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Ich spüre, wie er seinen Arm von hinten um mich legt und meinen Nacken küsst. Er riecht nach Bier und Zigaretten, dabei raucht Oliver nicht einmal. Die rote LCD-Anzeige des Weckers neben mir zeigt an, dass es kurz nach zwei Uhr ist. Ich habe ihn schon im Flur gehört, dann im Bad, jetzt liegt er neben mir im Bett, und ich bin sauer.

Wie so oft habe ich nämlich auf ihn gewartet. Nicht mit dem Essen, das hätte ich nicht durchgehalten, aber ich wollte ihn heute wenigstens noch kurz sehen. Also habe ich es mir auf dem Balkon bequem gemacht, habe gelesen und Musik gehört, mit Beccie telefoniert, aber irgendwann habe ich es sattgehabt, auf mein Handy zu starren. Das war um halb zwölf. Er hat geschrieben, dass er gegen zehn Uhr in Stuttgart ankommt. Gut, manchmal folgt noch ein Absacker mit den Kollegen, daran habe ich mich längst gewöhnt, aber ich hatte einfach gehofft, dass er sich irgendwann vielleicht doch losreißen würde, um zu mir nach Hause zu kommen. Ich hatte gehofft, er würde noch etwas Zeit mit mir verbringen wollen. Wollte er offenbar nicht. Warum auch immer. Dabei sehen wir uns ohnehin recht selten, wenn man bedenkt, dass wir zusammenwohnen. Unter der Woche kommt er oft erst spät nach Hause und ist müde vom Tag, und am Wochenende arbeite ich oft bis spät in die Nacht und bin dann am nächsten Morgen müde. Das reduziert unsere gemeinsame Zeit viel zu oft auf die, in der wir uns das Bett teilen und nebeneinander einschlafen.

Ich möchte gerne wissen, wie sein Tag gelaufen ist und ob es ihm gut geht, aber ich bin noch sauer. Er hätte wenigstens kurz anrufen können. Da ich keinen Streit will, halte ich die Augen weiterhin geschlossen und warte, bis seine Atmung ruhig und gleichmäßig geworden ist. Dann erst stehe ich leise auf und schleiche auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer. Unterwegs sammele ich seine Socken und seine Hose ein. Ich bringe alle Klamotten, die ich finden kann, ins Bad und hänge sie dort auf. Sie stinken nach Rauch, und ich will diesen Geruch nun wirklich nicht in der ganzen Wohnung verteilt. Wir haben uns darauf geeinigt, dass in der Wohnung nicht geraucht wird, auch Freunde gehen auf den Balkon. Und genau dahin begebe ich mich jetzt. Es ist mein liebster Platz hier. Unser Balkon über den Dächern der Stadt, mit einem schönen Blick – fast bis zum Fernsehturm, wenn ich mich etwas auf die Zehenspitzen stelle.

Die Nacht ist warm, der Himmel klar, und ich atme tief ein. Es ist so schön, im Sommer hier draußen zu stehen und einfach nur die Ruhe zu genießen. Früher saßen Oliver und ich hier oft zusammen auf dem großen Sessel. Das war vor seiner Beförderung. Er saß dann immer hinter mir, hat seine Arme um mich gelegt, und wir haben zusammen Wein getrunken, die Sterne angesehen, geflüstert und gelacht. Irgendwann kam dann der Stress in der Arbeit. Er machte Karriere, und ich baute meine kleine Firma auf. Ich habe jeden Job angenommen, der ins Haus kam, um mir einen Namen zu machen und gegen die starke Konkurrenz hier eine Chance zu haben. Wir waren froh, wenn wir gemeinsam erschöpft ins Bett fallen konnten, und obwohl der Wecker uns viel zu früh wieder aus dem Land der Träume riss. Vielleicht sollte ich das wieder etwas öfter mit ihm machen. Hier zusammen draußen sitzen, Sterne zählen. Einfach so, unter der Woche, nur wir zwei. Es heißt doch, man solle den Trott in einer Beziehung durch verrückte kleine Momente aufbrechen. Ich kann mich auch nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal mit mir ausgegangen ist oder wenigstens auf einer meiner Arbeitstouren dabei war. Früher hat er das sehr gerne gemacht, mich begleitet und dann mit mir getanzt. Wir haben einige verrückte Fotos von uns: wie wir tanzen, uns küssen, uns umarmen. Immer sind sie etwas verschwommen, unscharf oder aus einem ungewöhnlichen Winkel fotografiert, aber genau deswegen habe ich sie so geliebt. Es waren wunderschöne Momentaufnahmen.

Ich seufze. Heute möchte er am Wochenende abends lieber ausspannen. Er arbeitet einfach viel zu viel. Wenn ich ihn darauf aber direkt anspreche, fasst er es immer gleich als Angriff oder Beleidigung auf, und wir schweigen uns den Rest des kostbaren gemeinsamen Abends während CSI Miami nur noch an. Das möchte ich schließlich auch nicht. Oliver ist nun einmal sehr ehrgeizig, und das gefällt mir an ihm. Er weiß, was er will, und er hat immer ein klares Ziel vor Augen, für das er alles gibt.

Ich finde es gut, dass der Mann an meiner Seite einen guten Job hat, mit dem er im Notfall die Familie ernähren könnte. Das könnte Oliver ohne Zweifel. Trotzdem bin ich auch sehr stolz darauf, selbst einen ordentlichen Beitrag zu unserem Einkommen leisten zu können. Es geht uns finanziell nicht schlecht, und wir haben keinen Grund, uns zu beschweren. Allerdings verlieren wir dadurch auch viel Freizeit und Zeit für uns, nur für uns. Wir machen nur noch wenig zusammen, und es fehlt mir. Er fehlt mir. Die Art und Weise, wie er mich angesehen hat, wenn wir zusammen getanzt haben, und wie er von mir gesprochen hat, wenn seine Freunde im Club gefragt haben, was ich beruflich mache. All das hat sich verändert, und das passiert nun mal in Beziehungen, dessen bin ich mir bewusst. Vielen Freunden geht es ganz ähnlich wie uns. Sie bekämpfen das mit Kurzurlauben und Wochenenden am Bodensee.

Ich schaue wieder hoch zu den Sternen, und anstatt zurück ins Bett zu gehen, setze ich mich alleine auf den großen Sessel, ziehe die Füße an den Körper und stütze mein Kinn auf meine Knie.

So sitze ich eine ganze Weile, bevor ich mich doch wieder neben ihm ins Bett lege und ihn betrachte. Selbst jetzt sitzt seine Frisur perfekt, und sein Brustkorb hebt und senkt sich bei jedem Atemzug. Langsam lege ich meine Hand auf seine Brust, direkt auf sein Herz, und schließe die Augen. Ich spüre seinen Herzschlag in meiner Handfläche und möchte mit diesem Gefühl einschlafen. Doch es dauert keine zehn Sekunden, da schiebt Oliver meine Hand sanft weg und rollt sich auf die andere Seite, ohne wirklich wach zu werden. Ich bleibe auf meiner Seite und starre auf seinen Rücken. Wieso ich ausgerechnet jetzt an Tristan denken muss, weiß ich nicht.

»Hast du meine Hose gesehen?«

Die Sonne fällt durch die Vorhänge, und ich weiß genau, ich habe verschlafen. Was nicht besonders schlimm ist, da ich meine eigene Chefin bin und mich wohl kaum selber feuern würde.

Oliver steht mit einem frischen Hemd und Krawatte, sonst aber nur in Boxershorts bekleidet neben dem Bett und sieht mich fragend an. Er sieht heute wirklich unverschämt fit aus, obwohl er gestern so spät nach Hause gekommen ist und schon vor mir wieder auf den Beinen ist.

»Ich habe sie gestern ins Bad gehängt.«

Er will schon wieder verschwinden, als ich seine Hand ergreife und ihn anlächle.

»Nicht so schnell, junger Mann.«

Er küsst meine Hand und nickt dann zum Wecker neben meinem Bett.

»Ich muss mich beeilen, wenn ich es noch rechtzeitig ins Büro schaffen will.«

Ich lasse ihn also los, denn wäre ich jetzt der Grund für Ärger mit seinem Chef, der mich sowieso nicht besonders gut leiden kann, dann hätte ich heute Abend den Salat – und das möchte ich ganz sicher nicht.

»Heute Abend ist Stammtisch, willst du auch kommen?«

Er spricht mit mir durch eine Tür und einen Flur getrennt, aber ich verstehe ihn auch so. Jeden Dienstag ist Stammtisch mit seinen Jungs im Fischlabor, einer Kneipe in der Nähe unserer Wohnung. Er lässt diesen Termin nur äußerst selten und sehr ungern sausen. Weil ich manchmal gerne der Prototyp einer perfekten Freundin sein möchte, sage ich nicht viel dazu. Ich gönne ihm diesen wöchentlichen Ausgang und treffe mich dann meistens einfach mit Beccie. Trotzdem freut es mich, dass er wenigstens fragt.

»Nein, geh du nur alleine.«

Er kommt völlig bekleidet wieder ins Schlafzimmer und wirft einen prüfenden Blick in den Spiegel. Er sieht sehr gut aus im Anzug. Er kann ihn tragen, ohne dabei verkleidet zu wirken.

»Okay, grüß Beccie von mir. Und wir haben keinen Kaffee mehr, kannst du vielleicht welchen besorgen?«

»Klar.«

»Einen schönen Tag wünsch ich dir.«

»Ich dir auch, und ich lieb dich.«

Er kommt noch einmal zu mir, küsst mich sanft auf die Lippen und zwinkert mir zu.

»Lass dich nicht ärgern.«

Ich lausche, wie er zur Haustür geht. Manchmal, wenn ich Glück habe, wirft er mir noch ein »Ich freu mich schon auf heute Abend, Süße« vom Flur aus zu. Heute nicht. Wenn man so lange zusammen ist wie wir, dann sagt man sich nicht mehr bei jeder Gelegenheit, wie sehr man sich liebt und vermisst und wie viel einem der andere bedeutet. Man weiß es einfach. Man fühlt es und muss nicht mehr unsicher sein. Wenn man jemanden so gut kennt, wenn man jemanden so nah an sich herangelassen hat, dass man sein Leben um besagte Person herumgebaut hat, dann muss man nicht mehr um jedes »Ich liebe dich« betteln. Es setzt das alles voraus. Oder? Na, eben.

Ich strecke mich noch einmal im Bett aus, bevor ich mich auf dem Weg ins Badezimmer mache, dabei Olivers Handtuch vom Boden aufhebe und an die Stange zum Trocknen hänge. Er lernt es nie.

Das warme Wasser läuft über meinen Körper, und ich spüre, dass ich wach werde. Morgens brauche ich erst eine Dusche, die den Schlaf und die Reste der Träume von mir spült, bevor ich für einen neuen Tag bereit bin, und während ich mit geschlossenen Augen den Wasserstrahl auf mein Gesicht halte, denke ich plötzlich an die gestrige unerwartete Begegnung mit Tristan. Wie klein mir mein Büro plötzlich vorgekommen ist, mit ihm darin, und ich frage mich, wieso er ausgerechnet das Foto meiner Großmutter angeschaut hat. Er konnte nicht wissen, dass es etwas Besonderes ist. Für mich.

Ich stelle das Wasser ab. Ich kann hier nicht stehen bleiben und nachdenken. Das bringt alles nichts. Außerdem werde ich heute Abend einfach doch zu dem Stammtisch gehen. Als Überraschungsgast. Vielleicht merkt Oliver dann, dass ich gerne mehr Zeit mit ihm verbringen möchte.

Als Erstes öffne ich die Fenster und versuche etwas gegen die Hitze in meinem Büro zu unternehmen. Der Ventilator auf dem Tisch neben dem Drucker tut, was er kann. Nur ist das leider nicht viel. Ich hole mir eine kühle Cola aus dem Kühlschrank in der Miniküchenzeile, schalte meinen Computer an und werfe einen kurzen Blick auf die Fotos an den Wänden. An manchen Tagen fühle ich mich fehl am Platz. Heute ist so ein Tag. Dann denke ich über all die anderen Partyfotografen in Stuttgart nach und ärgere mich über die, die wahrscheinlich gerade mal den Führerschein bestanden haben, sich aber feiern lassen, als hätten sie einen eigenen Galeristen und wären mit einer Fotokamera in der Hand geboren. Vielleicht ärgere ich mich aber auch nur so über sie, weil ich fast schon zum alten Eisen gehöre und hinter meinem Rücken wahrscheinlich sogar belächelt werde. Nicht nur vom Party-Knisper-Nachwuchs, auch von den Gästen. Man muss kein Genie sein, um das zu wissen. Während die meisten Frauen auf diesen Partys in engen und gewagten Outfits ihre Schokoladenseite zum Vorschein bringen und sich von mir fotografieren lassen, um dann voller Stolz die Klicks ihrer Fotos im Internet zu zählen, trage ich das T-Shirt meiner Firma, weil ich mir keine Plakatwände in der Stadt oder flippige Anzeigen in angesagten Magazinen leisten kann. Ich kann mich nur auf mein Talent und das T-Shirt verlassen. Ich trage entweder das schwarze, das pinkfarbene oder das weiße T-Shirt. Sicher, sie sind in einer weiblichen Form geschnitten, aber nichts im Vergleich zu den entzückenden Oberteilen der Damen auf der Tanzfläche. Damit schinde ich rein optisch gesehen natürlich wenig Eindruck. Damit gehe ich unter. Es ist nicht so, dass ich irgendjemanden beeindrucken wollte, wirklich nicht, immerhin will ich ja gar nicht auffallen, um ungestört fotografieren zu können, aber es hilft auch nicht gerade dabei, sich besser zu fühlen. Vielleicht sollte ich wirklich mal wieder andere Fotos schießen, und vielleicht kennt jemand jemanden, der jemanden kennt, der … Blödsinn. Oliver und ich haben viel Geld in diese Firma hier investiert, und jetzt will ich das alles aufs Spiel setzen für einen alten, verwegenen Traum? Wohl kaum. Freischaffender Künstler. In der heutigen Zeit ist das doch Unsinn, beruflicher Suizid.

Mit der Cola in der Hand nehme ich im Wirkungsbereich des Ventilators vor meinem Rechner Platz und checke als Erstes die E-Mails. Wie immer sind es viel zu viele, und die meisten davon könnte ich sofort löschen oder mit einer kurzen Floskel beantworten. Bis auf eine.

Eine einfache Mail. Doch lese ich sie jetzt bereits das zweite Mal. Und noch einmal. Ihm hat das Foto gefallen, er hat mehr gesehen als nur eine tanzende Menge – oder er wollte einfach höflich sein. Wieso aber sollte er höflich sein wollen?

Wieso ich lächeln muss, weiß ich selber nicht. Ich schüttle kurz den Kopf und erinnere mich daran, wo ich gerade bin. In meinem Büro, in dem ich eigentlich arbeiten sollte. Ich starte meinen Tag immer mit der gleichen Routine. Ich checke meine E-Mails, dann checke ich Facebook. Dort tummeln sich unendlich viele Jobangebote für jemanden wie mich. Man wird zu einer Party eingeladen, man erfährt von einer Party. Je nachdem wer als DJ gebucht wird oder wie viele bestätigte Gäste der Event hat, fragt man an, ob ein Fotograf bereits gebucht ist, und falls nicht, bietet man seine Facebook-Freundschaft und seine Dienste an. So habe ich inzwischen über vierhundert digitale Freunde in meiner Liste, von denen ich nur wenige tatsächlich zu meinem echten Freundeskreis zähle. Ich sehe auch Oliver auf meiner Startseite, der vor knapp zehn Minuten seinen Status aktualisiert hat.

vor 8 Minuten:

Stammtisch mit den Jungs heute Abend, so soll es sein.

So soll es sein. So viel zu meinem Plan, ihn vielleicht mit meiner Anwesenheit angenehm zu überraschen. Auch die Kommentare seiner Freunde lassen darauf schließen, dass weibliche Begleitung heute Abend weder erwünscht noch erwartet wird. Und so klicke ich auf Beccies Profil. Gerade will ich ihr eine kurze Nachricht mit der Frage nach ihrem Abendprogramm hinterlassen, als mir der Name ihres neuesten kürzlich hinzugefügten Freundes ins Auge springt.

Tristan Wolf.

Auf dem kleinen Foto hätte ich ihn nicht sofort erkannt. Irgendwas ist anders. Aber jetzt, da ich mich gefährlich weit vorbeuge und meine Kinnlade fast auf der Tischplatte landet, erkenne ich sein Gesicht nun doch klar und deutlich. Ja, das ist Tristan. Und schon beginnt es leise zu surren und zu flattern. Leider ist sein Profil gänzlich auf Privat gestellt, und somit kann ich weder seine Pinnwand noch seine Fotos durchstöbern. Meine Maus bewegt sich langsam auf dieses verführerische Feld »Freund hinzufügen«. Nichts wäre verkehrt. Ich habe so viele Freunde, mit denen ich nicht viel zu tun habe. Ich könnte ihn adden und dann nie wieder auf sein Profil zurückkehren. Das habe ich vorher auch gemacht. Es ist nichts dabei. Beccie hat es ja auch gewagt. So klicke ich todesmutig drauf und schließe das Fenster dann ganz schnell wieder. Mein Puls rast. Was mache ich da? Ich bin hier, um zu arbeiten, nicht um einen Kerl im World Wide Web zu verfolgen.

Ich öffne mein Photoshop und nehme einen großen Schluck Cola. Ich komme mir vor wie damals mit fünfzehn, denn jetzt beginnt das ganze Drama ja erst. Wird er meine Anfrage annehmen? Wird er mich ablehnen? Wenn ja, wieso? Wenn er mich annimmt, wann wird er mich annehmen? Und wieso zum Henker ist es mir so wichtig?

Wie ein Mantra hole ich mir Beccies Worte ins Gedächtnis. Er ist nicht mein Typ. Kein Stück. Und ich habe einen Typen. Oliver. Wir sind glücklich, wir wohnen und leben zusammen. Ihm habe ich, mehr oder weniger, meine Zukunft geschenkt. Nun, wenn ich jetzt einen kurzen Moment länger darüber nachdenke, eher weniger. Aber trotzdem, ich habe ihm bereits fünf Jahre meines Lebens und einen großen Teil meines Herzens geschenkt.

Das Klingeln des Telefons reißt mich so unvorbereitet aus allen Gedanken, dass ich einen kurzen Moment brauche, um mich wieder in die Realität zu begeben.

»Pix-n-Party.com, Layla Desio, hallo.«

»Spar dir die ganze Nummer, ich muss dir was erzählen!«

Auf Beccie und ihr Timing ist Verlass, manche Dinge ändern sich nie – und das ist so erschreckend wie beruhigend.

»Dann schieß los, ich bin ganz Ohr.«

»Ich bin auf der Gästeliste!«

Es überrascht mich nicht so sehr, wie sie es sich wohl gewünscht hatte, weil Beccie meistens irgendwie auf die Gästeliste kommt und das meistens ohne meine Hilfe. Zum Glück, denn diesmal bin ich wirklich keine große Hilfe gewesen.

»Schön. Wie hast du das geschafft?«

»Reiner Zufall. Tristan hat das klargemacht.«

Den Nachsatz schiebt sie fast unbedeutend hinterher – und zwar so, dass er mich etwas kälter erwischt, als ich es mir eingestehen will. Sie hat ihm geschrieben, er hat ihr geantwortet, jetzt sind sie Facebook-Freunde, und Tristan hat sogar seine Beziehungen für sie spielen lassen. Wieso um alles in der Welt reagiere ich so … eifersüchtig?

»Ach. Das ist nett von ihm.«

Es entsteht eine kurze Pause am anderen Ende. Was ist los? Ich traue dem Ganzen nicht, denn mit Beccie entsteht nie eine Pause, nicht mal eine kurze. Sie holt höchstens mal Luft, aber auch da bin ich mir nicht sicher. Manchmal hege ich den leisen Verdacht, dass sie nicht durch Mund und Nase, sondern durch die Haut atmet. Und natürlich dauert die Pause auch nicht lange.

»Ja klasse, oder? Er ist nämlich Türsteher.«

»Nicht hauptberuflich.«

Die beiden Worte verlassen meinen Mund, noch bevor mir klar wird, dass ich das eigentlich gar nicht wissen sollte. Ich lasse meine Stirn auf die Tischplatte vor mir sinken. Noch unauffälliger hätte ich es wohl kaum machen können. Jetzt wird sie nachfragen, und ich werde alles abstreiten.

»Echt? Und woher weißt du das?«

»Ach, er ist Fahrradkurier und hat gestern ein Päckchen bei mir abgeholt. Wir haben nur kurz geredet.«

Ich richte mich schnell wieder auf. Angriff ist die beste Verteidigung, heißt es doch immer. Jetzt habe ich mich schon selber in diese Situation manövriert, jetzt kann ich genauso gut auch so tun, als würde mir das alles nicht das Geringste ausmachen. Ich stehe auf und laufe durch mein Büro, weil es dann einfacher ist, unbeteiligt zu klingen.

»Nicht schlecht. Auf jeden Fall kann ich dich jetzt am Freitag begleiten. Das wird ein Spaß, oder?«

Ich bleibe vor meinem Lieblingsbild stehen und erinnere mich daran, wie er gestern hier, an genau dieser Stelle, gestanden hat.

»Absolut.«

Sie erwähnt Facebook mit keiner Silbe, und ich werde sie weder danach fragen noch zugeben, es schon bemerkt zu haben.

»Arbeite nicht zu viel.«

»Mache ich. Hast du heute Mittag schon was vor?«

»Ja. Ich treffe mich mit ein paar Kommilitonen. Tut mir leid. Morgen?«

»Klar. Melde mich bei dir.«

Erleichtert lege ich auf und nehme wieder an meinem PC Platz. Ich bin viel zu lange hier, ohne auch nur ein bisschen Arbeit erledigt zu haben. Ich logge mich trotzdem, aus reiner Vorsicht, noch mal bei Facebook ein und habe eine neue Nachricht.

Mein Herz legt viele kleine Sprünge zu einem sambaartigen Rhythmus hin, und sofort klicke ich auf sein Profil, das ich nun in seiner vollen Pracht bestaunen kann. Er hat 127 Freunde und drei Fotoalben, die ich mir gleich einzeln vornehmen werde.

Auf der Infoleiste steht es dann:

Es ist ein Schlag in die Magengrube und ein Sicherheitsnetz zugleich. Er ist vergeben, und ich bin erleichtert. Ich habe nichts Falsches gemacht. Und vor allem werde ich auch nichts Falsches machen. Ich bin vergeben, er ist vergeben. Aus. Ich will lächeln und ausatmen, wenn da nicht dieses andere Gefühl wäre. Ein Gefühl, das ich schnell in den Schrank sperren will und das in meinem Leben keinen Platz haben darf.

Obwohl es Zeit wird, Fotos zu bearbeiten, meinem Beruf nachzugehen, entscheide ich mich stattdessen dafür, mir die Fotoalben auf Tristans Seite anzusehen.

Das älteste Album zuerst. Die letzten Bilder hat er vor zwei Jahren hochgeladen, und ich bemerke, wie jung er auf manchen Fotos aussieht. Eines gefällt mir besonders: Es ist irgendwo am Meer entstanden. Er lacht direkt in die Kamera, versucht die Hand vor sein Gesicht zu halten, ist aber vom Fotografen ganz offensichtlich zuvor erwischt worden. Es sieht so unbekümmert und entspannt aus. Sofort schließe ich dieses Lachen in mein Herz. Auf den meisten anderen Fotos ist er mit einer Frau zu sehen, die offensichtlich seine Freundin ist. Sie sieht hübsch aus. Kürzere freche Haare, eine kleine zierliche Person mit strahlenden hellbraunen Augen und einem süßen Lächeln. Auf den Fotos sieht man sie tanzen, im Urlaub, er trägt sie huckepack durch eine enge Gasse in Amsterdam, sie in einem Zelt, er beim Versuch aus dem Pool zu klettern, sie trägt ein wunderschönes schlichtes Kleid, er einen Anzug, sie halten sich an den Händen, beide strahlen und zeigen voller Stolz: Sie gehören zusammen. Ich sehe es mir etwas genauer an. Vermutlich ist es eine Taufe oder Hochzeit. Ich erkenne im Hintergrund eine Kirche oder etwas Ähnliches. Unwillkürlich vergleiche ich es mit dem Bild von Oliver und mir, das neben mir auf dem Tisch steht. Ich erkenne Stolz in Olivers Blick, aber sein Blick geht in Richtung der Urkunde, die in seiner Hand ist. Während Tristan auf dem Foto den Blick nicht von der Frau an seiner Seite nehmen kann. Sein Stolz gilt keiner Auszeichnung. Nur ihr.

Ich klicke zum nächsten Album, das vor neun Monaten zum letzten Mal aktualisiert wurde, hier sind nur wenige Bilder. Ein blauer VW-Bus aus jeder erdenklichen Perspektive. Umgebaut zu einer Art Wohnwagen, nur auf dem letzten ist Tristan zu sehen. Er lehnt an dem Bus und hebt den Daumen in die Luft. Es muss sich um sein damals vermutlich neu erworbenes Fahrzeug handeln.

Das letzte Album ist etwas aktueller, zumindest dem Datum nach zu urteilen. Tristan auf einer roten Vespa, Tristan mit einem Freund, Panoramafotos von Stuttgart, Bilder aus der Mercedes-Benz-Arena bei einem Spiel des VfB. Tristan jubelnd im Trikot und mit Schal. Von der Frau ist kein Foto mehr dabei, aber das wundert mich nicht. Ich habe auch nur ein Album mit Fotos von Oliver und mir. Mit der Zeit haben wir immer weniger Fotos von uns machen lassen oder selber gemacht. Das ist ein natürlicher Vorgang.

Natürlich hat Beccie Tristan auf die Pinnwand geschrieben, einen lieben Gruß will sie ihm hinterlassen. Ich frage mich, ob sie seine Bilder auch schon alle durchgeschaut hat, und muss alleine bei der Frage lachen. Ich sehe schon einen Ordner mit seinen Bildern auf ihrem Desktop. Auch ich bin versucht, das eine oder andere Bild abzuspeichern, aber wenn ich sie mir ansehen will, kann ich jederzeit seine Seite aufrufen.

Eine neue E-Mail in meinem Postfach.

Er findet meine Fotos hübsch? Er hat sich meine Alben angeschaut? In meinem Kopf gehe ich schnell alle unvorteilhaften Fotos durch und entscheide mich dann, dass es keine Rolle spielt. Wichtiger ist jetzt, was ich ihm antworte. Gehe ich mit ihm essen? Einfach so? Warum nicht? Wir sind erwachsene Menschen, die beide in einer festen Beziehung sind und davon auch wissen.

Und ich gehe ungern alleine essen.

Ich schicke die E-Mail ab und bin nicht in der Lage, mich zu bewegen, bis ich eine Antwort habe. Warum schlägt mein Herz so schnell? Es wird ein Essen mit einem Bekannten. Nichts Besonderes. Zumindest versuche ich, mir das einzureden.

Ich nehme an, er will einen Burger von der besten Burgerbude in ganz Stuttgart, Udo Snack. Da wird noch schön alles selber gemacht, und die Burger werden nach Wahl des Kunden belegt. Das ist doch etwas anderes als die Massenware der bekannten Fast-Food-Restaurants mit dem gelben M.

Ich denke gar nicht viel nach, schreibe einfach und sage zu. Es ist eigentlich nichts anderes, als mit Beccie essen zu gehen. Menschen machen das. Man trifft sich auf einen Happen in der Stadt. Noch lange kein Grund für ein schlechtes Gewissen. Egal, was der Tag heute bringen wird, ich kann ihn genauso gut genießen.