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Mit der Dunkelheit zieht auch endlich etwas Kühle in mein Büro ein. Ich habe vier Anrufe in Abwesenheit: drei von Beccie, einen von Oliver, außerdem zwei E-Mails im Postfach und eine »Vermisstenanzeige« auf meiner Facebook-Pinnwand. Beccie scheint mich mehr zu vermissen als Oliver, der mir nur eine kurze Nachricht auf dem AB hinterlassen hat: Er gehe jetzt los und wisse nicht, wie spät es würde. Ich habe ihm eine SMS geschickt und ihn wissen lassen, dass ich noch im Büro bin und arbeite.

Zwischen den Bildern, die ich bearbeite, beobachte ich die Aktivitäten meiner Freunde auf Facebook. Beccie kündigt an, jetzt die dritte kalte Dusche des Tages zu nehmen, weil dieses Wetter sie fertigmache. Natürlich kommentieren die zahlreichen männlichen Freunde dies mit zweideutigen Sprüchen, auf die sie nur zu gerne eingeht. Ich amüsiere mich und ertappe mich dabei, auch mal wieder meine Fotoalben durchzusehen. Es sind nicht viele Fotos von mir, aber die, auf denen ich besonders unvorteilhaft erscheine, werden schnell gelöscht. Bisher war mir das reichlich egal, und es ist mir immer noch nicht wirklich wichtig, aber vielleicht sollte ich da mal ein wenig umdenken. Immerhin präsentieren wir uns doch alle auf solchen Social-Network-Profilen und versuchen, ein möglichst positives Bild von uns aufzubauen, das dem Original nicht zwingend ähneln muss. Wir erscheinen in der virtuellen Welt immer etwas lockerer, etwas attraktiver, etwas interessanter als im echten Leben. Wieso sollte ich also eine der wenigen sein, die sich originalgetreu ablichten?

Ich lösche schnell ein paar alte Fotos von mir und widme mich dann wieder meiner Arbeit, allerdings nicht ohne auch meine Statusnachricht noch der Aktualität der Dinge anzupassen.

Das entspricht sogar der Wahrheit und gibt gleichzeitig eine gute Entschuldigung ab, wieso ich nicht versuche, beim Stammtischtreffen meines Freundes aufzukreuzen. Und die Ruhe der Nacht gibt mir auch genug Zeit, um alles in mir zu sortieren – wäre da nicht dieses Hungergefühl in meinem Magen, immerhin liegt der Burger schon wieder zu viele Stunden zurück. Dabei habe ich noch immer das Gefühl, die Momente mit Tristan greifen zu können. Wie wir uns an der Treppe getroffen haben, wie wir auf den Burger gewartet haben, den wir dann gemütlich im Schatten gegessen haben. Tristan und die Art und Weise, wie er nichts beweisen muss. Mein leiser Neid wegen seiner Freundin und ihrem aufregenden Leben. Journalistin klingt einfach imposanter als Party-Knipserin. Ich messe mich mit ihr und kenne noch nicht mal ihren Namen, so viel Mut hatte ich nicht. Im Gegenzug hat auch Tristan nicht nach Olivers Namen gefragt, obwohl er sonst eine Menge über ihn weiß und sich auch schon seine Meinung über ihn gebildet hat, da bin ich mir sicher. Ich fühle mich etwas unwohl bei der Vorstellung. Nächstes Mal muss ich etwas besser von Oliver sprechen und ihn nicht in dieser Grauzone aus »trockener Arbeit« und »anderer Meinung, was meine Träume angeht« platzieren. Ich habe nicht wirklich Farbe bekannt, was ihn angeht – und das tut mir leid. Das hat Oliver nicht verdient.

Wieder sehe ich zu dem Bild, das auf meinem Schreibtisch steht. Ohne Zweifel würde man ihn als attraktiv beschreiben. Ich würde ihn sogar als sehr attraktiv beschreiben. Er könnte aus einem Hollywoodstreifen entsprungen sein. Schon damals ist mir sein perfekt geschnittenes Gesicht aufgefallen, die kleinen Grübchen wenn er lächelt und seine klaren Augen. Vielleicht sollte ich mal wieder einfach so von ihm schwärmen.

Jemand hat meinen Status kommentiert, und ich rechne schon damit, dass Beccie mich ermahnen wird, nicht zu viel zu arbeiten. Aber ich werde überrascht. Es ist nicht Beccie. Es ist Tristan.

Mit einem Lächeln tippe ich meine bejahende »Klar!«-Antwort und setzte einen zwinkernden Smiley dahinter, damit die ganze Welt sieht, ich meine es nicht ernst. Es gibt Tricks, sich auch in geschriebener Form im Internet politisch korrekt auszudrücken. Kaum sehe ich meine Antwort unwiderruflich im Netz verankert, überdenke ich meinen Positivismus sofort wieder. Klingt das wie flirten? Ich will niemandem auf die Füße treten, schon gar nicht seiner Freundin oder meinem Freund. Oder mir selber.

Aber da Tristan nicht mehr antwortet, gehe ich davon aus, er und alle anderen haben meine Ironie verstanden. Also konzentriere ich mich doch wieder auf das, was ich machen wollte: arbeiten. Es sind mehr Fotos, als ich angenommen habe, und einige davon gefallen mir auf den zweiten Blick sogar noch besser. Ganz verschenkt scheint mein Talent also doch nicht zu sein. Mein letzter Auftraggeber bestellt genug Fotos, um mich glücklich zu machen. Ich werde nicht reich, aber ich kann zumindest wieder entspannt am Tisch sitzen, wenn Oliver wieder mal über Geld spricht. Das tut er gerne, weil es eben sein Beruf ist, aber ich fühle mich manchmal klein neben ihm, auch wenn ich das nicht müsste. Ich verdiene gut und bin stolz auf mein Konto, das ich jeden Monat schön füttere. Natürlich ist es kein Vergleich zu Olivers Habenseite auf dem Konto.

Ich lasse die Bilder in der besten Qualität auf CD brennen und lehne mich zurück. Ich mag es, nachts zu arbeiten, weil ich dann weniger von den Ereignissen des Tages abgelenkt werde. Ich habe heute die Seele baumeln lassen und mit der Energie, die ich dabei getankt habe, dann gute Arbeit geleistet. Nur mein Magen hat in den letzten Stunden gelitten. Jetzt ist es zu spät, etwas zu bestellen, und ich werfe einen Blick in meinen kleinen Büro-Kühlschrank. Bier habe ich, aber außer einem Marsriegel finde ich nichts Essbares.

Es klingelt.

Um diese Uhrzeit? Hier? Ob Oliver mich vielleicht abholen will? Ich tapse zur Tür, und plötzlich spüre ich es. In mir drinnen höre ich das Flügelschlagen wieder. Wenn es nun gar nicht Oliver wäre, sondern Tristan, der sein Angebot auf Facebook tatsächlich ernst gemeint hat?

Ich halte mir den Hörer der Gegensprechanlage ans Ohr.

»Hallo?«

Dann halte ich die Luft an. Das Geräusch von hundert kleinen Käfern in meinem Inneren übertönt fast meinen Herzschlag.

»Essen auf Rädern. Sie haben was bestellt?«

Ich erkenne seine Stimme, und sofort spüre ich das Lächeln auf meinen Lippen, während ich ein bisschen auf der Stelle springe. Natürlich nur wegen des Essens, nicht wegen des Lieferanten.

»Komm rauf.«

Ich drücke den Summer und warte auf das Geräusch der sich öffnenden Tür im Erdgeschoss. Dann höre ich Schritte auf der Treppe, und ein Schatten taucht aus der Dunkelheit auf. Da steht er. Er trägt eine schwarze schicke Leinenhose und ein weißes Hemd, dessen Ärmel er bis über die Ellenbogen hochgerollt hat. Er lächelt mich an, eine weiße Papiertüte in der rechten, einen Motorradhelm in der linken Hand.

»Ich kann es nicht fassen. Du bringst mir wirklich was zu essen.«

Er zuckt mit den Schultern.

»Ich kann dich doch nicht verhungern lassen.«

Ich lasse ihn herein und schließe die Tür hinter uns ab. Der Schlüssel bleibt zur Sicherheit stecken, man weiß ja nie. Stuttgart ist kein gefährliches Pflaster, aber Oliver hat auch einen Schlüssel zu meinem Büro, und ich möchte keine Erklärungsnot für den Fall haben, dass er uns hier überraschen sollte. Aber. Wobei? Dabei, wie wir gemeinsam zu Abend essen? Egal.

Tristan legt seinen Helm und die Tüte auf meinem Schreibtisch ab.

»Hast du Besteck da? Falls nicht …«

Er greift in seine Hosentasche und zieht zwei Plastikgabeln hervor.

»Ta-dah.«

Ich kann mich gegen das Grinsen auf meinem Gesicht nicht mehr wehren und kapituliere. Es ist albern, er hat gewonnen und mich mit seinem Charme überrascht.

»Ich habe Bier.«

»Perfekt.«

Während er eine ganze Fülle an kleinen Plastikboxen aus der Tüte zaubert, komme ich mit zwei Flaschen Bier zurück zum Tisch.

»Das ist alles für uns?«

Er nickt und nimmt der Reihe nach die Deckel ab. Eine Box enthält Pasta mit Meeresfrüchten, die nächste Fisch in einer duftenden Soße, die nächste einen frischen italienischen Salat, lauter exklusive Leckereien.

»Wo hast du das alles her?«

Er lächelt und nimmt gegenüber von mir auf dem Stuhl Platz. Sonst kenne ich diese Situation nur aus Gesprächen mit potenziellen Kunden, aber jetzt ist kein Druck, keine Anspannung zu spüren.

»Ich arbeite im Primafila. Das sind Reste, und wir dürfen sie manchmal mitnehmen.«

Er deutet auf sein Outfit, und ich verstehe. Er hat heute also wieder als Kellner gearbeitet, was den gewissen Chic erklärt. Ich kenne das Restaurant. Lange Jahre war es am Fernsehturm gelegen, hat sich dann eine Pause und jetzt die Neueröffnung im Westen der Stadt gegönnt. Von der Qualität hat es rein gar nichts eingebüßt.

»Danke, dass du all das mit mir teilen willst.«

Er lächelt mich an und nickt nur kurz, bevor wir mit den Bierflaschen anstoßen. Am Samstag habe ich ihn erst getroffen, und jetzt will ich mir nicht mal mehr vorstellen, wie es davor war.

»Was haben sie zu deinem blauen Auge gesagt?«

Ich mache mich über die Pasta mit Meeresfrüchten her, er widmet sich ganz dem Fisch. Er kaut und zuckt grinsend mit den Schultern.

»Nichts. Zu viel los. Ich durfte in der Raucherlounge bedienen.«

Beccie würde mich erwürgen, wenn sie wüsste, dass ich heute schon zum zweiten Mal in den Genuss komme, mit ihm Zeit verbringen zu dürfen. Es ist entspannter als heute Mittag im Park, als ich noch nicht so ganz wusste, wie ich mit ihm und allem umgehen soll, aber es scheint jetzt so einfach. Wir sind Freunde. Man kann auch nur befreundet sein. Nicht jeder ist wie Harry und Sally. Ich atme tief durch, sehe Tristan an und bin glücklich: Ich habe einen fürsorglichen, spannenden und – man muss es einfach sagen – äußerst attraktiven neuen guten Freund gewonnen.

Wir reden eine kleine Weile über seinen Job in dem Lokal, und er gibt zu, sich dort sehr wohlzufühlen. Zwar wolle er nicht sein Leben lang als Kellner arbeiten – aber wenn doch, dann nur im Primafila. Dort sei die Stimmung im Team so gut wie das Essen auf den Tellern. Ich gratuliere ihm kauend zu seinen traumhaften Kollegen, denn die Meeresfrüchte auf meiner Pasta sind vorzüglich. Es scheint ihn zu freuen, dass ihm die Überraschung gelungen ist und mir das Essen so gut schmeckt.

Obwohl die Essensboxen inzwischen leer sind, stoßen wir mit einem zweiten Bier an, und endlich wird es kühler. Wir sitzen nur da, sprechen über Essen, Restaurants und Kneipen, in die wir gerne gehen, um dort unsere Zeit zu verbringen. Mir fällt auf, dass er sich in Stuttgarts Nachtleben erschreckend gut auskennt. Wie kann es sein, dass ich ihn dann noch nie getroffen habe, wo wir doch durchaus das ein oder andere gemeinsame Stammlokal haben? Warum sind wir uns nicht schon früher begegnet?

Er lächelt mich an und nimmt einen weiteren Schluck Bier.

»Was?«

Ich schüttele nur den Kopf, weil ich die Frage nicht laut stellen möchte. Es würde etwas zu verzweifelt klingen.

»Nichts. Ich habe nur nachgedacht.«

»Und worüber?«

Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und klemmt sich die Bierflasche unter den Oberarm, was irgendwie so wirkt, als würde er die Flasche umarmen, und er sieht dabei so aus, wie ich mich fühle: zufrieden. Zu gerne würde ich jetzt frech nach meiner Kamera greifen und ihn fotografieren. Schon lange habe ich diesen Drang in mir nicht mehr gespürt, und jetzt ist er auf einmal wieder sehr präsent. Tristan weckt in mir das Bedürfnis, diesen wunderschönen Moment für immer einzufangen. Aber ich lasse es und entscheide mich stattdessen lieber für eine andere, harmlose Frage.

»Woher weißt du eigentlich so viel über die Gastrobranche?«

Er nickt lächelnd, als hätte er die Frage vorausgesehen.

»Ich gehe einfach gerne aus.«

»Das tue ich auch. Ich mache das sogar beruflich, trotzdem weiß ich nicht so viel.«

»Okay, ich habe einen Gastroführer geschrieben. Über Stuttgart. Schon eine kleine Weile her.«

Das überrascht mich. Wobei ich nicht sagen kann, wieso.

»Wirklich? Das ist toll. Vielleicht habe ich ihn ja schon gelesen.«

Tatsächlich haben Oliver und ich daheim im Schrank, neben den Kochbüchern von Tim Mälzer und Jamie Oliver, ein paar Gastroführer über die besten Locations in Stuttgart stehen, aber ich kann mich nicht mehr an die Titel oder Cover erinnern. Der neueste war ein Geschenk zur Einweihung der Wohnung. Ich weiß nicht einmal mehr von wem. Die meisten Gastroführer finde ich ohnehin öde. Sie beschreiben nur Läden, die von Touristen aufgesucht werden. Tristan ist Stuttgarter, er liebt und lebt diese Stadt, das könnte eine angenehme Abwechslung werden.

»Das denke ich kaum. Ich habe mit einem Kumpel rumgesponnen. Er hatte die Idee Stuttgart für Stuttgarter. Jetzt macht er die Website kesselfieber.de, kennst du bestimmt.«

»Klar kenne ich kesselfieber.de. Manchmal schicke ich denen Bilder für ihre Artikel. Eine Freundin schreibt für die Jungs.«

Wir nicken und grinsen. In Stuttgart kann man sich leicht an dieser Kesselfieber-Krankheit anstecken. Wir alle leben hier, wir alle kennen irgendwie alles über andere, haben Leute unendlich oft in Clubs wie dem Rocker 33 oder der Röhre gesehen, bevor sie umziehen mussten und dichtgemacht wurden, und wir alle haben am Palast der Republik ein trauriges Abschiedsbier auf unvergessliche Abende und alte Freunde getrunken.

»Hast du noch mehr geschrieben?«

»Hm, wie jeder ordentliche Literaturstudent habe ich früher Gedichte und Kurzgeschichten geschrieben. Für … die Schublade.«

»Kann ich sie lesen?«

Statt einer Antwort zuckt er nur mit den Schultern und deutet mit dem Finger auf ein Bild hinter mir an der Wand. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, auf welches er zeigt.

»Hast du noch mehr solcher Fotos?«

»Was meinst du?«

»Bilder, die Gefühle zeigen …«

Mit einer ruckartigen Bewegung erhebt er sich aus dem Stuhl, stellt das Bier an der Tischkante ab und geht zu dem Bild hinter mir. Ich drehe mich immer noch nicht um. Das Bild soll als Motivation dienen, nicht als Spießrutenlauf.

»… und Geschichten erzählen.«

»Nein.«

Das stimmt zwar nicht, aber ich kann mich gerade nicht richtig konzentrieren. Ich spüre ihn hinter mir, spüre seine Präsenz. Aber ich weigere mich, ihn anzusehen, weil ich dann vermutlich die Wahrheit sagen würde – was ich nicht will. Nicht schon wieder. Das heute im Park war ein Versehen. Ich lebe in meiner gemütlichen Seifenblase aus kleinen, aber funktionierenden Halbwahrheiten und vertriebenen Träumen. Wieso sollte ich diese Blase verlassen?

»Ich habe ein Buch geschrieben und das Manuskript über einen Freund einem Verlag geschickt. Als die Leute vom Lektorat dann begeistert sagten, sie würden es gerne veröffentlichen, habe ich gekniffen und es zurück in die Schublade meines Schreibtisches verbannt.«

Seine Stimme klingt näher, als ich angenommen habe. Er muss wirklich direkt hinter mir stehen. Ich spüre die sanfte Gänsehaut in meinem Nacken, die sich über meinen Körper ausbreitet, und starre konzentriert auf den Bildschirm meines Computers vor mir, betrachte intensiv den Desktop mit all den kleinen Icons, die mir das Leben durch einen einfachen Klick erleichtern. Tristan beugt sich zu mir herunter, und obwohl sich seine Hand eigentlich nur auf die Maus auf dem Schreibtisch legt, fühlt es sich trotzdem fast so an, als würde er den Arm um mich legen. Ich versuche meine Atmung zu kontrollieren. Er ist so nah.

»Irgendwo hier haben sich bestimmt ganz wunderbare Bilder versteckt, oder?«

Ich beobachte den Cursor und spüre Tristan, den nur wenige Zentimeter von mir trennen. Er bewegt die Maus langsam mit seiner Hand, und ich weiß, er wird sie finden, immerhin habe ich mir nicht besonders viel Mühe beim Verstecken gegeben. Der Titel des Ordners »Alte Bilder« klingt jetzt noch viel verräterischer, als ich es mir eingestehen möchte.

»Was wohl hier drinnen ist?«

Der Cursor kommt genau auf diesem Ordner zum Stillstand. Ich weiß, Tristan lächelt. Ich spüre es, sage aber trotzdem nichts. Er sieht mich von der Seite an, aus einer fast unerträglichen Nähe. Ich halte den Atem an.

»Darf ich?«

Darf er? Eine wirklich gute Frage. Ich habe diesen Ordner auf meinem Desktop genau neben dem Papierkorb platziert, weil er meiner Meinung nach genau dorthin gehört. Nur einen Klick von der Entsorgung entfernt. Ich nicke langsam, atme aus und höre den folgenschweren Doppelklick.

Auf dem Bildschirm springt ein Fenster erfreut auf und zeigt eine Sammlung von mehr als hundert Bildern, die ich mir in den letzten zwei Jahren genau drei Mal angesehen habe. Ich habe sie verdrängt, um nicht dauernd an sie denken zu müssen.

Tristan bewegt sich jetzt nicht mehr, aber ich meine, seinen Herzschlag zu hören oder zu spüren, ich bin mir noch unsicher. Von seinem Körper geht jedenfalls eine Wärme aus, die mich einhüllt, und obwohl wir uns gerade mitten in einer extremen Hitzeperiode im Sommer befinden, ist mir seine Wärme kein bisschen unangenehm.

Er klickt auf ein Foto, und ich will die Augen schließen. Ich komme mir aber vor wie bei einem Unfall auf der Autobahn, also schaue ich auch hin.

Ein kleines Kind am Kiesstrand am Lago di Garda. Es ist in Malcesine aufgenommen, denn dort lebt meine Großmutter, dort habe ich mich in die Stadt und die Menschen verliebt. Tristan betrachtet das Bild. Es ist schwarz-weiß, konzentriert sich auf das Gesicht des Kindes, der Hintergrund verschwimmt, aber die Umrisse des sich fortführenden Strandes und all seine Besucher kann man trotzdem deutlich erkennen.

»Das ist … schön. Wunderschön.«

Ich sage nichts, traue mich kaum zu atmen, mein Mund wird trocken. Ich greife nach meiner Flasche und spüle meinen Mund mit etwas Bier aus. Schon viel besser.

Das nächste Foto zeigt ein altes Ehepaar auf einer Bank in einer der kleinen Kopfsteinpflastergassen der Innenstadt. Meine Großeltern. Sie sitzen da, fast wie in Stein gemeißelt, halten sich an der Hand und haben dieses besondere Lächeln auf den Lippen. Es zeigt Ruhe und Zufriedenheit, wie man sie nur im Alter genießen kann. Das Licht war mir an diesem Tag besonders freundlich gestimmt und erlaubte mir kräftige Kontraste, die meinen Großvater fast rau, meine Großmutter hingegen zart und verletzlich zeichnen. Ein bisschen will ich zugeben, dass es mir gefällt.

Tristan sieht wieder zu mir.

»Die sind …«

»Alltäglich.«

»Nein, wunderschön. Das ist die Frau auf dem Foto, nicht wahr? Kennst du sie?«

Der Gedanke an sie verpasst mir einen emotionalen Tiefschlag.

»Ja. Das ist meine Großmutter.«

Meine Großmutter, die wollte, dass ich meine Träume verwirkliche und mir meine Wünsche erfülle. Meine Großmutter, die mir unendlich fehlt. Ich greife nach seiner Hand, schiebe sie etwas ruppig von der Maus weg. Dann schließe ich das Fenster und auch den Ordner. Ich bin darauf nicht vorbereitet und will es auch nicht. Es ist mir im Moment zu viel.

»Das sind kleine Meisterwerke! Die sind toll, du solltest sie veröffentlichen!«

Ich drehe mich zu ihm um. Er hat kein Recht, so über die Bilder zu sprechen und damit endlich schlummernde Hoffnung in meinem Inneren zu wecken. Ich habe lange genug gebraucht, um sie zu begraben, auch wenn ich mich noch immer nicht völlig von ihnen trennen kann. Ich will nicht mehr darüber sprechen. Ich will seine Komplimente nicht.

»Das geht dich aber nichts an. Es sind meine Fotos, und ich mache mit ihnen genau das, was ich will.«

Er nickt und hebt abwehrend die Hände, aber ich sehe ihm an, dass er anders denkt.

»Ich finde ja nur, du solltest mal darüber nachdenken, weil sie …«

»Lass es!«

Meine Stimme ist lauter und hallt in der Stille der Nacht durch mein Büro. Ich will ihn nicht anschreien, aber er versteht nicht, und ich will und kann es ihm nicht erklären.

»Das … hat nichts mit dir zu tun. Ich möchte nur nicht über diese Bilder sprechen.«

»Du sollst nicht über sie sprechen, du sollst sie veröffentlichen.«

Er versteht es nicht, also verschränke ich meine Arme vor der Brust – ein sicheres Zeichen für Ablehnung.

»Sagt der Typ, der sein Manuskript in der Schublade versteckt.«

Das hat gesessen, ich merke, wie er leicht zusammenzuckt, und sofort tut es mir leid.

»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Du hast sie doch auf deinem Rechner, es wäre nur …«

»Ich will sie nicht veröffentlichen. Es sind Schnappschüsse aus dem Urlaub. Nicht mehr.«

Er schüttelt den Kopf und dreht meinen Schreibtischstuhl so, dass ich ihn ansehen muss.

»Wer hat dir denn den Müll erzählt? Das ist Blödsinn.«

Seine Augen glühen. Ist er wütend? Er hält die Lehne meines Stuhls fest umklammert, und sein Gesicht ist nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Einen Augenblick sehen wir uns stumm an. Er ist mir zu nah.

Das ist zu viel.

»Es ist schon spät. Wir müssen beide morgen früh raus.«

Er lässt los und richtet sich wieder auf. Ich beuge mich zu meinem Computer und schalte ihn einfach aus. Ich habe heute lange genug gearbeitet und auch schon viel zu viel Zeit mit ihm verbracht. Es wird jetzt Zeit, zumindest für heute einen Schlussstrich zu ziehen.

»Layla.«

Ich sehe ihn nicht an, stehe auf, packe die leeren Boxen und Servietten vom Tisch und stopfe sie fast schon rabiat in die weiße Tüte, die neben dem Tisch steht. Er kommt auf mich zu.

»Du hast recht, Layla. Du musst rein gar nichts mit den Fotos machen. Aber wer auch immer gesagt hat, sie wären nur Urlaubsfotos, der hat gelogen. Oder keine Ahnung.«

Er nimmt mir die leeren Bierflaschen ab und stellt sie neben den Kühlschrank auf den Boden. Ich beobachte ihn und frage mich, wo er all die Jahre war, als ich genau das hören wollte. Er war in meiner Stadt, aber er hat nie meinen Weg gekreuzt, und jetzt ist er plötzlich hier, und ich möchte ihn für das eben Gesagte am liebsten ohrfeigen. Nein, lieber fest umarmen. Dafür, was er gesagt hat. Aber so weit sind wir nicht. So weit werden wir vermutlich niemals sein. Deshalb schenke ich ihm wenigstens ein kurzes Lächeln, vielleicht kann er die Dankbarkeit darin lesen. Er lächelt zurück. Zum Glück.

»Wie kommst du nach Hause?«

»Ich laufe. Ich habe es nicht weit.«

Er wirft einen Blick auf die Uhr. Es ist spät, die Straßen vermutlich schon leer gefegt.

»Ich fahre dich.«

Auf dem Sozius seiner Vespa, mit einem albernen Helm und dem Fahrtwind im Gesicht, umarme ich ihn an diesem Abend dann doch noch. Obwohl es kühler geworden ist, würde man es im Volksmund eine laue Sommernacht nennen. Wir brausen über leere Straßen, vorbei an geschlossenen Cafés und festgebundenen Biergartengarnituren. Meine Arme sind um seinen Körper gelegt, was in einer solchen Situation einfach erforderlich ist, wenn man nicht in der nächsten Kurve vom Sitz geschleudert werden will. Trotzdem fühlt es sich auch einfach gut an. Ein bisschen nach Abenteuer. Ein bisschen verboten, ohne aber wirklich verboten zu sein. Ich betrüge niemanden, er betrügt niemanden. Aber ein ganz kleines bisschen fühlt es sich so an, vor allem wenn sich meine Arme beim Beschleunigen fester um ihn schlingen, mein Körper beim Abbremsen an seinen gepresst wird und wir uns in den Kurven gemeinsam bewegen müssen. Es fühlt sich gut an.

Er macht den Motor ein paar Meter vor meiner Haustür aus und lässt die Vespa im Leerlauf ausrollen. So verhindert er es, die ganze Straße zu wecken.

Gerne würde ich etwas sagen, was dem Augenblick angemessen erscheint – aber das Wissen darum, wie meine Frisur nach dem Abnehmen des Helmes jetzt aussieht, hindert mich daran.

Er sieht mich an und lächelt. Wir flüstern, obwohl unsere Stimmen wohl kaum jemanden wecken würden.

»Danke für das Essen.«

»Danke für das Bier.«

Wir lächeln wie Teenager nach dem ersten Date, dabei wissen wir beide, dass es keines war.

»Wir sehen uns am Freitag.«

»Ja. Gute Nacht.«

Ich beuge mich schnell vor und drücke ihm einen Kuss auf die Wange, und bevor er reagieren kann, drehe ich mich weg und laufe zu meiner Haustür.

»Layla.«

Ich bleibe stehen. Er flüstert noch immer, aber in der Stille der Nacht höre ich ihn nur zu gut, langsam drehe ich mich wieder zu ihm.

»Ich habe bisher immer nur für Helen geschrieben.«

Etwas in seinem Gesicht verändert sich bei dieser Erinnerung. Und mir versetzt es einen kleinen Stich, auch wenn ich nicht weiß warum. Helen? Heißt so seine Freundin? Will er es deswegen nicht veröffentlichen lassen? Ist es zu privat? Ich nicke, auch wenn ich nicht verstanden habe.

»Oliver hat gesagt, es sind nur Urlaubsfotos.«

Während ich das sage, zieht sich mein Hals zusammen, aber Tristan nickt und schenkt mir ein kurzes Lächeln. Dann rollt er die Straße entlang. Als er weit genug weg ist, lässt er den Motor an. Ich sehe an dem Haus hoch zu unserem Schlafzimmerfenster, hinter dem Oliver schon im Bett liegen und schlafen wird. Er wird nicht fragen, wo ich war oder wieso ich so spät nach Hause komme. Er wird davon ausgehen, dass ich arbeiten war, nicht mehr und nicht weniger. Aber die Vorstellung, mich gleich neben ihn zu legen, fühlt sich nicht gut an.