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Oliver ist noch nicht zurück, aber ich bleibe wach und warte. Ich verbanne sein T-Shirt in das hinterste Eck meines Schrankes, weil es mich zu sehr an ihn erinnert und das auch immer tun wird. Dann checke ich Facebook und entscheide mich, einige der möglichen Features für Tristan zu sperren. Er kann zwar nach wie vor mit mir kommunizieren, aber ich sperre einige Fotoalben, vor allem diejenigen, die mir wichtig sind, und er kann nicht mehr sehen, wann und ob ich online bin. Ich lösche alle seine E-Mails, nicht weil ich sie nicht schön fand, sondern weil ich Gefahr laufe, mich schon beim wiederholten Lesen erneut in ihn zu verlieben. Das lasse ich jetzt nicht mehr zu. Es war eine schöne kurze Episode. Ich habe es genossen, ein bisschen mit dem Feuer zu spielen, eine Art Sommerflirt, aber jetzt und hier ist Schluss damit. Er soll ein Freund werden, und daran wird jetzt gearbeitet.

Ich warte im Wohnzimmer. Es ist weit nach ein Uhr, als Oliver zur Tür hereinkommt. Er scheint überrascht, dass ich noch wach bin, und kommt lächelnd zu mir.

»Holger lässt dich grüßen.«

»Wieso hast du mich nicht mitgenommen?«

In den letzten Stunden habe ich mir Gedanken um Tristan gemacht, und als ich die dann ad acta gelegt habe, ist mir klar geworden, dass er vielleicht gar nicht das Problem ist. Oliver und ich führen eine Beziehung, und etwas scheint nicht mehr zu stimmen, sonst würde ich mich nicht so fühlen. So alleine. Ich muss mit Oliver reden.

»Ich dachte, das würde dich langweilen.«

Das klingt plausibel, macht aber dennoch nur wenig Sinn, wenn man bedenkt, dass Holger nun mal unser Freund ist. Wir haben schon Silvester zusammen gefeiert, er hat gesehen, wie ich mich übergeben habe, ich habe ihn beim Sex mit seiner damaligen Freundin überrascht. Sicher, er ist bei Weitem enger mit Oliver befreundet, aber wir haben nie starke Grenzen in unserem Freundeskreis gezogen. Wieso hat er also damit angefangen? Ich kann es nicht verstehen und will es jetzt wissen.

»Wir unternehmen kaum noch etwas zusammen, ist dir das aufgefallen? Ich habe das Gefühl, du willst mich nicht mehr dabeihaben.«

»Was soll das, Layla?«

»Ist das so?«

»Was soll so sein?«

Ich sehe ihn genau an, beobachte jede Reaktion, sehe, wie er vor mir steht und mir mit jeder ausweichenden Antwort etwas fremder wird.

»Willst du mich nicht mehr dabeihaben? Willst du mich überhaupt noch hierhaben?«

Er schüttelt den Kopf, als wäre das nur Unsinn, als hätte ich keinen Grund und kein Recht, so zu fühlen, wie ich fühle. Aber niemand kann einem anderen Menschen vorschreiben, was er fühlen darf und was nicht. Ich kann das im Moment sehr wohl beurteilen. Ich habe mich vor ein paar Stunden für ihn und gegen Tristan entschieden, und ich brauche nur eine winzige Reaktion, um zu wissen, dass ich das Richtige getan habe. Mehr will ich nicht, mehr verlange ich nicht. Kann das wirklich zu viel sein?

»Layla, kriegst du deine Tage?«

»Nein. Ich will es nur wissen, Oliver.«

»Natürlich will ich dich hierhaben.«

»Aber wir machen nichts mehr zusammen.«

»Himmel Herrgott, Layla, wir haben heute miteinander geschlafen.«

Er kommt auf mich zu, wirft den Haustürschlüssel achtlos auf den Tisch und kniet sich vor mich hin.

»Wie kommst du nur darauf, dass ich dich nicht hierhaben will?«

Weil er mir in den letzten Wochen kein einziges Mal das Gefühl gegeben hat, mich zu brauchen, zu vermissen oder zu lieben. Aber ich sollte mir die Antwort auf diese Frage genau überlegen. Wie viel von meinen ganzen Zweifeln hängen mit Tristan zusammen? Fast alle, würde ich mal spontan behaupten. Es gibt nichts, was mich vorher groß an Oliver gestört hat. Sicher, die kleinen Marotten oder seine nervigen Eigenschaften, ja. Aber es ist Oli, und ich liebe ihn. Bevor ich Tristan kennengelernt habe, war mir Oliver doch auch genug.

»Ich sehe dich kaum noch.«

»Layla, wir zwei sind schon ewig zusammen. Der Stress im Büro und die Reisen, und dann eben dein Job mit seinen eigenartigen Arbeitszeiten. Das lässt wenig gemeinsame Zeit zu.«

Ich schlinge meine Arme um ihn und halte ihn fest. Vermutlich überfordere ich ihn maßlos, aber ich kann nicht anders. Ich halte ihn fest und spüre so langsam wieder das Gefühl von Wärme. Oliver zu umarmen, ihn fest an mich zu drücken, fühlt sich nicht mehr falsch oder merkwürdig an. Es fühlt sich richtig an.

»Ich habe dich einfach vermisst.«

Er nimmt mich fester in den Arm, und ich fühle mich wieder wie zu Hause.

»Ich dich auch. Wollen wir nächste Woche zusammen wegfahren? Nur wir beide. Was hältst du davon?«

Olivers Stimme ist ein Flüstern an meinem Ohr, und ich möchte ihn nie wieder loslassen. Ich nicke wie wild und küsse sein Gesicht. Genau das brauchen wir. Zeit für uns beide. Niemand, der uns dazwischenfunkt, kein Tristan, kein Internet, kein Facebook und keine Weinberge.

»Okay, ich fasse das als ein Ja auf. Ich frage meine Eltern, ob wir das Wohnmobil bekommen, und dann verschwinden wir einfach.«

»Nach Malcesine?«

»Du willst nach Italien? Das ist … Ich dachte eher an den Bodensee.«

Ich will mit ihm eigentlich ans andere Ende der Welt, aber der Bodensee ist ein Anfang.

»Oli.«

»Hm?«

»Ich liebe dich.«

Er sieht mich an, streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und küsst sanft meine Lippen.

Tristan meldet sich nicht. Ich melde mich auch nicht bei ihm. Ich meide seine Facebook-Seite und vor allem seine Fotoalben wie eine Katze das Wasser. Ich zähle die Tage bis zu unserem kleinen Kurzurlaub an den Bodensee, erzähle Beccie nur, dass wir unsere Beziehung etwas aufpeppen wollen, und verheimliche jedes Detail über Tristan und mich in den Weinbergen. Ich versuche so angestrengt, nicht mehr über ihn oder diesen Abend nachzudenken, dass ich eine ernsthafte Falte zwischen meinen Augenbrauen bekomme. Ich gebe mir sogar Mühe, für Oliver zu kochen, damit wir das Abendessen zusammen genießen können. Es gibt eine Pasta nach der anderen, zu mehr fühle ich mich nicht in der Lage. Nach drei Abenden bestellen wir allerdings beim Chinesen, weil niemand diese Pasta-Diät durchhält.

Ich checke meine E-Mails, aber ich bekomme nur die üblichen Nachrichten von Kollegen, von Beccie und von Veranstaltern. Tristan scheint um Facebook einen ebenso großen Bogen zu machen wie ich. Nur sehr selten verirre ich mich doch auf seine Pinnwand und bemerke keine Veränderung. Nichts. Sein Freund Björn postet am Donnerstag ein vereinsamtes Fragezeichen, und danach passiert nichts mehr. Auf meiner Seite sammeln sich Kommentare, Videolinks und manche Bilder, die Freunde mir posten. Aber seine Seite vegetiert einsam und verlassen vor sich hin.

Am Freitagabend habe ich alles gepackt und bin bereit für ein kleines Abenteuer am wunderschönen Bodensee. Wir haben Pläne, haben Ideen und beschließen, uns von nichts und niemandem den Spaß verderben zu lassen. Ich lasse mein Handy ausgeschaltet und habe die letzten zwei Tage sogar meine Bauch-Beine-Po-Gymnastik gemacht, um im Bikini keine allzu verzweifelte Figur zu machen.

Zum Abschied hinterlasse ich eine kurze Statusmeldung bei Facebook. Ich will den Rest der virtuellen Welt wissen lassen, dass es in meinem Leben auch noch so was wie Spontaneität gibt. Wir verziehen uns zu einem kleinen Liebesurlaub.

Damit verabschieden wir uns und düsen mit dem Wohnmobil auf der A81 Richtung Singen. Bei Radolfzell kommen wir an den schönen Bodensee. Auch wenn er nicht der Gardasee oder das Meer ist, überrascht mich sein Anblick immer wieder aufs Neue. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich meinen, wir seien in einem anderen Land. Wasser so weit das Auge reicht … Ich schlage vor, einen Abstecher in die Schweiz zu machen, aber Oliver weist mich darauf hin, dass die Schweiz nicht zur EU gehört und damit »Ausland« sei. Er hat keine Lust auf Grenzkontrollen und Geldwechsel, dabei würde ich sehr gerne bei Schaffhausen den sehenswerten Rheinfall bewundern oder die schönen Fachwerkhäuser in Stein am Rhein fotografieren. Aber auch dieses malerische Städtchen liegt auf schweizerischem Gebiet. Wir entscheiden uns schließlich dazu, weiter auf der deutschen Seite bis nach Konstanz zu fahren. Unterwegs sehen wir die Insel Reichenau mit dem bekannten Kloster, das als ein Zentrum mittelalterlicher Buchkunst sogar auf der UNESCO-Liste des Welterbes verzeichnet ist. Diesmal zwinge ich Oliver zu einem Zwischenstopp, denn ganz ohne fotografische Dokumentation unseres Trips möchte ich nicht nach Hause zurückkehren. Ich schieße ein Foto nach dem anderen, während Oliver mir dabei zusieht. In Konstanz angekommen sind wir beide dann erst mal geschlaucht und froh, am Campingplatz unsere Ruhe zu haben und baden zu gehen.

Das Wetter spielt mit, die Launen spielen mit, das Wasser fühlt sich wirklich fast schon an wie am Mittelmeer, und alles in allem passiert genau das, was ich mir erhofft habe: Wir verbringen Zeit zusammen. Oliver ist gut gelaunt und versucht sich jetzt sogar als Hobbyfotograf. Mit seiner kleinen Digitalkamera knipst er am Strand des Bodensees so ziemlich alles, was ihm vor die Linse kommt. Immer wieder fragt er mich liebevoll nach Tipps, und endlich habe ich das Gefühl, er nimmt mich, mein Talent und meinen Beruf ernst.

Am nächsten Tag gehen wir Hand in Hand am See spazieren, kaufen uns gegenseitig die Lieblingseissorte, schreiben Postkarten und tun so, als wären wir ganz weit weg, auch wenn wir in knapp zwei Stunden schon wieder in der geliebten Heimat wären. Es ist egal, wie viele Kilometer wir zwischen uns und den Alltag gepackt haben, es fühlt sich an, als wären wir in einer anderen Welt. Ich vermisse meinen Laptop nicht. Ich lebe gänzlich ohne Facebook und damit auch ohne Tristan. Sein Name und sein Gesicht huschen nur wenige Mal durch mein Gehirn, aber mehr auch nicht. Ich schlafe nachts mit und neben Oliver und weiß genau, hier gehöre ich hin. Diesmal funkt uns niemand dazwischen, und ich klammere mich an die Hoffnung, das erreicht zu haben, was ich will. Eine Pause von den Gefühlen, vom Chaos und allem anderen. Oliver genießt diesen Kurztrip mehr, als ich angenommen hatte. Er scheint wieder etwas mehr vom Leben zu sehen als seine Kollegen und die Arbeit – nämlich mich. Uns.

Wir wachen zusammen auf, verbringen die Tage zusammen und küssen uns wie Teenager bei untergehender Sonne. Wir machen alberne Fotos und probieren jede Sonnenbrille am Einkaufsstand auf, die uns bekloppt aussehen lässt. So könnte ich ewig leben. So sollte es sein, für immer. Aber viel zu schnell ist die Woche schon zur Hälfte wieder um.

Während wir Hand in Hand durch die Straßen bummeln, überlegen wir, ob wir vielleicht doch noch woanders hinfahren sollen. Ich bin der Meinung, »nur« auf der deutschen Seite des Bodensees zu bleiben, gibt uns nicht wirklich das Gefühl, im Urlaub gewesen zu sein. Wir sollten zumindest bis ans Südufer des Bodensees fahren – bis nach Österreich. Das ist auch noch EU und somit nur noch fast »Ausland«. Oliver murmelt etwas vor sich hin, stimmt mir dann aber nach etwas Bettelei zu.

»Und wohin soll es gehen?«

Ich bleibe vor einem Plakat am Straßenrand stehen.

»Bregenz.«

Oliver folgt meinem Blick und zuckt mit den Schultern.

»Bregenz? Klingt nicht übel.«

Dann fällt sein Blick auf das Plakat, das meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.

»Och nee. Willst du auf dieses Musikfestival? Schatz, um schnöden Pop zu hören, fährt man doch nicht nach Bregenz. Das ist doch so, als würdest du in Paris nicht zum Eiffelturm, sondern nur an die Seine gehen.«

Auf dem Plakat wird tatsächlich ein recht kleines Musikfestival angepriesen, das am Freitag in Österreich stattfindet. Ich lese mir schnell die angekündigten Acts auf dem Plakat durch, einige klingen interessant, andere weniger. Dann erkenne ich einen Namen wieder, und mein Herz macht einen kleinen Hüpfer.

»O doch, lass uns bitte auf dieses Festival gehen. Thomas spielt auch!«

Oliver sieht mich ahnungslos an, aber das darf man bei ihm nicht persönlich nehmen. Er neigt dazu, Namen nicht immer sofort mit Personen, Gesichtern oder Ereignissen in Verbindung zu bringen. Ganz anders als ich. Wenn eine bestimmte Person an einem bestimmten Moment in meinem Leben teilgenommen hat, dann vergesse ich sie so schnell nicht wieder.

»Erinnerst du dich nicht? Thomas Pegram? Er hatte einen Auftritt in Stuttgart, und wir waren zusammen dort. Ich hatte Freikarten, und er hat uns sogar ein Lied gewidmet.«

Oliver scheint nachzudenken. Als ob uns ständig Musiker Lieder bei einem Konzert widmen würden. Wenn ich mich richtig erinnere – und das tue ich –, war es bisher genau einer: besagter Thomas Pegram. Durch Zufall habe ich ihn bei einem Song Slam in Stuttgart kennengelernt und mich für seinen Song »Nicht ohne mich« so begeistert, dass wir uns nach seinem Auftritt noch unterhalten haben. Einige Wochen später habe ich Oliver zu einem Konzert mitgenommen. Erinnert er sich wirklich nicht mehr?

»Wir haben uns danach auch noch mit ihm unterhalten.«

Tatsächlich sind wir nach der Unterhaltung noch mit ihm in einen anderen Club weitergezogen und haben eine nette Zeit mit ihm verbracht. Wir haben ihn beide in unserer Facebook-Freundesliste, aber Oliver steht entweder auf dem Schlauch oder der Tag hatte für ihn nicht die gleiche Bedeutung wie für mich.

»Du mochtest seine Version von Man in the Mirror so sehr.«

Und dann erinnert er sich doch. Ein Lächeln legt sich auf sein Gesicht, er nickt begeistert.

»Ja, klar, ich erinnere mich. Okay. Lass uns nach Bregenz fahren. Wir müssen ja daheim nicht erzählen, wieso.«

Oliver küsst mich spontan auf die Lippen und zieht mich an sich. Einen solchen Gefühlsausbruch habe ich mir schon so lange mal wieder gewünscht, und zwar nicht nur daheim in unserer Wohnung, sondern auch hier, in der Öffentlichkeit. Die Leute sollen ruhig sehen, wie sehr er mich liebt, auch wenn er es nicht oft sagt.

Weil ich Thomas Bescheid geben möchte, dass wir in Bregenz sein werden und uns gerne mit ihm treffen wollen, logge ich mich in einem Internetcafé bei Facebook ein und schreibe ihm eine kurze Nachricht. Natürlich werfe ich dabei auch einen kurzen Blick auf meine Pinnwand. Beccie wünscht uns viel Spaß, einige Freunde laden mich zu Events ein, ein alter Schulfreund hat Geburtstag, sonst alles wie immer. Keine Nachricht von Tristan. Obwohl es befreiend wirken sollte, macht es mich vielleicht ein ganz kleines bisschen traurig. Was ich nicht zugeben werde. Wieso auch? Dann klappt das mit der Freundschaft einfach doch nicht. Vielleicht ist es auch besser so. Den leichten ziehenden Schmerz in der Herzgegend ignoriere ich und sehe, dass Thomas meine Nachricht bekommen und sie auch gleich beantwortet hat. Er ist begeistert, dass wir ihn besuchen wollen, und verspricht, Tickets zu organisieren. Er lässt sie an der Abendkasse hinterlegen und würde sich freuen, wenn wir uns nach dem Gig noch auf ein Bierchen treffen würden. Oliver nimmt meinen Ausflug zu Facebook als Entschuldigung, seine E-Mails zu checken und mit einem sehr netten österreichischen Kollegen zu schreiben, den wir vor dem Konzert noch kurz zum Essen treffen könnten. Thomas spielt erst gegen 21 Uhr. Obwohl ich von dieser Idee wenig begeistert bin, bleibe ich einmal mehr stumm. Wir wollten doch die Arbeit und den Alltag daheim lassen. Aber vielleicht wird ja alles ganz nett und unterhaltsam.

Wir entscheiden uns dafür, Konstanz zu verlassen und die Fahrt bis nach Bregenz in kleine Etappen zu unterteilen. Nichts ist schlimmer als ein gestresster Oliver hinter dem Steuer, so viel kann ich bestätigen. Weil es hier am Bodensee so anders als in Stuttgart ist – es gibt so viel mehr Platz und Natur –, zieht es uns schon nach wenigen Kilometern auf die Insel Mainau, wo ich mich vor Motiven kaum retten kann. Noch lächelt Oliver, während ich Blumen, Häuser, Ufergegenden und Spaziergänger fotografiere, die im perfekten Licht gerade danach schreien, fotografiert zu werden. Doch ich kenne meinen Freund und bemerke schon bald die leichte Veränderung in seinem Blick. Er ist genervt. Und das nach bereits fünfzehn Minuten!

»Willst du die Fotos mal sehen?«

Ein Friedensangebot. Ich will seine Meinung hören, obwohl mir bewusst ist, dass er die meisten der Fotos aus reiner Gewohnheit in der Luft zerreißen könnte, weil sie nie gut genug für ihn sind. Er stellt sehr hohe Ansprüche an sich und den Rest der Welt.

»Sicher.«

Wir setzen uns auf die Sonnenterrasse des Restaurants mit Seeblick. Kurze Zeit später nippt Oliver an seinem Radler und schaut auf den Monitor meiner Kamera, die ich voller Stolz in seine Richtung halte. Er nickt, trinkt weiter.

»Das hier kann ich mir gut in Schwarz-Weiß vorstellen, gerahmt, in einer Galerie.«

Ich scherze nur, um seine für den schönen Tag viel zu düstere Miene etwas aufzuhellen.

»Was sagst du dazu?«

»Nett.«

Nett? Nett ist wie ein Todesstoß in meine Seele. Nett ist weder gut noch schlecht. Nett ist egal.

»Gefallen sie dir nicht?«

Ich wünsche mir jetzt eine ernsthafte Meinung, von mir aus auch einen Verriss. Ich möchte einfach nur, dass er sich ehrlich und ernsthaft damit befasst. Aber das Glück werde ich heute nicht haben, das sehe ich. Er setzt sich die Sonnenbrille wieder auf die Nase.

»Wenn wir am Samstag zu diesem dämlichen Konzert wollen, sollten wir langsam weiter. Oder musst du noch ein paar Gänseblümchen knipsen?«

Ich sehe ihn verletzt an, erkenne aber nur mein Spiegelbild in seiner verspiegelten Pilotenbrille.

»Das ist unfair.«

Er hält kurz inne und streicht dann eine Strähne aus meinem Gesicht.

»Ja. Tut mir leid, Schatz. Mir ist einfach nur heiß, und ich muss raus aus der Sonne. Nicht böse sein.«

Er küsst meine Wange, ich verzeihe ihm. Ich will doch auch keinen Streit. Als er dann auch noch den Arm um mich legt und wir verliebt zurückschlendern, ist ohnehin nichts wichtiger als wir zwei – und dieser Moment. Vielleicht sind Blumenmotive einfach nicht geeignet, um ihn zu beeindrucken.

Es gibt nichts Romantischeres als einen Road Trip mit dem Freund. Die richtige Musik im Radio, die schöne Landschaft, die an einem vorbeizieht, und das Lächeln auf dem Gesicht, wenn Oliver meine Hand in seine nimmt. Einfach so, weil ihm danach ist. Als wir das Ortsschild von Sipplingen am nördlichen Ostufer des Bodensees passieren, dreht er sich zu mir und grinst.

»Weißt du, wenn du daheim die Klospülung drückst, dann geht hier alles drunter und drüber.«

Ich kann ihm kaum folgen, nicke etwas verwirrt. So viel also zur Romantik.

»Sipplingen ist nämlich das Zentrum der Bodensee-Wasserversorgung für den Großraum Stuttgart. Auch das Wasser für deine überlangen Duschen kommt von hier. Krass, oder?«

Beeindruckend. Mein Freund kennt sich also mit Wasserleitungen und deren Ursprung bestens aus. Da erst fällt mir die kleine Spitze auf, die in der kurzen Erklärung versteckt war.

»Findest du wirklich, dass ich zu lange dusche?«

»Manchmal. Vor allem, wenn ich gleichzeitig aufs Klo muss und immer nur das Wasser rauschen höre.«

Wirklich ein Romantiker.

Nachdem wir Überlingen hinter uns gelassen haben, kommen wir nach Nußdorf, wo Oliver eine kleine Pause einlegen will, um etwas zu trinken. Wir laufen Hand in Hand durch das Städtle und fahren dann weiter bis zur wunderschönen Wallfahrtskirche Birnau. Sobald ich sie erblicke, lässt mich mein erster Reflex nach meiner Kamera greifen.

»Nein, Layla. Nicht schon wieder. Wir sind im Urlaub.«

Genau! Und ich bin von der Schönheit der Kirche im warmen Licht dieses sommerlichen Abends total gefesselt. Mein Herz beginnt, schneller zu schlagen, und ich wünschte, wir könnten ewig hierbleiben. Ich muss den Moment einfach für die Nachwelt festhalten.

»Sieh dir dieses Prachtstück doch nur mal an. Sie ist wunderschön.«

»Es ist eine Kirche, Layla. Die sehen alle irgendwie gleich aus.«

»Quatsch!«

Ich führe die Kamera zu meinem Auge, stelle Belichtungszeit, Blende und Fokus ein. Als ich abdrücken will, legt sich Olivers Hand über das Objektiv.

»Du knipst nicht nur betrunkene Teens, sondern auch jeden anderen Quatsch, oder? Es ist nur eine Kirche, Layla. Komm wieder runter.«

»Es ist eine Wallfahrtskirche.«

Und ich knipse nicht. Vor allem keinen Quatsch.

»Dann eben eine Wallfahrtskirche. Ich will eine Pizza. Komm schon, du kannst andere Kirchen knipsen.«

»Fotografieren.«

»Layla.«

Ich will mich wirklich nicht streiten, aber ich habe so langsam die Schnauze voll. Das Licht und der Bildausschnitt waren perfekt für eine Aufnahme, die wirklich beeindruckend hätte werden können.

»Wir sind hier wegen uns, und nicht wegen Kirchen oder sonstigem Unsinn. Okay?«

Wieder will ich ihm widersprechen, aber stattdessen fahren wir schweigend weiter nach Uhldingen-Mühlhofen und suchen dort einen netten Italiener. Wir essen draußen unsere Pizza und reden über harmlose Dinge: über Geld, Fußball und den Bodensee. Nach dem zweiten Glas Rotwein sprechen wir dann über uns. Wir wärmen alte Geschichten auf – Geschichten und Anekdoten von damals, auch die, wie unsere Freunde uns verkuppeln wollten, weil wir ihrer Meinung nach perfekt füreinander waren. Und es noch immer sind. Ich sehe ihn an und frage mich, ob wir wirklich noch immer perfekt füreinander sind. Der Urlaub ist wunderschön, aber wie geht es weiter, wenn wir zurück in Stuttgart sind? Wird jeder wieder in seinen Alltagstrott verfallen? Wird jeder wieder für sich alleine leben? Das war es nämlich, was wir in den letzten Monaten getan haben. Wir haben zwei parallele Leben geführt. Nicht ein gemeinsames. Die Erkenntnis schmerzt.

»Ich vermisse dich manchmal.«

Oliver schaut überrascht von seiner Pizza auf.

»Aber wir sehen uns doch jeden Tag.«

Ich spüre, wie mir plötzlich die Tränen in die Augen steigen.

»Aber nicht richtig.«

»Was ist los?«

Die halbe Flasche Rotwein zeigt ihre Wirkung.

»Du bist da, aber irgendwie auch nicht. Es ist alles so selbstverständlich.«

»Aber das ist doch schön.«

Er versteht mich nicht.

»Ich habe manchmal das Gefühl …«

Plötzlich läuft mir eine Träne über die Wange.

»Layla, warum weinst du?«

Er sieht mich besorgt an, beugt sich zu mir, nimmt mein Gesicht in seine Hand und streicht mir sanft mit dem Daumen die Träne von der Wange.

»Manchmal habe ich einfach das Gefühl …«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist nicht nur ein Gefühl. Es sind Tausende.

»Sag mir bitte, was los ist.«

»... dass ich in deinem Leben nur noch eine Statistenrolle spiele. Irgendwo am Rand. Im Schatten.«

Er sieht mir tief in die Augen und streichelt mir weiterhin sanft über die Wange.

»Layla. Du spielst eine sehr große Rolle in meinem Leben, die Hauptrolle.«

Ich atme tief durch und lehne mein Gesicht leicht in seine Handfläche.

»Danke.«

»Immer.«

»Ich liebe dich.«

Er lächelt, beugt sich weit über den Tisch und küsst mich.

»Versprichst du mir etwas?«

»Was?«

»Du musst mir immer sagen, wenn dir etwas auf dem Herzen liegt. Nicht lange nachdenken und grübeln, einfach sagen. Ich bin manchmal … schwer von Begriff. Ich weiß. Deswegen musst du mir so was immer sagen. Bitte.«

»Gut.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Wir essen zu Ende und unterhalten uns wieder über unverfänglichere Themen. Oliver gibt vor dem Kellner etwas mit seinem mangelhaften Italienisch an, als er versucht, ein Gespräch mit ihm zu führen. Das tut er oft, um mich zu beeindrucken, da bin ich mir sicher. Als er damals erfahren hat, dass mein Vater aus Italien stammt, hat er wichtige Vokabeln auf Italienisch gelernt, um mein Herz zu erobern. Auch wenn viele seiner Sätze damals wenig Sinn gemacht haben, fand ich es wunderschön. Die Erinnerung an damals weckt auch das Gefühl von damals in mir. Oliver hat recht. Ich muss mehr mit ihm sprechen, ehrlich sein und sagen, was ich fühle, wenn ich es fühle. Ich beobachte das Gespräch interessiert, und er strahlt über das ganze Gesicht, als ich ihm beeindruckt zunicke. Eigentlich ist es mit Oliver wunderschön und herrlich einfach. Ich weiß, was er gerne hört, er weiß, was ich nicht mag. Wenn wir streiten, dann eher in der Fliegengewichtsklasse, ganz selten im Mittelgewicht, aber niemals im Schwergewicht. Und auch das Gespräch eben war wichtig. Und gut. Wir sind wirklich ein schönes Paar. Das fällt mir wieder auf, als der Kellner ein Foto von uns macht (zum Glück bittet Oliver ihn diesmal auf Deutsch!) und uns Komplimente macht. Ja, wir sind ein hübsches Paar, und nachdem ich Oliver dazu überreden kann, beim Trinkgeld nicht wie ein typischer Schwabe zu denken, nennt mich der charmante Kellner auch noch »Bella«. Ja, ich würde sagen, dieser Urlaub tut uns gut.

In der Nacht liegen wir lange wach und reden miteinander, zumindest dann, wenn wir uns gerade nicht wie Teenager küssen. Es ist wundervoll, und ich schlafe irgendwann, als draußen schon die Vögel zu singen beginnen, in seinen Armen ein. So richtig in seinen Armen, wie in den ganzen Serien, die wir Frauen über alles lieben. Wie in einem guten Liebesroman. Nicht wie im echten Leben. Es ist wie ein Traum.

Als ich am nächsten Morgen bei der Abfahrt die Pfahlbauten bei Unteruhldingen erwähne und in meiner Tasche krame, ahnt Oliver sofort, dass ich eigentlich nur wieder den Fotoapparat in die Hand nehmen will. Und so unrecht hat er dabei gar nicht. Gleich werde ich von ihm daran erinnert, dass auch er seine Arbeit daheim gelassen hat. Wir hatten uns in Stuttgart darauf geeinigt, dies als Urlaub zu sehen. Wenn es nach Oliver geht, hätte ich meine Kamera gar nicht erst mitnehmen dürfen. Ich gelobe Besserung und lasse meine Kamera in der Tasche, während er den Triumph auskostet und grinsend behauptet, er würde ohnehin die besseren Schnappschüsse machen. Ich weiß, er will mich nur aufziehen, und lächle deshalb freundlich mit, ziehe aber gleichzeitig meine Kamera aus der Tasche. Wir werden ja sehen, wer hier die besseren Schnappschüsse macht. Ich werde mir diese prähistorische Siedlung nicht durch die Finger gleiten lassen und bei diesem schönem Licht ein paar großartige Fotos machen.

»Du willst mich also zu einem Duell herausfordern?«

»Nein, das will ich nicht.«

»Aber du kannst nicht einfach behaupten, die besseren Schnappschüsse zu machen, und dann kneifen.«

»Das kann ich sehr wohl. Du siehst mir gerade dabei zu.«

Er grinst breit, und ich spüre Enttäuschung und eine Prise Wut in mir aufkeimen. Draußen sehe ich das Schild, das zu den Pfahlbauten führt, an mir vorbeisausen.

»Oli, wir können doch nur kurz …«

»Nein. Ich will jetzt nicht anhalten, ich will heute noch in Friedrichshafen ankommen.«

Er klingt plötzlich genervt, das Grinsen ist aus dem Gesicht verschwunden.

»Aber.«

»Layla, wir kommen sonst zu spät.«

»Fünf Minuten.«

»Können wir nicht einfach mal nur von A nach B fahren? Ohne Umwege und Zwischenstopps?«

»Na gut. Wenn es dir so wichtig ist.«

»Ist es. Danke.«

»Bitte.«

Mit etwas Magenschmerzen schaue ich zu, wie wir Meersburg und die älteste bewohnte Burg Deutschlands aus dem 7. Jahrhundert hinter uns lassen, und fühle mich um ein weiteres wunderbares Motiv betrogen.

»Hast du nicht gewusst, dass hier im 19. Jahrhundert die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff einen Teil ihrer letzten Lebensjahre verbracht hat? Sie ist auch hier gestorben.«

»Ach ja? Was willst du denn mit dieser alten Dichterin? Du bist jung und wirst noch genug andere Motive knipsen dürfen.«

»Joa.«

Aber überzeugt bin ich nicht. Ich fühle mich wie in einer Zwangsjacke, während das nächste potenziell perfekte Motiv einfach an mir vorbeizieht. Ich schmolle, was Oliver nicht auffällt.

»Im Ernst, wen willst du denn mit deinen Fotos von alten Burgen und Kirchen beeindrucken?«

Ich weiß nicht sofort, was ich darauf antworten soll. Deshalb gebe ich Oliver die Antwort, die er hören will.

»Kunden.«

»Party-Veranstalter?«

Er scheint wirklich verwirrt.

»Nein. Ich dachte mir, vielleicht könnte ich auch mal wieder etwas andere Fotografie betreiben. Wie früher. Und inzwischen kenne ich auch ein paar Leute, die …«

»Darüber haben wir doch gesprochen. Du schreibst erst seit zwei Jahren schwarze Zahlen. Alles andere ist ein Hobby, da waren wir uns doch einig.«

Er war sich einig.

»Es geht doch nicht immer nur um das Geld, Oli.«

»Ich weiß, ich weiß, die Kunst.«

Er verdreht die Augen und lacht kurz auf.

»Hör auf damit.«

Ich werde etwas lauter. Oliver nimmt die Sonnenbrille ab.

»Ich meine doch nur …«

»Ich weiß, was du meinst.«

Ich stopfe alle Objektive in meine Kameratasche und hebe die Hände, als würde ich mich ergeben.

»Siehst du, ich fasse sie nicht mehr an. Du hast gewonnen. Die Knipserei hat ein Ende. Ich gebe mein blödes Hobby für diesen Urlaub auf.«

Ich bin ehrlich wütend und denke, dieser Streit wird nicht mehr in der Fliegengewichtsklasse beendet. Aber Oliver schüttelt den Kopf.

»Süße, so war das doch gar nicht gemeint. Wirklich. Es tut mir leid. Ich liebe deine Bilder. Ich dachte nur, du solltest auch mal abschalten. Und wenn du immer an diese Fotos denkst, dann ist das doch auch Arbeit. Du sollst dich erholen. Du hast frei! Wir fahren hier gemeinsam um den wunderschönen Bodensee. Wie oft kommt das schon vor? Bitte. Genieße den Augenblick. Schau dich um. Ohne Kamera im Anschlag.«

Habe ich ihn etwa die ganze Zeit falsch verstanden? Geht es ihm gar nicht darum, mir die Unsinnigkeit meines Jobs vor Augen zu führen? Macht er sich vielleicht Sorgen um mein Stress-Level?

»Du willst, dass ich entspanne?«

»Ja.«

»Und du liebst meine Bilder?«

»Ja.«

Ich küsse ihn spontan und spüre das Lächeln auf seinen Lippen.

»Ich liebe dich, Oli.«

Sein Lächeln wird größer, als er meinen Kuss erwidert.