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Es ist Montagmorgen, ich sitze in meinem Büro, habe auf meinem Bildschirm zu viele Fenster geöffnet und starre mit einem dümmlich anmutenden Grinsen auf die E-Mail, die mich heute Morgen erreicht hat. Ich lese sie jetzt zum achten Mal, und immer wieder muss ich grinsen. Tristan ist witzig. Und aufmerksam. Ich hatte am Samstag wie immer, wenn ich beruflich auf Partys unterwegs bin, ein T-Shirt mit dem am Rücken aufgedruckten Logo und der Internetadresse meiner eigenen kleinen Firma an: Pix-n-Party.com. Auf der Homepage ist es dann einfach, meine E-Mail-Adresse zu finden, da es außer meiner nur noch eine allgemeine Infoadresse gibt. Er muss mir also nachgeschaut haben, als wir gegangen sind. Mein dämliches Grinsen wird noch breiter. Auf der anderen Seite bedeutet diese E-Mail aber auch, dass er eine Rückmeldung erwartet, eine Antwort – und sei sie auch noch so kurz. Und schon klappen meine Mundwinkel wieder nach unten. Soll ich ihm antworten? Was soll ich ihm antworten? Ein Treffen steht außer Frage. Oder? Wenn ich ehrlich bin, würde ich ihn aber gerne wiedersehen – was nicht geht. Schon allein wegen der Käfer und der Schmetterlinge. Ach ja, und wegen Oliver. Tristan weiß nicht, dass ich in einer Beziehung bin. Vielleicht sollte ich ihm das zuallererst schreiben, aber wie kommt das dann rüber? »Lieber Tristan, ich habe einen Freund.« Vermutlich will er einfach nur nett sein. Oder? Ich schaue ratlos auf die vielen geöffneten Fenster auf meinem Monitor. Eigentlich habe ich mit dieser ganzen Geschichte doch schon abgeschlossen, sie als schöne Schwärmerei abgetan. Zwar habe ich noch einige Male an ihn gedacht, aber dann war das auch schnell wieder verschwunden. Nur die Fotos von ihm auf meinem Rechner erinnern noch an diesen kurzen, schönen Moment, als er mich mit einem zugekniffenen Auge angelächelt hat – nachdem ich ihm mit einem Schnaps die Platzwunde abgetupft habe. Ich muss wieder grinsen. Schade, dass ich davon kein Foto habe. Andererseits ist das vielleicht auch besser so.

Ich habe Oliver gestern meine Bilder von Samstag gezeigt, und er hat sie wie immer sehr kritisch bewertet. Von den knapp vierhundert Bildern hatte ich ungefähr dreißig zur Auswahl, die mir richtig gut gefallen haben, aber von ihm kamen dazu nur wenige positive Kommentare. Er ist einfach so. Er ist sehr schnell sehr streng und sagt lieber die ungeschminkte Wahrheit, als mir etwas in Zuckerwasser eingelegt verkaufen zu wollen. Auch wenn es sich manchmal so anfühlt, als nehme er meine Bilder und meine kleine Firma – auf die ich übrigens sehr stolz bin – nicht wirklich ernst, weiß ich doch, dass er es nicht böse oder verletzend meint. Er will, dass ich mich immer weiterentwickle, mich nicht auf meinen Lorbeeren ausruhe. Er will nur das Beste für mich. Wissentlich würde er nie etwas tun, was mich verletzten kann. Im Gegenzug würde ich nie etwas tun, was ihn verletzt.

Deswegen sollte ich diese E-Mail einfach in den Spam-Ordner schieben und dort verenden lassen. Das sollte ich. Wirklich. Nicht. Stattdessen schließe ich das Fenster und kümmere mich um die Fotos – beziehungsweise die paar Bilder, die nach Olivers Kritik noch übrig geblieben sind. Wenn alles gut ist und ich mit der Bearbeitung heute schnell durchkomme, dann kann ich vielleicht schon CDs mit der vorläufigen Auswahl per Fahrradkurier an den Veranstalter schicken und mich dann um den nächsten Auftrag kümmern. Arbeit ist eine gute Alternative zum Nachdenken, stelle ich fest, und so klicke ich mich durch die Fotos, setze gezielt ein paar Fotofilter oder Farbkorrekturen an und schaffe in Rekordgeschwindigkeit einen ganzen Stapel an Arbeiten.

Als ich vor lauter Pixel kaum noch scharf sehe, entscheide ich mich für eine kleine Pause, die ich mir als meine eigene Chefin genehmigen kann, wann ich will, und für ein Mittagessen außer Haus. Ich esse ungern alleine und entscheide mich deshalb spontan dazu, Beccie mal anzurufen. Sie sollte eigentlich zu einem kleinen Happen in der Sonne zu überreden sein und nimmt für gewöhnlich jede Ablenkung von ihrem Studium dankend an. Vor allem in den Semesterferien. Sie sitzt seit Wochen an ihrer Hausarbeit über Massenmedien und einen gewissen Herrn Luhmann, der ziemlich kompliziert zu sein scheint und den sie lieber heute als morgen abservieren würde. Und so werde ich auch heute nicht enttäuscht. Wir verabreden uns in einer Viertelstunde in unserem Lieblingsrestaurant am Wilhelmsplatz. Das Meals & More ist ab zwölf Uhr mittags genau das, was mein hungriger Magen verlangt.

Der große Vorteil, wenn man im Stadtzentrum arbeitet? Man verlässt schnell das Büro, stolpert, fällt einmal hin, steht auf – und ist schon da. Heute schlendere ich aber etwas langsamer und bin nicht ganz so in Eile, wie die meisten anderen Menschen, die ich auf dem Weg zu ihrem Mittagessen antreffe. Im Sommer verwandelt sich Stuttgart in eine Stadt ohne Gehwege. Überall werden Tische und Stühle vor die Restaurants gestellt, und lässig dasitzende Gäste mit Sonnenbrille genießen schwäbische Küche, ein kühles Bier oder einen Wein aus der Region. Die Landeshauptstadt Baden-Württembergs – oft unterschätzt und doch geliebt. Für mich ist Stuttgart im Sommer mindestens so schön wie die Toskana. Es gibt keine Stadt, in der ich mich so wohlfühle wie hier, auch wenn im Sommer die Luft im Stuttgarter Westen zu stehen scheint und ich mir eine kühle Meeresbrise wünsche. Ich habe hier alles, was ich brauche, um mich wohlzufühlen.

Deswegen kann ich die Leute nicht ganz verstehen, die jetzt mit gehetzten Gesichtern in schicken Anzügen stecken, in denen sie bestimmt schwitzen, und gestresst an mir vorbeieilen. Können sie einen Sommertag in der Kesselstadt nicht einfach genießen? Nur ein bisschen? Stattdessen rempeln sie mich an oder schieben mich in ihrer Eile sogar aus dem Weg. Kurz will ich protestieren, unterlasse es dann aber. Ich wäre in so einem Anzugträger-Leben wahrscheinlich auch unglücklich. Ich liebe die Fotografie, und wenn ich die Chance habe, diese Leidenschaft zum Beruf zu machen und dafür auch noch bezahlt zu werden, dann würde ich das für nichts in der Welt aufgeben wollen. Schon gar nicht für einen stressigen Büroalltag, in dem ich kaum Zeit habe, meine beste Freundin zum entspannten Lunch am Wilhelmsplatz zu treffen.

Beccie ist schon da und hat einen Tisch draußen erobert – und wie immer sieht sie umwerfend gut aus. Ich habe es lange Zeit nicht glauben wollen, aber dafür muss sie gar nichts tun. Gott hat es einfach unheimlich gut mit ihr gemeint. Sie winkt mir lächelnd zu, und ich bin mir sicher, stünde gerade ein Mann hinter mir, würde er sehr hoffen, dass dieses Lächeln ihm gilt. Sie trägt ein rotes Sommerkleid, perfekt geschnitten für ihre Figur, und ihre schlanken langen Beine kommen in diesem Kleid viel zu gut zur Geltung. Plötzlich habe ich wieder die Gewissheit, neben ihr zu verblassen. Ich trage meine kurzen Jeansshorts, weinrote Chucks und ein helles Trägershirt. Eigentlich sollte das für ein Mittagessen mit der besten Freundin reichen, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.

»Hi, Beccie.«

»Hallo. Du warst wirklich meine Rettung. Ich dachte schon, der Anruf kommt nie. Wusstest du, dass …«

Ich habe noch nicht ganz Platz genommen, da sprudelt es schon aus ihr heraus. Beccie hat, wie soll ich sagen, immer etwas zu erzählen. Vor allem über Männer. Man tut gut daran, sie nicht zu unterbrechen, denn das kränkt sie. Sie braucht die Aufmerksamkeit. Schon immer. Ich denke, deswegen haben wir uns in der Grundschule angefreundet. Ich war froh, nicht viel sprechen zu müssen, und sie war froh, einen Zuhörer zu bekommen. Aus dieser anfänglichen Nutzgemeinschaft wurde aber schnell echte Freundschaft, spätestens als ich gemerkt habe, dass Beccie nicht nur unheimlich gerne redet, sondern auch unheimlich nett und überraschend gutmütig ist. Sie ist immer für mich da, zugegeben, manchmal vielleicht sogar zu sehr. Dann erdrückt sie mich fast mit ihrer Fürsorge, und ich muss sie davon abhalten, mir wegen einer kleinen Erkältung Bettruhe zu verordnen, die halbe Apotheke leer zu kaufen und meine Hand zu halten. Jetzt strahlt sie mich aber an. Offenbar sind die Männergeschichten zu Ende.

»Und? Wie geht es mit deiner Hausarbeit voran?«

»Ach, ich kann dieses ganze Medientheoriegerede nicht mehr sehen, hören und lesen. Und was ist da besser als ein Mittagessen im Freien mit meiner besten Freundin? Vor allem bei diesem Wetter?«

Sie reicht mir die Speisekarte, die ich bereits in- und auswendig kenne, und verfällt in einen Monolog über ihren Sonntag. Sie war Joggen, Radfahren, danach eine Runde Schwimmen und dann hat sie diesen süßen Rettungsschwimmer getroffen, mit dem sie abends noch aus war. Nachdem ich einen Blick auf Beccies lange Beine und den flachen Bauch geworfen habe, entscheide ich mich gegen Sahnesoße und für die Penne mit Limonensoße und Pistazien-Pesto. Außerdem wähle ich ein Glas Rotwein zum Essen. Beccie bestellt dasselbe. Soll noch mal einer sagen, wir Schwaben hätten keinen guten Geschmack.

»Übrigens, kriegst du mich wirklich nicht auf die Gästeliste für Freitag? Ich würde so gerne mitkommen.«

Freitag ist ein weiterer Event, bei dem ich als Fotografin dabei bin. Diesmal ist es der seit Wochen ausverkaufte Auftritt eines angesagten Berliner DJs, und wir wissen beide jetzt schon: Bekomme ich Beccie nicht auf die Gästeliste, stehen ihre Chancen sehr schlecht, den DJ aus der Nähe zu sehen. Leider ist der Veranstalter bisher hart geblieben.

»Ich habe mein Bestes gegeben, aber es sind wohl ohnehin schon zu viele Karten verkauft. Tut mir leid.«

»Schade. Aber mach dir keine Sorgen. Ich komme schon irgendwie rein.«

Sie nippt an ihrem Wein und sieht mich aus verträumten Augen an.

»Ich wette, der heiße Typ ist auch da. Ich meine, wer wird nicht da sein?«

Bei Beccies Lebenswandel und Flirtgewohnheiten muss man Buch führen oder notfalls erst mal so tun, als wüsste man genau, von welchem heißen Typen sie gerade spricht. Gestern noch war es ein Rettungsschwimmer, und morgen schon ist es ein Rechtsanwalt. Ich habe den Überblick verloren, erinnere mich nur an Steffen, ihren letzten und einzigen echten Freund. Er wollte sie aber so sehr an die kurze Leine nehmen, dass Beccie es nicht mehr ausgehalten und Schluss gemacht hat. Seitdem lebt sie, wie es ihr passt. Sie tut niemandem weh und lässt sich im Gegenzug von niemandem wehtun. Ich wünsche mir trotzdem manchmal etwas mehr Ordnung in der Liste ihrer Männerbekanntschaften. Eine alphabetische Ordnung wäre schon mal ein Anfang. Und Namen.

»Der heiße Typ?«

Sie nickt.

»Welcher?«

»Na, Tristan, der so heftig mit mir geflirtet hat.«

Ich verschlucke mich fast an meinem Essen bei dieser Version der Ereignisse. Das wäre so, als wenn jemand behauptet, die Zwillingstürme des World Trade Center in New York hätten sich in die Flugbahn geworfen.

»Wie bipffe?«

Für gewöhnlich spreche ich nicht mit vollem Mund, aber diesmal bin ich zu schockiert, um erst zu schlucken. Vielleicht auch sauer. Aber das würde ich niemals zugeben.

»Erinnerst du dich nicht? Tristan? Dunkle Haare, nicht dein Typ?«

Wenn sie wüsste, wie gut ich mich an ihn erinnere, hätten wir ein größeres Problem. Moment. Will sie mich testen? Ist sie wegen der pampigen Bemerkung am Samstag noch immer sauer? Kurz überlege ich, ihr zu sagen, von wem ich heute Morgen eine E-Mail in meinem Postfach hatte. Aber auch das würde zu nichts führen.

»Doch, da klingelt etwas. Samstag, Open-Air, Blut.«

»Genau der! Tristan.«

»Du fandst den Kerl, den wir danach getroffen haben, doch noch viel niedlicher.«

»Stimmt. Der könnte von mir aus am Freitag auch gerne da sein.«

»Hat er sich noch mal gemeldet?«

»Nein. Ich glaube aber, ich habe ihm aus Versehen eine falsche Nummer gegeben. Ich sollte mir wirklich Visitenkarten zulegen, meinst du nicht?«

Fast möchte ich lachen, aber ich verkneife es mir und zucke nur ratlos mit den Schultern.

»So wie du. Du machst das so clever. Wie oft steckst du den Männern nachts denn Visitenkarten zu? Und sie rufen immer zurück.«

»Beccie, bei mir sind es berufliche Kontakte. Das sind Veranstalter. Ich fotografiere für die und will kein Date mit denen.«

»Wieso auch? Du hast Oli. Er ist perfekt. Ihr seid perfekt.«

Das klingt fast trotzig und ist im Moment etwas, das ich weder hören will noch brauchen kann. Was hat Beccie nur? Ich weiß, dass sie Oliver sehr mag, ihn auch schätzt, aber selten hat sie so viel von ihm geschwärmt wie in den letzten Wochen – seit sie Steffen mit seiner neuen Freundin gesehen hat. Sie hat sich zwar betont cool gegeben, aber ich kenne sie besser, als sie denkt: Es hat sie getroffen, ihn mit einer anderen Frau zu sehen. Beccie will gar keine Männerbekanntschaften mehr, sie will einen süßen Freund, der immer für sie da ist. Sie will quasi ihren eigenen Oliver.

»Ja, ich habe Oli.«

Und das ist gut so. Auch wenn es weit davon entfernt ist, so perfekt zu sein, wie Beccie sich das vielleicht vorstellt, mag ich unser Leben genau so, wie es ist. Er gibt mir Stabilität und Sicherheit. Er ist immer da, wenn ich ihn brauche, und er hilft mir bei der Steuererklärung. Ich liebe ihn wegen den unendlich vielen Kleinigkeiten, die ihn zu dem Mann machen, den ich damals kennengelernt habe und der noch immer das Milchglas auf dem Tisch stehen lässt. Bei der Erinnerung muss ich schmunzeln. Ja, ich habe Oliver, und das ist wirklich gut so. Irgend so ein blutüberströmter Tristan hat da keinen Platz.

»Willst du seine E-Mail-Adresse?«

Beccie sieht mich an, und ihre Augen werden so groß wie Untertassen. Ich weiß nicht so recht, wieso ich das gesagt habe. Vielleicht einfach nur, um es loszuwerden und aus dem Kopf zu bekommen. Oder weil ich ihn bereitwillig an Beccie abgebe.

»Wie war das?«

»Er hat mir eine E-Mail geschickt. Wollte sich nur kurz bedanken.«

Ich sage es einfach. Es ist keine große Sache, und es soll auch keine werden.

»Für was wollte er sich bedanken?«

»Ich habe seine Platzwunde desinfiziert und ihm einen Schnaps ausgegeben.«

Beccie nickt und zeigt mit der Gabel auf mich, als würde sie mich aufspießen wollen.

»Wieso erfahre ich das jetzt erst? Und wo bleibt die wortgetreue Wiedergabe des Mail-Inhaltes, junge Frau?«

»Es war eine nette E-Mail. Er hat sich nur bedankt, das war alles.«

»Gut. Und ja, ich will seine E-Mail-Adresse. Ich könnte ihn ja anschreiben und mal so nach seinen Plänen fürs Wochenende fragen.«

»Ja. Mach das.«

Ich nehme einen Schluck Wein. Einen großen Schluck. Überraschenderweise bin ich erleichtert, dass ich es jemandem erzählt habe, dass ich es ausgesprochen habe und es somit kein Geheimnis mehr ist. Ich bin froh, dass es jetzt wirklich vorbei ist.

Ich verabschiede mich von Beccie am Wilhelmsplatz und gönne mir danach noch einen Spaziergang durch die schöne Stuttgarter Innenstadt bis hinunter zum Marktplatz. Hier, wo sich im Winter der Weihnachtsmarkt breitmacht und unzählige Menschen an den verschiedenen Ständen Weihnachtsschmuck bestaunen, ist es jetzt im Sommer angenehm ruhig. Einige Pärchen schlendern Hand in Hand an mir vorbei, genießen wie ich den sonnigen Tag. Ich komme an der Stiftskirche vorbei und verweile kurz auf dem Schillerplatz vor dem Denkmal des weltberühmten schwäbischen Dichters. Dann ist es nur noch ein kleines Stück Fußweg zum Schlossplatz, und spätestens jetzt weiß ich, dass ich wegen der Sache mit Tristan überreagiert habe. Es war nichts, aber es hat sich trotzdem irgendwie schwer angefühlt, fast so als würde ich Oliver hintergehen. Dabei habe ich gar nichts gemacht. Es war nichts anderes als eine E-Mail von einem netten Menschen, der sich bedanken wollte, mehr oder weniger. Ich werde ihm eine kurze Mail zurückschreiben, vielleicht das vierte Foto anhängen und erwähnen, dass sich meine Freundin gerne bei ihm melden würde. Damit hat sich die Geschichte dann erledigt, und ich kann mich wieder auf das konzentrieren, was ich gerne mache: leben.

Das Foto muss ich allerdings erst suchen, denn bei Olivers kritischer Prüfung ist es durchgefallen. Er fand es öde und nicht aussagekräftig genug. Ein tanzender Kerl, nicht gerade etwas Besonderes. Dabei war ich mir gerade bei dem Foto so sicher, es wäre ein echter Volltreffer. Alle Fotos von Tristan sind gut – aber das vierte, das ist fast perfekt. Mir hat an dem Foto alles gefallen. Vielleicht war ich einfach nicht mehr objektiv genug? Vielleicht musste man dort gewesen sein, um den Moment darin wiederzuerkennen? Ich finde es und muss es noch mal betrachten. Während ich bei allen anderen einige Korrekturen vornehmen musste, ist es unberührt schon perfekt genug. Ich verschicke die E-Mail mit dem Bildanhang. Damit ist das Kapitel nun wirklich abgeschlossen.

Danach sende ich Oliver eine SMS und frage, ob ich heute Abend mit ihm rechnen könne. Ich würde gerne etwas kochen. Es ist schon länger her, dass wir einen schönen Abend zusammen verbracht haben. Er arbeitet als Vermögensberater und ist viel unterwegs. Entweder er betreut Kunden oder ist auf Fortbildungen in ganz Deutschland. Jeden Monat bekommt er eine weitere Auszeichnung. Da an den Wänden seines Büros schon kein Platz mehr ist, hängen wir die Dinger inzwischen sogar bei uns zu Hause auf. Ich bin stolz auf ihn, weil er so hart arbeitet und so gut darin ist, was er tut. Er hat auch etwas von unserem Geld sehr geschickt angelegt – ein typischer Schwabe halt. In letzter Zeit spricht er immer häufiger von einem Haus und unseren Zukunftsperspektiven. Einige Male haben wir auch über das Heiraten gesprochen, haben es damit aber nicht eilig. Gut, ich habe es damit nicht eilig. Was Kinder angeht, hat er es nicht eilig. So haben wir uns zunächst einmal für die gemeinsame Wohnung entschieden. Zur Miete. Alles andere wird von ganz alleine kommen. Heute ist er in Frankfurt und musste deswegen schon früh los, aber ich hoffe, er kommt nicht erst wieder mitten in der Nacht nach Hause.

Bis er mir antworten kann, bestelle ich einen Fahrradkurier für meine Foto-CD, die ich brenne, beklebe und mit einem Begleitbrief versehe. Die Bilder sind noch im Low-Quality-Format, reichen aber für den Veranstalter als Vorschau aus. Er pickt sich dann diejenigen heraus, die er in hoher Qualität haben will – für einen vorher ausgehandelten, fairen Preis. So läuft das bei uns immer. Ich könnte die Bilder auch per E-Mail schicken, aber bei der Größe wären das unendlich viele Mails. Mit den Fahrradkurieren Stuttgarts habe ich ausschließlich positive Erfahrungen gemacht. Schnell, freundlich und zuverlässig.

Schon nach wenigen Minuten klingelt es. Ich drücke auf den Summer und packe alles in ein kleines Päckchen, bevor ich mich zur Tür drehe und fast alles wieder fallen lasse.

Auch das Pflaster über dem linken Auge kann ihn nicht so sehr verändern, dass ich ihn nicht sofort wiedererkennen würde. Es ist ganz ohne Zweifel Tristan! Er trägt kurze braune Baggypants, dazu ein schwarzes T-Shirt und einen Rucksack. Hier in meinem kleinen Büro wirkt er auf einmal noch größer als am Samstag. Er muss knapp zwei Meter groß sein. Er grinst mich breit an, und in mir beginnt es sofort zu flattern. Verdammt.

»Layla! So schnell sieht man sich wieder.«

»Ja. Das ist ja … lustig.«

Dann herrscht Schweigen. Er lächelt gut gelaunt vor sich hin, und die kleinen Käfer in meinem Kopf drehen Loopings. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und starre ihn deshalb einfach weiterhin mit großen Augen an. Seine Haare sitzen heute etwas anders, sind durch den Fahrradhelm platt gedrückt, aber sonst sieht er unverändert aus. Wieso mich das überrascht, weiß ich nicht, immerhin sind gerade mal zwei Tage vergangen.

Ich klammere mich an das kleine Päckchen in meiner Hand und weiß, dass einer von uns schon langsam etwas sagen sollte.

»Wie … geht es dem Auge?«

Er fasst sich automatisch an die Schläfe.

»Ganz gut. Drei Stiche. Der Arzt meinte, es sei klug gewesen, dass ich es sofort desinfiziert habe.«

»Na, sag ich doch.«

»Ich weiß.«

Das ist doch schon mal etwas. Als Krankenschwester mache ich also eine bessere Figur als jetzt hier beim Small Talk in meinem plötzlich viel zu engen Büro. Während ich weiterhin wie versteinert dastehe, beginnt Tristan, sich in meinem kleinen Reich umzusehen. Sein Blick bleibt bei den Fotografien an der Wand hinter meinem Schreibtisch hängen, und plötzlich ist es nicht nur zu eng, sondern auch viel zu heiß hier drinnen. Er macht einen Schritt auf die Bilder zu und betrachtet sie konzentriert.

»Alle von dir?«

»Ja, das sind meine Angeberfotos.«

Es stimmt. Ich habe nur die schönsten und besten Fotos ausgewählt, um sie hier zur Schau zu stellen. Sie sind nicht nur dazu da, mögliche Kunden zu beeindrucken, sondern vor allem eine Art Motivation. Sie erinnern mich daran, dass ich noch etwas anderes kann, als betrunkene Teenager auf Partys zu knipsen. Er bleibt vor meinem Lieblingsbild stehen und betrachtet es eine kleine Weile. Ich stehe weiterhin einfach da – und bin nervös, denn ich bin verwundbar, wenn es um dieses Bild geht. Auf dem gerahmten großformatigen Schwarz-Weiß-Foto sieht man eine alte Frau. Sie sitzt auf einer Bank am Ufer des Gardasees, einen Gehstock in beiden Händen vor sich, das Kinn aufgestützt, der Blick geht in die Ferne. Es ist meine Großmutter. Ich habe das Foto vor ein paar Jahren aufgenommen, als wir sie besucht haben, kurz nach dem Tod meines Großvaters. Meine Großmutter und ich haben den Nachmittag zusammen verbracht, und sie hat mir erzählt, wie sie vor langer Zeit meinen Großvater kennengelernt und sich in ihn verliebt hat. Er aus Verona, sie aus Malcesine. Aus Liebe ist er dann zu ihr an den Lago gezogen. Als sie ihre Geschichte zu Ende erzählt hatte, war sie kurz still, hat auf den See geblickt und an die große Liebe ihres Lebens gedacht. Selten habe ich so viel Wärme und Liebe in ihrem Blick gesehen, und nie habe ich meine Großmutter mehr geliebt als in diesem Augenblick. Mit klopfendem Herz und zittrigen Fingern habe ich den Moment für immer festgehalten. Ob für sie oder für mich, kann ich nicht sagen.

Da ich das Bild schon stundenlang angestarrt habe, betrachte ich jetzt lieber Tristan, der ganz nah an das Foto herantritt und sich vorbeugt, um es genauer zu studieren. Er muss noch mehr für seinen Körper tun als nur das Radfahren an der frischen Luft. Seine gesunde Bräune hat er aber wohl von seiner Tätigkeit als Kurier. Das sieht nicht wie das Ergebnis von Aufenthalten in Solariumskäfigen aus. Ich sehe, wie die Haut in seinem Nacken kleine Falten wirft, und kann mich plötzlich wieder genau daran erinnern, wie er riecht. Allein bei dem Gedanken daran beginnt ein Schwarm Schmetterlinge damit, in meinem Bauch langsam seine Runden zu drehen. Miese Verräter.

»Das hier finde ich wunderschön.«

»Danke. Es ist schon alt.«

Schnell blicke ich wieder auf das Portrait meiner Großmutter. Ich kann nicht wirklich gut mit Komplimenten für meine Fotos umgehen, weil ich ziemlich schlecht darin bin, sie anzunehmen, und alles lieber ganz schnell wieder herunterspiele. Dabei ist es vielleicht sogar das beste Foto, das ich jemals geschossen habe. Es steckt viel sehr Liebe darin und ist voller schöner Erinnerungen. Außerdem habe ich deswegen vor Jahren sogar ein Jobangebot als Assistentin eines bekannten Fotografen bekommen, zusammen mit einem Scheck für den Gewinn eines Fotowettbewerbs. Ich habe das Geld damals angenommen, den Job aber ausgeschlagen. Heute bereue ich es nur noch stumm in meinem Inneren. Nach außen hin behaupte ich lieber, dass es die richtige Entscheidung gewesen sei.

Tristan dreht sich wieder zu mir um, sieht mich aufmerksam an, und ich strecke ihm schnell das Päckchen entgegen. Er kommt auf mich zu, nimmt es, und schon huscht wieder ein kleines Grinsen über seine Lippen.

»So arbeitest du also, wenn du nicht auf Partys unterwegs bist.«

Ich nicke und lasse den Blick durch mein kleines Reich gleiten. Es ist nicht viel, aber es ist alles, was ich habe und brauche.

Tristan lässt das Päckchen in seinen Rucksack gleiten, reicht mir die Quittung, und ich unterschreibe. Als ich zu ihm aufsehe, hat er seinen Blick auf meinen Schreibtisch gerichtet. Dort steht ein Foto von mir und Oliver – und plötzlich weiß ich nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich tue so, als hätte ich es nicht bemerkt oder so, als wäre es eine Selbstverständlichkeit.

Moment.

Es ist eine Selbstverständlichkeit.

Oliver und ich sind ein Paar, und das seit vielen Jahren. Da ist es nur natürlich, dass ich dieses Foto hier aufstelle. Ich mache einen kleinen Schritt von ihm weg, drehe mich zu meinem Schreibtisch und lächle dabei, vielleicht etwas zu verträumt.

»Mein Freund.«

Ich höre, wie Tristan den Rucksack über die Schultern zieht.

»Hübsches Paar.«

»Danke.«

Als ich mich wieder zu ihm drehe, lächelt er mich an. Bei ihm sieht das gar nicht gezwungen aus. Aha.

»So, ich muss dann auch weiter. Wir sehen uns bestimmt wieder.«

Er will gerade wieder gehen, als mir etwas einfällt.

»Ach, Tristan, nur dass du dich nicht wunderst: Ich habe dir vorhin eine Mail geschickt, und meine Freundin wollte wissen, ob du … Sie denkt, du hast … also … mit ihr geflirtet, und ich wollte nur … Sie fragt, ob du am Wochenende vielleicht …«

»Deine Freundin?«

»Beccie.«

Ich klinge wie ein verzweifeltes Teenie-Mädchen, das von seiner besten Freundin vorgeschickt wurde, um zu fragen, ob ein ganz bestimmter Junge sie gut findet. Noch bescheuerter hätte ich mich dabei wohl nicht ausdrücken können. Ich hätte ihn einfach fragen sollen, ob er sich an Beccie erinnert und ob er Lust hat, sich mit ihr am …

»Die Blonde, richtig?«

»Ja, sie findet dich sehr nett, und sie wollte wissen, ob du am Wochenende schon was vorhast.«

»Kommst du mit?«

»Ähm, nein, ich muss am Freitag arbeiten … auf diesem Event mit dem berühmten DJ aus Berlin.«

»Ich weiß, ich auch. Ich stehe da an der Tür.«

»Du bist Türsteher?«

»Nicht hauptberuflich. Ich helfe nur immer mal wieder aus.«

»Aha. Dann sehen wir uns da wohl.«

»Schön. Vielleicht kann ich dir dann ja einen Drink ausgeben.«

»Sicher. Wieso nicht?«

Er wirft einen Blick auf die Uhr.

»Ich muss jetzt leider los, dein Kunde wartet. Bis Freitag.«

Und bevor ich etwas sagen kann, ist er auch schon aus der Tür. Aber da ich ohnehin nur dann wirklich schlagfertig bin, wenn man mir zwei Stunden Bedenkzeit lässt, wäre mir wahrscheinlich sowieso kein guter Abschiedsspruch eingefallen. Ich stehe da, schaue auf die geschlossene Tür und stelle fest, dass meine E-Mail an ihn eigentlich das genaue Gegenteil von dem aussagt, was ich gerade von mir gegeben habe, und dass die Käfer wahrscheinlich genau deshalb gerade in meinem Bauch eine wilde Schlacht gegen die Schmetterlinge führen.

Ich werde ihn also wiedersehen. Am Freitag. Ohne Beccie. Ich bin eine schreckliche Freundin.

Plötzlich spielt mein Handy eine fröhliche Musik ab. Es ist das Signal für den Eingang einer SMS, und schnell lande ich wieder in der Realität. Olivers Bild und Name erscheinen auf dem Display.

Ich setze mich wieder an meinen Arbeitsplatz und betrachte unser gemeinsames Foto. Es ist bei einem der großen Geschäftsessen entstanden, auf denen Oliver von Zeit zu Zeit in weiblicher Begleitung erscheinen muss. Dann zwänge ich mich in ein Abendkleid oder in ein schönes Kostümchen und begleite ihn als die Frau an seiner Seite. Auf dem Bild hat er seinen Arm stolz um mich gelegt, und ich lehne lächelnd an seiner Schulter. Wir sehen wirklich perfekt aus, da hat Beccie schon recht. Sein Anzug sitzt wie angegossen, die Krawatte hat einen ordentlichen Knoten, seine Frisur sitzt auch eins a – gerade so, als würde sie sogar einen Frankfurt-Rom-London-Haarstresstest ohne Probleme überstehen. Wir lächeln beide glücklich in die Kamera.

Dann blicke ich wieder zu dem Bild meiner Großmutter an der Wand.