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Ich liege auf dem Dach von Tristans VW-Bus, den er vor mehr als zwei Stunden hier oben in den Weinbergen bei Rotenberg geparkt hat, und schaue auf die Landschaft unter mir. Mein Blick reicht bis über die Mercedes-Benz-Arena nach Bad Cannstatt. Die Arena schläft im Dunkeln, auch das Mercedes-Museum. Ich erfreue mich an den unzähligen Lichtern der Stadt, die noch immer in der Nacht funkeln, wie ein Teppich aus Sternen. Ich nehme einen Schluck Bier, und mein Blick wandert vom nächtlichen Stuttgart unter mir in den sternenklaren Nachthimmel über mir.

»Ich frage mich immer, wieso andere Menschen Sternschnuppen sehen und ich nie.«

»Du hast noch nie eine Sternschnuppe gesehen? Ernsthaft?«

Tristan liegt neben mir und kann sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen. Er stellt sein Bier neben sich ab und richtet sich leicht auf.

»Ernsthaft.«

Das ist wirklich wahr. Alle meine Freunde erzählen mir ständig, wie sie Sternschnuppen zählen und dann Wünsche ins Universum hinaussenden, während ich hier sitze und Sterne zähle, aber einfach keine fallenden leuchtenden imposanten Sternschnuppen sehe.

»Noch nie?«

»Noch nie. Gut, ich habe mal ein Flugzeug explodieren sehen und gedacht, es wäre eine Sternschnuppe. Also habe ich mir schnell was gewünscht und mich dann verdammt mies gefühlt, weil da Menschen gestorben sind.«

»Das ist ja … total … morbide.«

Er sieht mich mit großen Augen an.

»Und total wahr.«

Ich würde sagen, wir haben beide einen im Kahn. Wir sind nicht betrunken, noch nicht, aber wir sind angetrunken. Zum Glück sind wir alleine, falls wir uns also bis auf die Knochen blamieren, wird es niemand bemerken. Das entspannt ungemein, wenn man trinkt.

Ich drehe mich vom Rücken auf den Bauch und greife in die Tüte Chips hinter mir.

Hier oben ist es wirklich wunderschön. Es ist Tristans Lieblingsplatz, das hat er mir anvertraut, als wir beide noch nüchtern waren. Hier ist er gerne, hier kommt er her, wann immer er eine kleine Pause braucht. Wann immer ihm nach Ruhe ist – eine Ruhe, die ihm nicht die Luft zum Atmen raubt. Nur ein kleiner Zwischenstopp, das braucht doch jeder Mensch, oder?

»Und das hier ist also dein Lieblingsplatz? In der Nähe von der Grabkapelle der Könige? Das ist total morbide!«

Tristan schließt die Augen und scheint plötzlich in einer anderen Welt versunken zu sein.

»Die Liebe höret nimmer auf.«

»Was?«

»Die Liebe höret nimmer auf.«

»Das … klingt schön.«

»Ja, ist ein schöner Spruch, aber nicht von mir. Der steht über dem Haupteingang auf der Vorderseite der Kapelle.«

Tristan atmet in aller Ruhe ein und aus. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, und bleibe erst einmal still.

»Hörst du das?«

Eigentlich höre ich gar nichts, aber das stört mich nicht. Ich kann nicht aufhören, Tristan anzusehen, wie er so ruhig daliegt.

»Nein.«

»Es ist ruhig. Zwar siehst du das Leben der Stadt, es umgibt dich, es ist überall, aber du hörst rein gar nichts.«

Sein Atem wird noch ruhiger und gleichmäßiger. Hoffentlich schläft er nicht gleich ein. So schön ruhig es hier oben ist, so ungern möchte ich jetzt alleine sein.

Er hat jetzt seit ein paar Minuten nichts mehr gesagt, und ich finde, es ist höchste Zeit, diese Ruhe zu durchbrechen. Und ich weiß auch schon, wie. Langsam kämpfe ich mich auf die Knie, dann auf meine Füße, und endlich sehe ich über das nächtlich leuchtende Stuttgart zu meinen Füßen. Noch nie habe ich so hoch über meiner Stadt gethront: hier oben, in Sichtweite der Kapelle, die an der Stelle einer alten Burg auf dem Gipfel des Württembergs gebaut wurde. Hier, am Stammsitz der Adligen von Württemberg – nach denen unser schönes Ländle benannt wurde –, fühle auch ich mich ein bisschen erhaben. So weit oben. Ich blicke auf meine Heimatstadt und fühle mich großartig.

»Stuttgart! Ich liebe dich!«

Das wollte ich der Stadt schon lange sagen, und heute Nacht schreie ich es ihr einfach zu. Ohne Zweifel bin ich mit dieser Idee nicht die Erste, aber es musste gesagt werden.

Tristan lacht leise vor sich hin und klettert ebenfalls, leicht wankend, neben mich.

»Das klingt schön, und ich glaube, Stuttgart liebt dich auch.«

Ich kann mir ein breites Grinsen nicht verkneifen.

»Danke. Versuche es doch auch mal.«

»Lieber nicht.«

Er schüttelt leicht den Kopf und folgt meinem Blick über die Stadt. Er wirkt plötzlich etwas traurig.

»Alles in Ordnung bei dir?«

»Ja.«

Dann lächelt er mich an, und ich bin mir nicht sicher, ob ich mir seinen leichten Anflug von Traurigkeit eben nur eingebildet habe. Schnell schaue ich wieder auf das bunte Lichtermeer unter uns, dann wandert mein Blick zum Horizont, den ich in der Dunkelheit noch leicht auszumachen scheine.

»Ob ich mich auch in den Rest verlieben würde?«

»Den Rest?«

Tristan sieht mich etwas irritiert an und bringt mich dadurch in Erklärungsnot.

»Den Rest … der Welt, hinter Stuttgart. Irgendwo da draußen?«

Tristan zuckt mit den Schultern und lässt seinen Blick über den Kessel schweifen.

»Keine Ahnung. Steig in den Flieger – und finde es raus.«

»Das geht nicht.«

»Klar geht das.«

»Und meine Firma?«

Meine Firma. Ist das der Grund, wieso ich nicht meine Kamera packe und mich auf eine Abenteuertour begebe? Oder ist sie der Grund, warum es mich wegzieht? Ich sehe Tristan an, und er lächelt.

»Komm schon, eine kleine Pause. Das muss doch gehen.«

»Und Oliver?«

Vielleicht ist das kein so gutes Argument. Oliver. Er hat hier oben auf diesem Dach nichts zu suchen. Tristan betrachtet mein Gesicht, und ich bin versucht, seinem Blick auszuweichen.

»Nur eine Pause, kein Ende. Außerdem könnte er ja mitkommen, wenn er will.«

Aber eine solche Reise wäre ein zu großes Risiko und könnte jede Menge Ernüchterung mit sich bringen.

»Würde er nicht.«

»Dann halt ohne ihn. Es ist ja auch dein Wunsch, nicht seiner, oder?«

Ginge das? Man drückt einfach im Leben mal die Pausetaste, macht Fotos wie verrückt, kommt zurück und dann?

»Er fände das, glaube ich, nicht so gut.«

Ich versuche ihn anzulächeln, aber Tristan schüttelt nur kurz den Kopf.

»Er kann dir doch nicht sagen, was du tun und lassen sollst. Komm schon. Wenn du etwas wirklich willst, solltest du es durchziehen und dich von nichts und niemandem aufhalten lassen. Am Ende wirst du es vielleicht bereuen, es nicht getan zu haben, und dann gibst du ihm die Schuld. Ich glaube nicht, dass ihm das lieber ist. Lass dich nicht aufhalten, nicht wenn es dir wirklich wichtig ist.«

Wow, ich habe wirklich nicht damit gerechnet, dass der Abend heute noch so ernst wird. Aber wenn es nun schon mal so ist, dann hat Tristan jetzt auch die ganze Wahrheit verdient. Ich atme tief durch und sage es einfach.

»Es liegt nicht nur an meiner Firma und an Oli … Ich habe auch einfach Angst, okay?«

Er lehnt sich ein bisschen zu mir rüber, stupst mich mit seiner Schulter sanft an, und sofort will ich wieder lächeln.

»Angst? Wovor?«

Davor, dass ich am Ende zurückkomme und der unangenehmen Wahrheit ein für alle Mal ins Auge blicken muss.

»Was, wenn ich zurückkomme und meine Fotos sind doch nur … Urlaubsfotos? Was, wenn ich merke, dass ich es gar nicht kann?«

Während ich versuche, das Brennen in meinen Augen durch heftiges Blinzeln zu vertreiben, legt er seinen Arm um mich, und ich lehne meinen Kopf an seine Schulter.

»Niemals. Es steckt mehr in dir, als du denkst. Ich habe deine Bilder gesehen. Du solltest wirklich diese Reise machen, einmal um die Welt, und ich verspreche dir, du wirst danach hier oben stehen und der Welt zurufen, dass du sie liebst, weil sie dir gezeigt hat, dass du es kannst.«

Es mögen nur Worte sein, aber auf merkwürdige Art und Weise treffen sie mich tief, irgendwo in der Herzgegend. So etwas hat noch nie jemand zu mir gesagt.

»Danke.«

Tristan grinst mich frech an und trinkt sein Bier aus, als wäre das, was er gerade gesagt hat, eine Selbstverständlichkeit. Wenn er doch nur wüsste, wie viel mir das alles bedeutet.

»Was darf es denn noch sein?«

Er klettert vom Dach des Busses und verschwindet im Inneren. Ich höre ihn dort in dem unglaublich winzigen Kühlschranks wühlen.

»Willst du noch ein Bier?«

»Klar.«

Ich setze mich wieder hin und denke darüber nach, wie schön Stuttgart ist und dass eines der Lichter da unten zu meiner Wohnung gehört, dass Oliver dort sitzt und sich wahrscheinlich nicht mal Gedanken macht, wo ich jetzt bin. Ich habe auf das Handy geschaut, zuerst heimlich, dann ganz ungeniert, aber es kam weder ein Anruf noch eine SMS. Nur Beccies erleichterte Antwort, das war alles. Ich rede mir ein, dass Oliver mir eben vertraut und es nicht bedeutet, dass es ihm egal ist, wo ich bin, was mir passiert ist und mit wem ich zusammen bin.

Es ist mir plötzlich zu ruhig. Ich bin ein Mensch, der Ruhe genießt, aber auch einen Schalter braucht, um die Hintergrundgeräusche bei Bedarf einschalten zu können. Und jetzt brauche ich Hintergrundgeräusche gegen die Stille, die einen nur grübeln lässt.

»Ich will Musik, Tristan.«

»Wird gemacht.«

Und sofort dringt leise Musik aus dem Inneren des Busses zu mir nach oben. Ich schließe kurz die Augen und wiege mich im Takt.

Ich denke nicht nach, wo ich bin, mit wem und was ich tue, denn sofort würde sich diese leise Stimme in meinem Inneren melden, die mir sagen will: Es ist falsch, du gehörst nicht hierher, du müsstest schön langsam nach Hause. Aber ich möchte bleiben. Ich fühle mich hier und jetzt einfach so wohl, wie schon lange nicht mehr. Hier oben. Mit Tristan. Und als er zurück zu mir aufs Dach klettert und mich dabei fröhlich angrinst, übertönt das Flattern der Käfer und Schmetterlinge in meinem Inneren die Stimme heute Nacht so laut wie noch nie in der Geschichte der Flügelinsekten. Tristan bewegt sich mit einer lächerlichen Leichtigkeit, die mich sofort erahnen lässt, dass er das schon hundertmal gemacht hat.

Er setzt sich und reicht mir eine Flasche Bier.

»Für dich.«

»Danke. Als Kellner bist du wirklich Weltklasse, lieber Tristan.«

»Mach die Augen zu.«

»Was?«

Ich bin gerade damit beschäftigt, die Flasche von dem lästigen Kronkorken zu befreien, und stelle mich bei dem Versuch leider reichlich ungeschickt an.

»Mach schon.«

Ich sehe ihn alarmiert an.

»Wieso?«

Er verdreht die Augen, und ein kurzes Lächeln huscht über seine Lippen.

»Bitte, Layla. Tu mir den Gefallen.«

»Ist das eine Überraschung? Ich bin wirklich nicht gut im Überraschtwerden!«

Ich hasse Überraschungen, weil ich mich darauf nicht vorbereiten kann. Ich muss im Falle einer Überraschung (und sind wir ehrlich: Nur selten sind sie gelungen) doch ein passendes freudiges Gesicht einüben. Andererseits ist es Tristan. Vielleicht kommt bei ihm das angenehm überraschte Gesicht von alleine. Ein Versuch ist es wert. Ansonsten ist er selbst schuld. Ich habe ihn gewarnt.

»Layla. Mach einfach deine Augen zu.«

Ich atme tief durch und folge seiner Anweisung. Während ich also mit geschlossenen Augen im Schneidersitz auf einem VW-Bus mitten in den Weinbergen sitze, denke ich darüber nach, wann ich das letzte Mal eine angenehme Überraschung erhalten habe, und finde kein gutes Beispiel. Beccie weiß, was ich von Überraschungen halte, und Oliver ist zu praktisch, um wirklich überraschend zu sein. Gut, er hat einige Versicherungen für mich abgeschlossen und mein Festgeld so verteilt, dass ich eines schönen Tages ganz verdutzt auf mein Konto geschaut habe. Das hat mich natürlich angenehm überrascht. Aber sonst? Tristans Essen in meinem Büro kommt einer Überraschung tatsächlich am nächsten, und es überrascht mich erneut, wie genau ich mich an die Details der Nacht erinnern kann. Der ganzen Nacht. Meine Güte, bin ich aufgeregt. Was hat er nur vor?

Ich höre Tristan mit einem Feuerzeug hantieren und dann ein zischendes Geräusch. Ich will sofort die Augen öffnen, aber dann bin ich der Spielverderber, und das will ich nicht. Vielleicht bekomme ich wieder so ein herrliches Lächeln von Tristan geschenkt. Wenn er wie ein kleiner Junge lächelt und stolz ist, dabei aber so unendlich sexy aussieht. Ich lasse die leise Stimme in meinem Inneren gar nicht erst zu Wort kommen und konzentriere mich stattdessen lieber auf das wilde Flügelschlagen und mein pochendes Herz.

»Okay, aufmachen.«

Kaum habe ich die Augen geöffnet, schaue ich in die grellen Funken einer Wunderkerze und bin etwas verwirrt. Tristan kommt grinsend auf mich zu und drückt mir das glitzernde und blitzende Ding in die Hand. Das ist zweifelsohne eine süße Geste, aber was genau das soll, weiß ich auch nicht.

»Oh. Ähm. Danke.«

Er schüttelt den Kopf, als hätte ich nicht verstanden.

»Du musst sie werfen.«

»Und einen Flächenbrand in den Stuttgarter Weinbergen initiieren?«

»Da passiert nichts. Komm schon, heute Nacht gehört der Himmel uns.«

Ich schaue irritiert auf die Wunderkerze in meiner Hand, dann in Tristans leuchtende Augen. Ich werfe wie ein Mädchen, ich renne und springe auch wie ein Mädchen, aber was man nicht alles tut. Also hole ich weit aus und werfe das brennende Geschoss weit über unsere Köpfe in den Nachthimmel, weiter als ich erwartet hatte. Angesichts der Flugbahn erinnert es weniger an eine Wunderkerze als an eine …

»Wünsch dir was.«

Mein Herz bleibt stehen. Tristans Stimme ist leise und ganz nah an meinem Ohr. Er steht direkt hinter mir, und seine Lippen sind so gefährlich nah, dass ich Probleme habe, mich auf meinen Wunsch zu konzentrieren. Aber ich formuliere ihn schnell und schicke ihn damit ans Universum.

»Danke.«

Ich stehe da und blicke auf die vielen Lichter vor mir, die plötzlich leicht verschwimmen.

»Zugegeben, es ist keine echte Sternschnuppe, aber ich dachte, besser als nichts.«

Ich nicke und weiß, ich will ihn umarmen. Sofort. Ich drehe mich um, schlinge meine Arme um seinen Brustkorb und halte ihn fest. Er ist von dieser Aktion genauso überrascht wie ich, aber dennoch erwidert er meine Umarmung.

»So etwas hat noch nie jemand für mich getan.«

Ich zwinge die Tränen dorthin zurück, wo auch immer sie herkommen, und atme tief durch. Er riecht so gut. Er fühlt sich so gut an. Er ist … Halte ich ihn zu fest? Es scheint ihn nicht zu stören, denn er lässt mich nicht los, sondern streicht mir sanft über den Rücken. Ich würde gerne für einen kurzen Moment die Welt anhalten. Bevor ich mich in diesen Moment verlieben kann, löse ich mich von ihm.

»Danke, Tristan, wirklich.«

Er zuckt mit den Schultern, und dann ist es da, dieses kurze jungenhafte Lächeln, das ich wirklich mehr als charmant finde. Es ist nicht das übertriebene Lächeln eines Angebers, dafür ist es zu nah an der Grenze zur Schüchternheit, aber doch selbstbewusst. Er ist stolz, mich angenehm überrascht zu haben. Und das hat er.

»Das habe ich wirklich gerne gemacht.«

Wir setzen uns wieder hin, schauen zuerst uns, dann den Himmel und schließlich Stuttgart an, ohne ein Wort sagen zu müssen. Die Musik im Hintergrund bietet den perfekten Soundtrack für diesen Moment, und so lehne ich mich entspannt zurück, nehme einen Schluck Bier und muss plötzlich grinsen.

»Wahrheit oder Pflicht?«

Ich sehe Tristan von der Seite an. Dank ihm fühle ich mich wieder wie ein Teenager, frei und ungezwungen. Und das ist genau der richtige Rahmen für ein paar verrückte Spiele. Niemals könnte ich im nüchternen Zustand oder gar mit Oliver ein solches Spiel spielen. Er findet das kindisch und unpassend. Man ist nicht mehr zwölf Jahre alt und im Ferienlager.

Tristan lehnt sich zurück, hält dabei aber meinem auffordernden Blick stand.

»Okay. Wahrheit.«

»Schisser.«

Er nickt und lacht. Ich mag sein Lachen, es klingt so ehrlich und tief, als käme es direkt aus seinem Herzen.

»Als gut: Die peinlichste CD in deinem Regal ist …?«

Er verzieht das Gesicht, nimmt einen wirklich großen Schluck Bier und beugt sich dann zu mir, als wolle er mir ein Geheimnis verraten.

»David Hasselhoff, Looking for freedom

Es gelingt mir nicht, ernst zu bleiben, weil solche CDs in einem Mädchenregal kein großer Schock wären, aber wenn ich mir Tristan anschaue, diese scheinbar angeborene Lässigkeit – und dann Hasselhoff –, nein, das lässt sich nicht in einem Bild vereinen. Er weiß, ich lache nicht mit ihm, sondern über ihn, aber er nimmt es mit Humor.

»Wahrheit oder Pflicht, Fräulein Desio …«

Sein Blick lässt mich nicht los, und ich bemerke, man sollte im Glashaus wirklich nie mit Steinen werfen. Ich habe genug dunkle Ecken in meinem CD-Schrank, und wenn ich mich entscheide, die Wahrheit zu sagen, wird das für Tristan ein gefundenes Fressen. Also werde ich schnell wieder ernst, räuspere mich und sehe ihn aufmerksam an.

»Wahrheit.«

»Peinlichste heimliche Sexphantasie.«

Was? Nein! Ich habe ja mit einigem gerechnet, aber nicht mit dieser Frage. Natürlich muss ich sofort daran denken, wie ich vor knapp einer Woche schweißgebadet aufgewacht bin, weil ich einen extrem erotischen Traum mit einem Mann in einem Pool hatte, der zufällig auch Tristan hieß. Sicher, erotische Träume sind nichts Ungewöhnliches, die hatte ich schon früher mit Jake Gyllenhaal, aber nie mit jemandem, den ich wirklich kenne und – viel schlimmer – auch noch wirklich attraktiv finde. Und machen wir uns nichts vor: Es war Tristan.

»Da musst du aber lange nachdenken …«

»Ha-ha. Das ist peinlich.«

»Es steht dir frei, Pflicht zu wählen, wenn du dich damit wohler fühlst.«

Aha, daher weht der Wind. Er hat eine gemeine Frage gewählt, nur um mich dann zu einer Pflichtaufgabe zu überreden. Aber so leicht werde ich es ihm ganz sicher nicht machen, ich habe ihn durchschaut. Also nehme auch ich einen großen Schluck Bier und trinke mir im wahrsten Sinne des Wortes Mut an.

»Sex im Pool bei Nacht mit einem heißen … Unbekannten.«

So unbekannt war der Typ zwar nicht, aber wirklich gut gekannt haben wir uns damals auch noch nicht, und ich muss ihm ja nicht alles direkt auf die Nase binden. Tristan scheint überrascht, weil ich doch geantwortet habe.

»Wie, keine Fesselspiele? Kein flotter Dreier? Keine schmutzigen Gedanken? Kein Hollywood-Star? Nur ein Pool?«

»Bei Nacht. Jawohl.«

»Details?«

»Das war nicht Teil der … Wahrheit.«

Er nickt und nimmt wieder einen Schluck Bier. Bin ich ihm jetzt zu langweilig, weil ich keine SM-Spielchen auf dem Eiffelturm mit Jake will? Lieber nicht darüber nachdenken. Angriff.

»Wahrheit oder Pflicht, lieber Tristan?«

»Wahrheit.«

»Okay. Peinlichster sexueller Ausrutscher im Alter über 20.«

»Über 20?«

»Ich will nicht hören, wie du als 15-Jähriger mal beim Kekswichsen oder so verloren hast. Ich will die bittere Wahrheit.«

»Ich nehme Pflicht.«

Ich muss lachen. Er ist fast etwas rot geworden, und es ist ihm auf eine sympathische Art und Weise unangenehm geworden. Ich könnte und würde ihn jetzt am liebsten küssen. Dieses Gefühl verspüre ich inzwischen schon zum wiederholten Mal. Es sollte mir Sorgen machen, aber dieses Gefühl stellt sich überraschenderweise nicht ein. Nicht jetzt, nicht heute. Was morgen ist, das werden wir dann sehen.

»Also gut. Bring mir ein Ständchen.«

»Oh, ein Lied? Was bin ich, eine lebende Jukebox?«

»Nein, aber du drückst dich vor der Antwort … also will ich ein Lied. Keinen Auszug, ich will ein ganzes Lied. Und schön laut.«

Dabei zwinkere ich ihm zu und nehme einen weiteren Schluck Bier. Es macht Spaß, wir sind albern, und das ist lustig. Wir tun uns nicht weh, wir haben nur Spaß und, soweit ich das beurteilen kann, überschreiten wir auch keine Grenzen.

»Also gut. Ein bestimmter Musikwunsch?«

»Das sei dir überlassen.«

Er steht unvermittelt auf und springt vom Bus. Für einen kurzen Moment denke ich, er will zur Flucht ansetzen, aber er scheint nur etwas zu suchen, was ich von hier oben aus nicht so gut erkennen kann.

»Kann man dir helfen?«

»Nein, ich suche nur etwas, das als Mikrofon herhalten kann. Ich singe ungern so ganz ohne. Das ist unprofessionell.«

Er hält einen kleinen Ast triumphierend in die Luft und steht stolz neben dem Wagen. Ich betrachte ihn von hier oben und stelle erneut fest, dass er einer dieser Kerle ist, die ohne große Show oder wild bedruckte T-Shirts einfach so die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Meine hat er jedenfalls. Ganz.

»Guten Abend, mein Name ist Tristan Wolf, und dieses Lied ist für Layla – und alles, was noch kommt …«

Er zeigt zu mir hoch, und ich jubele wie ein Vorzeige-Groupie in den besten Jahren. Ich bin auf alles gefasst, von Katzengejammer über ein David-Hasselhoff-Medley, aber mit dem, was jetzt kommt, hätte ich niemals gerechnet.

Großstadt, große Träume,

Alltag, zu wenig Zeit für

Leidenschaft, für dein Talent,

für das, wofür deine Flamme brennt …

Tristans Stimme ist weicher und rauer, wenn er singt. Sie ist sanft, und vor allem ist sie eines: wunderschön. Sie lässt einen den Atem anhalten. Er singt ganz ohne Zweifel nicht zum ersten Mal, und ganz sicher blamiert er sich kein Stück.

Zieh die Notbremse und steig aus,

tu’s für dich, nur für dich …

Meine Unterarme sind seit der ersten Silbe, die er gesungen hat, von einer kribbelnden Gänsehaut überzogen. Mit offenem Mund sitze ich auf seinem Bus und starre ihn an, während er in einen Ast singt, dabei ganz sanft hin und her wippt und mir das Gefühl gibt, auf einem Konzert zu sein, das nur mir zu Ehren gegeben wird.

Es steckt mehr in dir, als du denkst,

mach jeden Moment zu einem Lieblingsmoment!

Ich lausche dem Lied, lasse die Worte, die Tristan für mich singt, auf mich wirken und bin sofort verliebt in das Lied, weil mich der Text so tief berührt. Mit sanfter Stimme besingt Tristan die Flucht vor dem erdrückenden Alltag, als wäre dieses Lied nur für mich geschrieben. Er singt mir aus der Seele, und jedes der gesungenen Worte gräbt sich tiefer in mein Herz ein.

Dein Leben, so fremdbestimmt,

du lebst nicht, was du leben willst,

du schaust dich im Spiegel an

und fragst dich, wie man sich so leugnen kann.

Wie oft habe ich mich schon genau so gefühlt? Und wie oft habe ich etwas dagegen getan? Noch nie. Jetzt steht Tristan vor dieser traumhaften Kulisse, die meine Stadt einmal mehr für mich zaubert, und das ist einfach nur schön. Er hätte jedes Lied auf der Welt singen können, wirklich jedes, aber mit diesem trifft er den Nagel auf den Kopf. Als er den Refrain in den Nachthimmel singt, habe ich fast Tränen in den Augen, was mir peinlich ist.

Es steckt mehr in dir, als du denkst,

mach jeden Moment zu einem Lieblingsmoment!

Er schenkt mir eine Sternschnuppe und ein Lied, das ist schöner als Weihnachten. Ich will ihn schon wieder umarmen und danach nie wieder loslassen, aber ich versuche, entspannt zu wirken. Natürlich lächelnd, ehrlich berührt. Letzteres gelingt mir gut.

Mit einer kleinen Verbeugung wirft er den Ast wieder von sich und klettert zurück zu mir aufs Dach. Schon während er sich noch im Aufschwung befindet, stellt er mir die nächste Frage.