seiner Anwesenheit gespürt habe, jetzt endlich greifbar und real ist. Er küsst mich ebenfalls, und bevor wir wissen, was geschieht, schließt er die Tür hinter sich. Nur wir zwei, ohne jemanden, der zwischen uns steht. Und wir können nicht aufhören, uns zu küssen. Wir stolpern gegen meinen Tisch, und für einen kurzen Moment halten wir inne. Er sieht mich an, sieht das T-Shirt und erkennt es sofort wieder. Ein Lächeln liegt auf seinem Gesicht.

»Diebin.«

»Das war leichte Beute.«

»Ich will es zurück.«

»Na, dann hol es dir.«

Zaghaft fasst Tristan den Saum des T-Shirts, und als seine Finger dabei meine nackte Haut berühren, muss ich scharf einatmen. Er hält kurz inne und streicht mir sanft über die Hüfte, wo seine Berührung eine leichte Gänsehaut auf mir hinterlässt. Dann streift er mir das T-Shirt nach oben über den Kopf, ich halte den Atem an, wie bei einem Sprung vom 10-Meter-Brett. Er lächelt, lässt das Shirt zu Boden gleiten und küsst mich erneut, während er gegen meine Lippen flüstert.

»T-Shirts sind ohnehin überbewertet.«

Dann küsst er meinen Hals und meine Schulter, und meine Knie wollen weich werden, aber der Schreibtisch hinter mir gibt mir den Halt, den ich brauche. Meine Hände schieben sich unter sein T-Shirt, streicheln seine Haut, die sich warm und weich anfühlt. Je mehr Haut ich spüre, desto höher schiebe ich sein Shirt, bis es ihm zu bunt wird, er sich von mir löst, das Shirt einfach auszieht und fallen lässt. Ich betrachte seinen wunderschönen Oberkörper, das Tattoo auf seinen Rippen fällt mir sofort auf. Als ich es mit einem Finger zärtlich nachfahre, zittert er fast unter der Berührung. Es sind römische Ziffern: V.VII. Sie stehen für 5.7. – ein Datum. Ich sehe wieder zu Tristan, der meinem Blick ausweichen will, aber ich halte sein Kinn sanft in meinen Händen und zwinge ihn so, mich anzusehen. Er atmet tief durch.

»Der fünfte Juli. An dem Tag habe ich sie verloren.«

Er sieht mich traurig an und versucht zu lächeln. Helen. Er trägt sie immer bei sich. Sie wird immer ein Teil von ihm sein, und das soll auch so sein. Ich will ihn so, wie er ist, mit all seinen Licht- und Schattenseiten. Ich lehne mich nach vorne und küsse sein Tattoo. Er schließt die Augen und atmet tief durch. Seine Hände streicheln meine Schultern, während ich mir meinen Weg weiter nach oben küsse. Als ich seine Lippen erreiche, lächelt er und die Traurigkeit ist aus seinen Augen verschwunden. Ich küsse ihn, und er flüstert ein Danke gegen meine Lippen. Dann zieht er mich wieder näher zu sich, und unser Kuss vertieft sich, während wir zusammen auf den Boden gleiten.

Tristan ist Neuland für mich, das macht mich nervös. Als ich sehe, wie seine Hände zittern, als er die Knöpfe meiner Jeans öffnet, entspanne ich mich etwas. Weiß dieser Mann denn nicht, wie er auf mich wirkt? Aber wenn ich alles richtig verstanden habe (und gerade fällt mir das Denken etwas schwer), gab es für ihn nach Helen keine andere Frau. Aber Vergleiche sind hier fehl am Platz, also genieße ich seine Hände auf meinem Körper, die mich neu und anders berühren, die mich daran erinnern, dass Träume schön und erlaubt sind.

Seine Küsse bringen mich zum Wesentlichen zurück. Wir brauchen nur uns. Während ich ihn küsse und seine Haut auf meiner spüre, helfe ich ihm aus seiner Jeans, und er befreit mich aus meinem BH. Seine warmen Hände erkunden meinen nackten Körper, und ich höre, wie ich leise aufstöhne. Neugierig tasten sich seine Lippen und seine Hände voran, und ich bete, dass er nie wieder damit aufhört. So wie Tristan mich berührt, bin ich fast gewillt zu glauben, ich sei begehrenswert. Keine Ahnung, wann ich mich das letzte Mal so gefühlt habe. Seine Lippen streifen langsam über die empfindliche Haut an meinem Hals, über meine heißen Wangen, zu meinem Mund und jagen mir dabei heiße Schauer über den Rücken. Tristans Küsse werden intensiver, seine Berührungen hingegen zärtlicher. Tief in mir entfacht er damit ein Feuer, und ich habe große Mühe, mich ans Atmen zu erinnern. Woher er weiß, was ich will, kann ich nicht sagen, aber es scheint ganz so, als könnte er meine stummen Signale lesen. Gut, so stumm sind sie nicht. Ich seufze leise gegen seine Lippen und verlasse mich auf das immer wärmer werdende Gefühl in meinem Inneren. Wir bewegen uns gleichmäßig, keine ungelenken Bewegungen oder Berührungen. Unsere Körper scheinen wie füreinander geschaffen. Der Traum von ihm und mir in einem Pool bei Nacht wird immer realer. Ich wage Dinge, die neu für mich sind, und bemerke an Tristans Reaktion, dass ich alles richtig mache. Sein heißer Atem auf meiner Haut, seine Küsse auf meinem Körper, all das fühlt sich unglaublich gut an. Als er mit seinen Lippen eine meiner Brustwarzen umschließt, gibt es in mir eine kleine Explosion, und meine Lippen suchen wieder seinen Mund. Ich will mehr. Jetzt. Hier. Mit ihm. Als Tristans Hand unter meinen Slip gleitet, zögert er kurz, sieht mich fragend an, aber ich habe keine Bedenken mehr. Ich weiß, dass ich es will, dass es richtig ist. Irgendwie war es das schon die ganze Zeit, aber jetzt darf ich es endlich genießen. Als Antwort auf seinen fragenden Blick hebe ich meine Hüfte ein wenig an, sodass er mich von meinem letzten Kleidungsstück befreien kann. Er scheint genau zu wissen, was er tut, als seine Hand langsam an meinem Knie entlang, die empfindliche Innenseite meines Oberschenkels hinauf und zwischen meine Beine gleitet – denn ich zucke leicht zusammen, stöhne auf und halte es vor Verlangen plötzlich fast nicht mehr aus. Ich will ihn. Ich will ihn spüren, tief in mir. Sofort reagiert sein Körper auf meinen Wunsch, und als er in einer weichen Bewegung zwischen meine Beine gleitet, kann ich es nicht mehr erwarten, ganz mit ihm zu verschmelzen. Eins mit ihm zu sein. Ich ziehe ihn näher zu mir, höre unsere schnellen Atemzüge, und als er sanft in mich eindringt, stöhne ich leicht auf und vergesse alles um mich herum, spüre nur noch dieses heiße Brennen in mir. Ich gebe mich ihm und diesem Gefühl hin, weil er mir gar keine andere Wahl lässt. Ich spüre ihn überall, kann nicht mehr sagen, wo er aufhört und ich anfange. Es gibt nur noch uns. Wir küssen uns ununterbrochen, während wir immer tiefer ineinander versinken und alles endlich loslassen. Ein bisschen fühle ich mich wie im freien Fall, aber als Tristan meine Hand fest in seine nimmt und mit mir springt, nimmt er mir auch davor die Angst. Als die letzte Welle über uns bricht und uns für einen Moment den Verstand raubt, weiß ich, dass er, egal was morgen oder danach passiert, für immer hier bei mir sein wird.

Er liegt neben mir auf dem Boden, unsere Körper bilden einen verwobenen Knoten, der sich nicht mehr lösen zu lassen scheint, und ich lächle ihn an, während er mit meinem Haar spielt. Alles an Tristan ist perfekt, das habe ich irgendwann vorhin beschlossen. Die Narbe an seiner Schulter, ebenso wie die kleinen Härchen auf seinen Unterarmen. Nichts möchte ich ändern. Oder vergessen. Er sieht zu mir, müde und entspannt.

»Layla, das hier, genau das, ist mein absoluter Lieblingsmoment.«

Mein Herz droht mir bei dem Gedanken aus dem Brustkorb zu springen, dass ich eine Hauptrolle in Tristans Lieblingsmoment spiele. Wenn man solche Momente teilt, muss man »ich liebe dich« nicht mehr sagen. Ich ziehe sein Gesicht zu meinem, küsse seine Lippen, weil ich nicht vergessen will, wie sich das alles anfühlt.

Noch nicht.

Noch nicht.

Noch immer nicht.

Gleich.

Aber irgendwann muss ich es ihm sagen. Warum also nicht jetzt, da er nackt auf mir liegt? Ich sehe ihm in die Augen und sage es.

»Ich fliege morgen früh, Tristan.«

Er lächelt noch immer, aber ich kenne ihn inzwischen zu gut. Etwas in ihm passiert, als würden Dinge wieder an die richtige Stelle gerückt werden. Zumindest hoffe ich das. Dann nickt er langsam, als würde es viel Kraft kosten.

»Die Weltreise.«

Ich nicke, habe Angst, etwas zu sagen. Kann ich beides haben? Meinen Traum und Tristan?

»Warum überrascht mich das nicht?«

Er streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelt tapfer. Ich möchte ihn küssen und umarmen und gleich noch mal von vorne anfangen, aber jetzt müssen wir erst einmal reden.

»Ist das falsch?«

Er schüttelt den Kopf, und jetzt ist das Lächeln ernst gemeint. Das kann ich sehen.

»Nein, es ist richtig. Ich freue mich für dich. Du musst hier raus. Wir müssen beide hier raus. Wir haben noch etwas zu erledigen, bevor wir uns jeden Tag und jede Nacht zusammen auf dem Boden wälzen können.«

Ich muss kurz lachen, verstehe aber nicht so ganz, was er mir damit sagen will. Meint er mit »hier« mein Büro oder unser Leben? Diese Stadt? Und wieso wir? Er scheint einmal mehr meine Gedanken lesen zu können.

»Ich kann auch nicht hierbleiben.«

»In Stuttgart?«

Er nickt.

»Nicht solange sie hier ist. Solange ich das Gefühl habe, sie könne jeden Moment um die nächste Straßenecke biegen oder in einem der Cafés sitzen oder zur Tür hereinspaziert kommen, als wäre nichts gewesen.«

Ich nicke. Er kommt hier nicht von ihr los.

»Aber ich möchte sie loslassen. Weil ich jetzt weiß, dass es dich gibt.«

Ich glaube, so etwas hat in meinem ganzen Leben noch niemand zu mir gesagt. Dafür und für vieles mehr will ich ihn gleich schon wieder küssen. Aber ich bewege mich kein Stück, ich liege nur da und genieße seine Haut an meiner. Ich frage mich, ob wir jemals wieder so nah beisammen sein werden. Und wenn ja, wann das sein wird.

»Und weil ich weiß, dass ich dich irgendwann wiedersehe, und dann … werfe ich wieder Wunderkerzen und hoffe, dass es nicht zu spät ist.«

Alleine für solche Sachen könnte ich ihn schon wieder küssen, aber ich beherrsche mich noch immer, immerhin bin ich kein Teenager mehr. Ach, was solls, ein Kuss hat noch niemanden umgebracht. Als sich unsere Lippen berühren, spüre ich so viel Liebe, dass es mir beinahe den Brustkorb sprengt. Es wird nie zu spät sein. Nicht wenn es nach mir geht.

»Du wirst mir fehlen.«

Unsere Hände sind ineinander verschlungen, und er betrachtet das Chaos, das unsere Finger bilden, mit einem sanften Lächeln auf den Lippen.

»Wahrheit oder Pflicht?«

Jetzt grinst er mich spitzbübisch an, und auch ich muss schmunzeln. Sofort fühle ich mich zurückversetzt, auf das Dach des VW-Busses auf dem Weinberg. Es war einer der schönsten Abende, nein, Nächte meines Lebens.

»Wahrheit.«

Er drückt kurz meine Hand, führt sie zu seinen Lippen und küsst meine Finger.

»Kommst du zurück?«

Plötzlich zieht sich mein Herz zusammen. Warum fragt er das? Wie kann er glauben, dass ich nicht zurückkomme? Es ist schwer genug, nicht sofort aufzuspringen und meine Buchung zu stornieren.

»Natürlich komme ich zurück. Und jetzt, wo wir hier so daliegen, bin ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt noch weg will.«

Er streicht mit meinen Fingern über seine Wange und lächelt mich an. Ich bin an der Reihe.

»Wahrheit oder Pflicht?«

»Wahrheit.«

Ich zögere kurz, da ich ehrlich gesagt etwas Angst vor seiner Antwort habe. Immerhin lasse ich ihn für meine Träume hier stehen, und ob er jemals über Helen hinweg und nach Stuttgart zurückkommt, muss sich auch erst zeigen. Aber ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und frage einfach. Ich muss es wissen.

»Wirst du da sein, wenn ich zurückkomme?«

Tristan hält meinen Blick und atmet tief durch. O nein, das sieht nicht gut aus. Das sieht nicht nach einem überzeugenden Ja aus. Aber was erwarte ich? Die Wahrheit.

»Ich weiß es nicht.«

Warum weiß er es nicht? Weil er nicht weiß, ob er da sein wird, wo ich bin? Oder weil er nicht weiß, ob er da sein will, wo ich bin? Das macht einen großen Unterschied!

»Aber du willst, wenn ich mal mit meinem ganzen Ich-verwirkliche-meine-Träume-Ding durch bin, mit mir zusammen sein, oder?«

Jetzt lacht er plötzlich kurz auf.

»Ja. Natürlich! Sonst würde ich heute nicht hier liegen.«

»Gut.«

Tristan dreht sich auf die Seite, und ich spüre seinen Oberkörper an meiner Schulter.

»Wahrheit oder Pflicht?«

Es geht also weiter. Gerade als ich »Wahrheit« sagen möchte, beugte er sich zu mir herunter, und ich spüre seinen Atem an meinem Ohr. Seine Stimme ist nur ein Flüstern.

»Pflicht.«

Ich schlucke einmal, denn mein Mund hat sich gerade in eine Sahelzone verwandelt.

»Pflicht.«

Ich bin mir sicher, er kann mein Herzrasen hören, so schnell und laut, wie es gerade schlägt. Was hat er vor?

»Ich möchte, dass du mir aus jedem Land, das du bereist, einen Lieblingsmoment schickst.«

Und sofort flattern wieder tausend kleine Käfer und Schmetterlinge in mir auf. Jetzt weiß ich, dass alles gut wird. Jetzt weiß ich, dass meine Träume in Erfüllung gehen werden. Jetzt weiß ich, dass ich ihn liebe.

Doch bevor ich ihn umarme und vielleicht nie wieder loslasse, habe auch ich noch eine Aufgabe für ihn.

»Wahrheit oder Pflicht?«

Tristan legt seinen Arm um mich und zieht mich noch näher zu sich. Ich werde ihn schrecklich vermissen, jetzt wo ich weiß, wie es sein könnte.

»Pflicht.«

Ich küsse ihn und streiche ihm über die Wange.

»Du musst zu mir kommen, wenn ich einen Lieblingsmoment brauche. Egal wann und egal wohin.«

Ein Lächeln stiehlt sich auf seine wunderschönen Lippen.

»Ich soll ans andere Ende der Welt fahren, nur weil du einen Lieblingsmoment brauchst?«

»Ja.«

»Ab jetzt?«

»Ab jetzt.«

Er zögert und studiert kurz mein Gesicht. Dann antwortet er überraschend ernst.

»Gut.«

Ich schaue ihm tief in die Augen und laufe Gefahr, mich für immer in ihnen zu verlieren.

»Tristan?«

»Hm.«

»Wie geht unsere Geschichte aus?«

Er hält meinen Blick und scheint über meine Frage nachzudenken. Wir haben uns, glaube ich, zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt kennengelernt, und trotzdem fühlen wir uns so sehr zueinander hingezogen, dass es wehtut, den anderen loszulassen. Wir haben bei Weitem noch nicht genug Zeit miteinander verbracht, nicht einmal ansatzweise.

»Ich habe keine Ahnung.«

Er küsst mich und schließt dann die Augen. Ich betrachte sein Gesicht, damit ich es nie wieder vergesse. Ich brauche kein Foto von ihm, denn ich bin gar nicht in der Lage, Tristan mit all seinen Facetten einzufangen. Vielleicht aber mein Herz.

Den Rest der Nacht verbringe ich damit, ihn anzusehen, seinen Geruch einzuatmen, mir das Gefühl seiner Haut auf meiner einzuprägen. Ich bekämpfe die sich langsam in mir breitmachende Müdigkeit mit dem Versuch, ihn weiter zu studieren – aber es ist ein sinnloses Unterfangen, und noch bevor es hell wird, bin ich doch eingeschlafen. Dabei weiß ich ganz genau: Wenn ich am nächsten Morgen aufwache, wird Tristan nicht mehr da sein.