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»Ein peinliches Geheimnis, das wirklich niemand kennt?«

Ich schüttele sofort den Kopf und hebe abwehrend die Hände. Bei dieser Frage fällt mir leider nur ein wirkliches Beispiel ein – und das zu nennen, würde gegen ein mir selbst gegebenes Versprechen verstoßen. Nein, niemals würde ich mir die Blöße geben und das sagen. Niemandem. Nicht einmal Beccie weiß davon.

»Ich nehme Pflicht.«

»Nein, tust du nicht.«

»Doch sicher, du hast dich auch umentschieden. Außerdem hast du nicht gefragt, was ich will.«

»Pflicht wäre eine grausame und nur schwer zu überstehende Aufgabe, die ich dir gerne ersparen möchte.«

»Wie grausam?«

»Sehr grausam.«

»Gut. Wenn du das jemals jemandem erzählst, bringe ich dich um und esse deine Überreste, um sicherzugehen, dass du auch ja nie wieder auferstehst.«

Er hebt die Hand zum Schwur und nickt würdevoll, aber ich sehe das Lächeln, das sich in seinem Mundwinkel versteckt, und es macht in mir irgendwie click!. Ich kann ihm vertrauen und werde es auch. Vielleicht werde ich das später bitter bereuen und schwer büßen, aber ich werde es darauf ankommen lassen.

»Ich habe einen vierwöchigen Striptease-Kurs besucht.«

Ich sage es schnell und hastig, damit es gesagt ist und ich es nie wiederholen muss. Auf der anderen Seite fühlt es sich gar nicht so schlimm an, es gesagt zu haben. Es war so lange in mir drinnen, und jetzt ist es raus. Tristans Gesicht zeigt pure Überraschung, und ich weiß, er wird fragen, aber ich will ihm zuvorkommen.

»Wahrheit oder …«

»Du hast was?«

»Du hast mich schon verstanden.«

»Und davon weiß niemand?«

»Niemand.«

»Wolltest du umschulen, oder was?«

Ich muss lachen.

»Nein. Ich wollte Oliver damit überraschen. Ich dachte, so was wünschen sich doch irgendwie alle Kerle. Deshalb wollte ich es ihm sozusagen schenken, verstehst du?«

»Ja, aber sicher! Bloß dann ist es ja gar kein Geheimnis, das – ich betone – wirklich niemand kennt.«

»Doch. Ich habe es ihm nie geschenkt.«

»Wieso nicht?«

Und ab jetzt ist es irgendwie keine lustige Anekdote mehr. Jetzt weiß ich wieder, wieso ich es hätte lieber vergessen wollen. Seit Monaten habe ich nicht mehr daran gedacht, weil es wehtut.

»Ich hatte alles vorbereitet. Ich hatte mir sogar sexy Unterwäsche gekauft, alles.«

Tristan nickt kurz, er grinst nicht mehr. Vielleicht merkt er, wie sehr ich mich zum Affen gemacht habe.

»Ich wollte ihm etwas Besonderes bieten. Als ich dann endlich so weit war, also an dem Abend … Wir kamen irgendwie auf das Thema, und er sagte mir, er hätte für Stripperinnen ja nur Mitleid übrig und wie blöde man sich als Frau doch dabei vorkommen müsse. Es sei eine billige Fleischbeschau, mehr nicht. Das sagt er so beim Essen, während ich die heiße Unterwäsche schon anhabe und die CD im Player liegt. Peinlich, oder?«

Tristan sagt nichts, nimmt nur einen Schluck Bier.

»Und weißt du, was wirklich ärgerlich ist?«

Er schüttelt leicht den Kopf.

»Zwei Wochen später war er mit Kumpels in einem Striplokal und fand es dann doch ganz beeindruckend, was die Frauen da so machen.«

Tristan spielt mit den Fingern an dem Flaschenhals seines Bieres herum. Diesmal sieht er mich nicht an.

»Aber du hast nie für ihn gestrippt?«

»Nein. Ich hatte danach keine Lust mehr.«

»Weißt du, Layla, vielleicht ist das auch besser so.«

»Ja?«

Erst jetzt hebt er langsam seinen Blick und sieht mich wieder an.

»Ja. Er hätte es nicht verdient.«

Ich lächle ein kleines bisschen und versuche, mir nicht allzu sehr anmerken zu lassen, wie sehr mich dieser Kommentar freut.

»Das ist lieb von dir.«

»Ich weiß.«

Er grinst mich an, und ich grinse zurück, während er noch einen Schluck Bier nimmt und mich dann interessiert mustert.

»Du kannst also strippen.«

»Na ja.«

»Das ist doch auch irgendwie cool. Wie so eine geheime Superkraft oder so.«

»Was?«

Er redet Unsinn. Ich will schwer hoffen, er ist sich dessen bewusst. Es ist nämlich nicht so, als würde ich dabei wie Jessica Alba in »Sin City« oder Salma Hayek in »From Dusk Till Dawn« aussehen. Wirklich nicht.

»Klar. Du hast uns Männer in der Hand.«

Ich muss lachen, und er sieht mich gespielt todernst an, als könnte er nicht verstehen, dass ich ihn nicht verstehe. Was ich allerdings auch nicht tue. So habe ich die ganze Sache nämlich tatsächlich noch nie gesehen.

»Ist das so?«

Er nickt.

»Wir Männer sind manchmal sehr … einfach gestrickt, wenn Frauen mit den Hüften kreisen und dabei Kleidungsstücke ablegen. Es ist wie ein Fluch.«

»Ein Fluch?«

»Ja.«

»Interessant.«

Es muss der Alkohol, das gerade einsetzende Lied und die entspannte Stimmung sein, denn sonst kann ich mir unter keinen Umständen erklären, was ich als Nächstes tue. Fast fühlt es sich so an, als würde ich meinen Körper verlassen und als Beobachterin die folgenden Momente verfolgen. Hoffentlich werde ich nie wieder nüchtern.

Denn ich nicke im Takt der Musik, die uns aus dem Inneren des VW-Busses erreicht, und stehe leicht wankend auf. Tristan will mir helfend die Hand reichen, aber ich stehe relativ sicher auf diesem Dach, wenn ich mich etwas konzentriere. Und schon scheint sich meine Hüfte selbstständig zu machen, und ich versuche, mich so gut es geht an die Tipps aus dem Kurs zu erinnern: nicht übertreiben, sich wohlfühlen, atmen, der Musik folgen. Es klang damals alles so einfach, und mit Bier im Blut ist es das jetzt auch. Na gut, dann mal los. Ich wiege mich im Takt der Musik, greife nach dem ersten Knopf meiner Bluse und knöpfe sie langsam und verführerisch auf, dann drehe ich ihm den Rücken zu, werfe ihm einen lasziven Blick zurück zu und zeige ihm kurz meine nackte Schulter, sodass er für einen Moment den Träger meines schwarzen BHs sieht. Tristan lehnt sich grinsend zurück und pfeift durch die Zähne. Ich drehe mich wieder zu ihm um, sehe ihm tief in die Augen, mache einen Schritt auf ihn zu, gehe spielerisch in die Knie und beuge mich zu ihm vor, als würde ich ihn küssen wollen – und das zu spielen ist leichter, als es nicht zu tun. Er grinst breiter, als ich mich im letzten Moment doch abwende und neckisch mit dem Po wackele. Auch ich muss grinsen. Woher ich die Courage habe, mich hier so zum Affen zu machen, kann ich mir nur mit Übermut erklären. Als sich unsere Blicke wieder finden, gibt es in meinem Brustkorb eine kleine Explosion. Auch wenn wir später vielleicht behaupten, einfach betrunken gewesen zu sein – das Leuchten in seinen Augen rührt nicht vom Alkohol und ist auch nicht gespielt. Macht es ihn an? Mache ich ihn an? Durch meine kleine Tanzeinlage? Mein Körper folgt der Musik, und ich öffne noch einen Knopf, diesmal den untersten, schiebe die Bluse leicht nach oben und entblöße etwas von meinem Bauch, den Beccie freundlicherweise als »perfekt!« bezeichnet, der mir aber nur ein ernst gemeintes »Na ja, geht so« entlockt. Tristan nimmt einen Schluck Bier und lässt mich keinen einzigen Moment aus den Augen. Inzwischen ist sein amüsiertes Grinsen einem interessierten Lächeln gewichen. Es ist komisch, aber ich fühle mich wirklich sexy und attraktiv. So, als hätte ich ein komplettes Make-over bekommen. Eine Art Selbstbewusstseins-Make-over. Ich will mich vor Freude um die eigene Achse drehen, tue es auch und komme dabei sofort bedrohlich ins Schleudern. Prompt verliere ich zuerst den Halt und dann auch noch das Gleichgewicht. Das wird gleich wehtun. Aber ich falle nicht, denn Tristan ist schneller, steht neben mir und greift nach meinem Arm, bevor ich einen spektakulären Stunt vom Autodach hinlegen kann.

Unsere Körper und Gesichter sind sich zum wiederholten Male an diesem Abend verdächtig nah. Tausende Schmetterlinge und Käfer flattern gleichzeitig auf, in dieser wunderschönen Sommernacht in den Weinbergen. Und er hält mich noch immer, nah bei sich. Verdammt. Ich will wissen, wie seine Lippen schmecken und wie es sich anfühlen würde, wenn er mich in genau diesem Augenblick küssen würde. So wie in meinem Traum? Ich sehe ihm tief in die Augen und sehe dort das gleiche Verlangen danach, mich zu küssen. Eigentlich ist jetzt hier oben alles so sternenklar. Ich liege in seinen Armen und könnte ihn für mich haben.

Es ist die letzte Chance, nicht das Falsche zu tun.

»Wahrheit oder Pflicht, Tristan.«

Er nickt, lässt mich aber noch immer nicht los.

»Wahrheit.«

Mein Puls rast, mein Herz flattert, und mein Mund ist trocken. Ich muss schlucken und all meine Konzentration aus meiner Magengegend wieder in mein Gehirn pumpen. Meine Stimme ist nur noch ein Flüstern, als ich die Worte endlich über meine Lippen bringe.

»Liebst du Helen?«

Etwas in seinem Blick ändert sich schlagartig.

»Ja.«

Das saß. Es ist die kalte Dusche, die wir beide gerade so dringend nötig haben. Ich löse mich schnell aus seinen Armen. Tristan räuspert sich, während ich meine Bluse schnell wieder zuknöpfe und die peinliche Einlage von eben vergessen machen will. Er kann mich nur kurz ansehen, bevor er seinen Blick wieder auf etwas hinter mir wirft.

»Willst du noch ein Bier?«

Ich schüttele den Kopf.

»Das wird nicht reichen, um das eben zu vergessen.«

»Was?«

Jetzt sieht er mich doch wieder direkt an, und für den Bruchteil einer Sekunde meine ich, etwas Trauriges oder Ängstliches in seinen Augen aufflackern zu sehen.

»Da braucht es schon was Anderes.«

Jetzt sieht er mich eindeutig verwirrt an, was irgendwie liebenswert aussieht.

»Mir wäre jetzt eher nach einem Cuba Libre. Mit viel Rum.«

Ich spüre ein leichtes Lächeln auf meinen Lippen, und Tristans Miene hellt sich auch endlich auch wieder auf: Da ist es, dieses Jungenhafte, dieses Besondere an ihm.

»Kommt sofort. Das mische ich schnell für dich. War ja mal Barkeeper.«

»Wieso überrascht mich das kein bisschen?«

»Weil ich das Klischee perfekt erfülle?«

Er klettert vom Dach, und ich kann kurz durchatmen.

Was war das gerade? Ich bin angetrunken, keine Frage, aber bin ich nicht wirklich betrunken, oder? Ich schließe kurz die Augen, noch dreht sich nichts. Na gut, vielleicht ein bisschen. Okay, nach dem Rum ist Schluss, mehr geht heute wirklich nicht. Schnell wühle ich mein Handy aus der Tasche und bemerke, dass Beccie erneut versucht hat, mich zu erreichen. Von Oliver nach wie vor kein Lebenszeichen.

»Sag mal, wieso haben wir noch mal Milch gekauft?«

Tristans Stimme erreicht mich aus dem Inneren des Busses, und ich spüre wieder diese kleine Wut in mir aufflackern.

»Diese verfluchte Milch.«

»Was?«

»Die ist für Oliver.«

»Ach so. Verstehe.«

Ich verstehe nicht mehr. Ich weiß nicht, wieso ich nicht einfach vergessen habe, sie zu kaufen. Ich verstehe nicht, wieso ich sogar hier und jetzt noch daran denke, Milch zu kaufen.

»Einmal Cuba Libre, und einmal Wurfgeschoss aus Kuhmilch.«

Er stellt ein Glas und eine Packung Milch vor mich hin. Ich bin, wie so oft bei Tristan, etwas verwirrt. Ich nehme einen großen Schluck Cuba Libre. Mit viel Rum.

»Danke. Aber was soll das?«

»Die Milch ist verflucht.«

»Wieso sollte …«

»Hast du eben selbst gesagt.«

»Aber …«

»Du sollst deinen Frust und deine Wut und alles andere in Form dieser Milchpackung in den Himmel schleudern.«

»Soll ich?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil er es verdient hat.«

»Oliver?«

»Ja, Oliver.«

»Du kennst ihn doch gar nicht.«

»Ich habe aber schon viel über ihn gehört.«

»So schlimm ist er nun auch wieder nicht. Ich habe da vielleicht ein bisschen einseitig … argumentiert.«

Wieso versuche ich schon wieder, ihn zu verteidigen? Alles, was ich Tristan über Oliver erzählt habe, stimmt. Ich trinke noch einen großen Schluck Cuba Libre, denn ich brauche jetzt Mut.

Da steht sie, die Milchpackung. Sie wehrt sich nicht und sieht mich auffordernd an. O wie verlockend. Es wäre nur ein kleiner Wurf für die Menschheit! Ich packe das blöde Ding, hole weit aus und feuere dann das Milchgeschoss wütend in den Himmel. Es fühlt sich gut an. Tristan grölt laut neben mir und klatscht dabei in die Hände. Angesteckt von seinem Geschrei schreie auch ich unsinniges Zeug in die Nacht. Der dämlichen Milch hinterher. Irgendwann landet meine Hand in seiner, und während ich alles, was in mir wütet, endlich rauslassen kann, fühlt es sich an, als verliere ich gefühlte vier Kilo Ballast. Wenn ich gewusst hätte, dass Schreien wirklich besser wirkt als die Weight Watchers, ich wäre sofort First-Row-Fan von Tokio Hotel geworden. Und das schon vor Jahren. Aber ich verliere nicht nur aufgestauten Ballst, ich gewinne auch Mut.

Unser Echo verhallt in der Nacht, wir halten uns noch immer an den Händen, als die ersten Regentropfen auf unsere Köpfe prasseln. Ich bin für gewöhnlich eine dieser Frauen, die bei Regen schneller gehen, weil sie sonst Locken bekommen, und ich sehe mit Locken aus wie eine schreckliche Kopie von Tina Turner an einem Bad-Hair-Day. Aber diesmal ist es mir reichlich egal. Ich genieße es sogar. Wir stehen einfach da, auf dem Dach des VW-Busses, und genießen das Sommergewitter. Und tatsächlich fühle ich mich schon bald ruhig – und sehr nass.

»Ich sollte dich nach Hause fahren …«

Tristan sieht mich von der Seite an, und wir wissen beide, dass keiner von uns diesen Bus heute von hier wegfahren könnte und sollte. Wir haben getrunken und getrunken, und dann noch etwas mehr getrunken. Niemals sind wir jetzt noch in der Lage zu fahren.

»… aber ich kann nicht.«

Er lacht kurz.

»Soll ich dir ein Taxi rufen?«

Ich stehe im Regen, der immer stärker wird, und spüre die Nässe auf meiner Haut. Ich brauche weder ein Taxi noch ein Auto, so wie ich mich gerade fühle, könnte ich auch nach Hause laufen.

»Layla? Wir sollten mal raus aus dem Regen. Es sei denn, du stehst auf Lungenentzündungen.«

Tristan kippt den Inhalt meines Glases auf den Rasen unter uns und klettert vom Dach, das schon leicht rutschig geworden ist. Aber ich bleibe oben stehen und spüre, wie sich etwas in mir verändert. Ich kann nicht sagen, was es ist und was es mit mir machen wird, aber etwas verändert sich. Vielleicht ist es aber auch nur der Alkohol, der mir mehr Mut schenkt, als ich im nüchternen Zustand vertrage.

»Layla, im Ernst, komm runter bitte.«

Und obwohl ich mich so fühle, als könnte ich fliegen, als könnte ich direkt über die Dächer Stuttgarts hinweg in den Nachthimmel stürmen, überzeugt mich ein lauter Donner davon, besser vom Dach zu klettern – was ich dann auch tue. Ich falle nicht, obwohl mir die Schritte schwerer fallen, als ich dachte. Tristans Arme nehmen mich unten in Empfang, inzwischen sind wir beide mehr oder weniger vom Regen durchnässt, und mir fällt ein, dass meine weiße Bluse inzwischen ziemlich durchsichtig geworden sein dürfte und mehr von mir preisgibt, als ich es geplant hatte. Auch Tristans T-Shirt klebt an seiner Haut. Ich spüre seinen Blick auf mir, wie er mich ansieht, wie sein Blick über meinen Oberkörper gleitet. Das ist eine ganz schlechte Idee! Tristan greift nach meiner Hand, und wir klettern ins Innere des Busses.

»Wir sollten aus den nassen Klamotten raus.«

Ich weiß, dass er recht hat, aber noch klammere ich mich an seine Antwort auf meine letzte Wahrheit-Frage. Er liebt Helen.

»Ach, das geht schon.«

Er zieht eine Kiste unter der Sitzbank hervor und wühlt zwei große T-Shirts hervor. Beide sehen so aus, als gehörten sie in die Altkleidersammlung. Der Druck ist zum größten Teil verwaschen, und man kann die Buchstaben nur erahnen, allerdings nicht mehr das Wort, das sie bilden.

»Grau oder grün?«

»Ich ziehe das nicht an.«

»Doch. Oder hättest du lieber eine schöne Lungenentzündung. Oder Schnupfen mit Halsweh? Layla, grau oder grün?«

Ich greife nach dem grauen T-Shirt, weil es mir nicht ganz so schrecklich vorkommt. Außerdem zwinge ich ihn damit in das grüne, und das wird für mich bestimmt ein Grund zum Lachen sein.

»Also entweder ich rufe dir ein Taxi hierher oder du schläfst auf der Klappcouch da hinten.«

Er dreht sich, ganz Gentleman, von mir weg, zieht sein nasses T-Shirt aus und gibt mir so einen Blick auf seinen Rücken frei. Seinen nackten, muskulösen Rücken. Ich sollte mich ebenfalls umziehen, solange er mir den Rücken zudreht, aber ich ertappe mich dabei, wie ich seine Wirbelsäule betrachte, seine Rippen, an denen ich meine, ein Tattoo an der Seite erkennen zu können. Ich kann mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ich habe noch nie in meinem Leben einen erotischeren Rücken gesehen als diesen. Aber er liebt Helen. Und ich habe Oliver. Wir sind Freunde. Warum vergesse ich das nur immer so schnell? Bevor er sich wieder zu mir dreht, ziehe ich schnell meine nasse Bluse aus und schlüpfe in das T-Shirt, das mir viel zu groß und nicht gerade vorteilhaft für meine Figur ist. Aber es ist trocken und riecht frisch.

»Also?«

»Ich nehme die Couch.«

Er dreht sich vorsichtig zu mir um und nickt dann. Ich weiß nicht, wieso ich nicht auf das Taxiangebot eingehe, und ich weiß auch nicht, wieso ich diesen kleinen Bus und den Regen meinem warmen Bett neben Oliver vorziehe. Aber ich will einfach noch nicht gehen. Mit wenigen Handgriffen baut Tristan die Sitzbank zu einer gemütlich wirkenden Schlafcouch um, legt mir Kissen und Decke bereit. Er scheint öfter hier zu übernachten, und sofort fallen mir alle warnenden Sprüche meiner Mutter wieder ein. Ich kenne diesen Mann nicht und bin doch bereit, mit ihm hier zu übernachten. Allerdings legt er sein Kissen nach vorne auf den Fahrersitz.

»Was soll das denn?«

»Ich gehe schlafen.«

»Auf dem Fahrersitz?«

»Ja.«

Ich krieche unter die Decke. Die Couch bietet genug Platz für zwei Personen, und auch wenn wir kein Paar sind, kann man sich durchaus zusammen eine Couch teilen. Außerdem hatten wir heute schon unseren kritischen Moment – und haben ihn verstreichen lassen. Gut, ich habe uns eine kalte Dusche verpasst, aber ich glaube, ich kann es wieder, wenn es sein muss. Jetzt wo ich die Wahrheit kenne.

»Tristan Wolf, wir sind keine fünfzehn. Also los.«

Er rührt sich nicht, sieht mich nur an. Zögert er? Denkt er an Helen, während mir Oliver in diesem Moment ziemlich egal ist? Das tut ein bisschen weh.

»Keine Angst, ich will nicht mit dir schlafen, ich will nur neben dir schlafen. Es wäre unfair, wenn du die Nacht auf dem Fahrersitz verbringen müsstest. Also, komm jetzt.«

Woher ich diesen plötzlichen Mut habe, der für mich ganz untypisch ist, kann ich wirklich nicht erklären. Aber die Worte kommen so leicht und schnell über meine Lippen, ich kann sie nicht mehr zurücknehmen. Diese Nacht ist doch ohnehin schon verrückt genug – wieso also nicht? Es wird nichts passieren. Ich hintergehe niemanden. Wir sind zu betrunken, um Auto zu fahren, und das Geld für das Taxi spare ich mir.

Tristan nickt, gibt nach und legt sich schließlich neben mich. Wir berühren uns nicht. Wir liegen einfach nur nebeneinander in diesem trockenen Bus, während draußen ein Sommergewitter über uns hinwegfegt. Ich schließe die Augen und lausche dem Prasseln des Regens auf dem Autodach, so wie damals mit meinen Eltern im Campingurlaub. Es fühlt sich gut an. Sicher.

»Tristan?«

»Hm.«

»Das hier, genau dieser Moment, ist mein Lieblingsmoment.«

Unter der Decke spüre ich seine Hand, die meine langsam umschließt.

»Das ist auch mein neuer Lieblingsmoment, Layla Desio.«

Und mit einer endlosen Wiederholung seiner Worte in meinem Kopf schlafe ich schließlich, seine Hand haltend, ein.