Epilog

Ich stehe mit nichts weiter als einer Reisetasche, einem großen Rucksack und meiner Kamera am Flughafen. Ich stehe einfach da und bestaune das Kunstwerk vor mir: die berühmte Baumstreben-Konstruktion, deren stählerne Deckenstützen tatsächlich wie Bäume aussehen, deren Kronen das Dach der Halle des Terminal 1 tragen.

Gleich werde ich Stuttgart verlassen und die Welt entdecken. Das Flugticket in meiner Hand fühlt sich unendlich schwer an, und ich hoffe, dass es leichter werden wird, sobald ich erst mal im Flieger sitze. Ich lasse viel zurück, aber nur so kann ich mir sicher sein, auch wirklich wiederzukommen.

Mein iPod spielt die Songs in wahlloser Reihenfolge ab, und so überrascht mich auf einmal ein wunderschönes Lied von Thomas. Er hat es damals auf seinem Konzert in Bregenz gespielt, und jetzt ist es ein wunderschöner Abschiedsgruß, perfekt für mich.

Flughafenszene ganz ohne Tränen,

kein Grund zum Weinen, denn du bist nicht hier.

Meine sentimentale Gefühlslage,

doch kein Grund zum Weinen, denn du bist nicht hier.

Ja, Tristan ist nicht hier. Er hat seine Abschiedsworte auf einen Zettel geschrieben, und diesen Zettel halte ich jetzt fest an mich gedrückt, aus Angst, seine Zeilen zu verlieren. Eigentlich könnte ich wütend sein, weil er sich einfach so aus dem Staub gemacht hat, aber ich bin es nicht. Ich wusste es, und ich kann es ihm nicht einmal verübeln. Trotzdem fühle ich mich so, als würde ein Stück von mir hierbleiben, bei ihm.

Ich trage keinen Groll in mir.

Ich hab dich schon längst freigesprochen.

Danke für all die schönen Tage.

Danke für deine kostbare Zeit.

Schnell nehme ich die Kopfhörer von meinen Ohren, noch ein Wort, und ich fange an zu heulen. Alleine und in aller Öffentlichkeit.

»Layla!«

Ich zucke fast zusammen, als ich die schrille Stimme in der Flughafenhalle höre. Überrascht drehe ich mich um und erkenne Beccie, wie sie Menschen in der besten Manier eines Quarterbacks beim American Football aus dem Weg schubst und dann vor mir zum Stehen kommt.

»Bist du eigentlich total bescheuert? Abhauen, ohne dich zu verabschieden, ist so was von scheiße!«

Dann zieht sie mich in eine feste und ehrliche Umarmung, und ich will am liebsten weinen, meine Pläne in den Wind schießen und mit ihr zum Frühstück in unser Lieblingscafé gehen.

»Nicht weinen, Layla! Alles in Ordnung.«

Sie kennt mich zu gut, und plötzlich kommen mir meine Träume gar nicht mehr so reizvoll vor. Vielleicht übertreibe ich ja. Vielleicht sollte ich wirklich bleiben. Vielleicht ist alles endlich in Ordnung, und ich ruiniere es, weil ich mir einbilde, mir auf dieser Weltreise selbst etwas beweisen zu müssen. Vielleicht war die spontane Idee gestern Nacht einfach nur dämlich. Da fällt mir ein …

»Woher weißt du eigentlich, dass ich hier bin?«

»Tristan hat mir einen Tipp gegeben. Aber jetzt hör mal: Du rufst an, sobald du gelandet bist, verstanden? Und dann will ich alles hören. Alles!«

»Mach ich.«

»Und du musst mir versprechen, auf dich aufzupassen.«

Damit ich nicht sofort anfange zu weinen, nicke ich nur, denn meine Kehle schnürt sich verdächtig zusammen. Ich kenne Beccie schon so lange, und wie es sich anfühlen wird, ein halbes Jahr von ihr getrennt zu sein, will ich mir plötzlich gar nicht mehr vorstellen.

»Und wenn du wieder da bist, dann lassen wir es richtig krachen und schauen uns deine ganzen schönen Fotos an.«

Das war zu viel. Wir wollen nicht weinen, aber wir tun es trotzdem, und zwar wie die Schlosshunde, aber wir lachen auch dabei, weil es irgendwie so albern ist. Ich bin ihr unendlich dankbar, dass sie jetzt hier ist. Abschied tut manchmal doch gut. Und so sehe ich an ihr vorbei und hoffe, vielleicht doch noch ein anderes vertrautes Gesicht zu sehen. Sie drückt meine Hand.

»Er wird nicht kommen. Er hat gesagt, er kann das nicht.«

Ich weiß, und ich weiß auch, dass ich, wenn er jetzt hier wäre, nicht in dieses Flugzeug steigen würde. Aber obwohl ich wirklich Angst habe, weiß ich auch, es muss sein. Jetzt und nicht irgendwann, wenn ich alt und grau bin. Ich will meine Träume in Erfüllung gehen sehen. Und wenn ich richtig viel Glück habe, dann werde ich auch Tristan in knapp sechs Monaten wiedersehen. Und wenn ich noch viel, viel mehr Glück habe, dann ist es dann auch genau zur richtigen Zeit.

Ich drücke Beccie noch einmal fest an mich.

»Pass auf dich auf.«

»Du auf dich auch.«

Sie nickt und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Dabei zieht sie dicke schwarze Streifen über ihre Wangen, die von der zerfließenden Mascara herrühren. Es erinnert mich an eine klassische Kriegsbemalung, und ich glaube, es ist eine sehr gute Idee, mein privates Foto-Reisetagebuch mit genau diesem wunderschönen vertrauten Gesicht zu beginnen. Sie lächelt tapfer in die Kamera, und ich weiß, egal wohin ich gehe, ich werde niemals ganz alleine sein.

Beccie winkt mir zum Abschied zu, während ich durch die Tür zur Welt trete und dabei meinen ganzen Mut zusammen mit meiner Kamera mitnehme. So langsam begreife ich, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich etwas tue, womit niemand – vor allem nicht ich! – gerechnet hätte. Ich erfülle mir meinen Traum. Einfach so. Ob ich Tristan wiedersehen werde? Ich weiß es nicht. In einem halben Jahr kann so viel passieren. Was, wenn er sich verliebt? Was, wenn ich mich verliebe? Wo stehen wir jetzt? Und wo werden wir stehen, wenn ich wieder nach Hause komme? Ich weiß es nicht, und ich weiß nicht, was mich in den nächsten Monaten erwartet. Ich weiß nicht, was mit mir passieren wird – aber ich spüre diese große Aufregung in meinem Inneren, während ich mit einer netten Frau im Flugzeug die Plätze tausche, damit ich am Fenster sitzen kann.

Wir fahren über das Rollfeld, und ich ziehe einen dicken Briefumschlag im DIN-A4-Format aus meinem Rucksack. Er lag heute Morgen in meinem Briefkasten, ohne Absender. Ich öffne den mysteriösen Umschlag, ziehe ein hochwertiges Kulturmagazin heraus und lasse das Gewicht in meiner Hand wirken. Was soll ich damit? Und wer schickt mir so etwas? Das Cover zeigt ein vertrautes Gesicht, und auch das Foto kommt mir sofort mehr als bekannt vor. Thomas! Auf der Bühne in Bregenz. Ich blättere bis zu dem mit einem Post-it markierten Artikel über ihn, und sofort schlägt mein Herz wie wild gegen meine Brust, denn die Fotos in dem Artikel – sie sind allesamt von mir. Es sind meine Konzertfotos von Thomas Pegram, der in dem Magazin als aufgehender Stern am Indie-Musikhimmel gefeiert wird. Zu Recht. Das Lächeln auf meinem Gesicht wird größer und breiter, je länger ich die Fotos betrachte. Wenn man bedenkt, unter welchen Umständen diese Fotos entstanden sind … Ich freue mich. Sehr. Nein, ehrlich gesagt ist in mir gerade eine kleine Konfetti-Kanone abgefeuert worden, und ich platze gleich vor Stolz und Glück.

Die nette Frau neben mir wirft einen neugierigen Blick auf das Magazin, und so reiche ich es ihr.

»Thomas Pegram, ein aufgehender Stern am Indie-Musikhimmel.«

»Ah. Ja, kenne ich. Hat er endlich ein eigenes Album draußen?«

»Na, hoffentlich bald.«

Die junge Frau studiert weiterhin meine Fotos von Thomas.

»Hübscher Kerl.«

»Und ein großartiger Sänger.«

»Und wirklich fotogen. Das sind tolle Fotos. Man hat fast das Gefühl, auf dem Konzert dabei gewesen zu sein.«

Jetzt! Los, Layla, sag es endlich!

»Die Fotos sind von mir.«

Da! Es ist raus. Ich stehe dazu. Ich stehe zu dem, was ich tue, was ich liebe und worin ich gut bin.

»Wirklich?«

»Ja.«

»Glückwunsch.«

»Danke.«

Und während sie erneut die Bilder betrachtet und dann den Artikel liest, ziehe ich einen Brief aus meiner Jackentasche. Ich kann ihn schon so gut wie auswendig, aber ich werde einfach nicht müde, ihn immer und immer wieder zu lesen. Tristans Handschrift ist geschwungen, groß und klar. Ich streiche das Papier glatt und lese den Abschiedsbrief ein weiteres Mal.

Liebe Layla,

erinnerst du dich noch an die Frage, die du mir gestellt hast? Ob ich wüsste, wie unsere Geschichte ausgeht? Wie mir scheint, wissen wir es noch immer nicht. Aber ich würde alles jederzeit wieder genau so tun. Es gibt noch so viel zu sagen, aber jetzt läuft mir dafür die Zeit davon. Ich habe dir einmal ganz zu Beginn gesagt: Wenn du nicht mehr kannst oder möchtest, werde ich gehen und dich in Ruhe lassen. Ich werde alles mitnehmen, was du möchtest, und dir lassen, was du brauchst.

Ich will dir in diesem Brief nur sagen, dass du mir viele Lieblingsmomente geschenkt hast. Ich werde dich jetzt also loslassen. Auch wenn du mir schrecklich fehlen wirst, weiß ich, dass ich es tun muss …

Die Zeit mit dir hat mir vieles klarer gemacht. Ich habe für eine kleine, unendlich schöne Weile die Welt durch dich und deine Augen sehen dürfen. Wenn du wüsstest, wie viel mir das bedeutet, würdest du dich wundern. Aber so wie die Sternschnuppen werde auch ich verschwinden und nur dann wieder wie wild den Himmel stürmen, wenn du es dir wünschst.

Vielleicht wirst auch du dich immer daran erinnern:

»Heute Nacht gehört der Himmel uns.«

Tristan

PS: Ich bin nicht besonders gut im Verabschieden. Hoffentlich verzeihst du mir.

Ich bin glücklich. Aber nur, weil ich weiß, dass ich ihn wiedersehen werde. Das spüre ich ganz tief in meinem Inneren. Wir werden uns wiedersehen. Wenn wir beide so weit sind, wird er mir einen weiteren Lieblingsmoment schenken. Und wenn ich schon vorher einen brauche, weiß ich, dass er um die halbe Welt fliegen wird, um ihn mir zu bringen.

Alles hat sich in den vergangenen Wochen so sehr verändert. Menschen sind aus meinem Leben verschwunden, die ich für einen festen Bestandteil darin gehalten habe, und neue Gesichter sind plötzlich so unverzichtbar geworden – und ich? Ja, auch ich habe mich verändert. Ich habe den Mut gefunden, endlich das zu tun, was ich schon immer tun wollte: auf Weltreise gehen. Und sosehr ich mir im Moment wünsche, Tristan säße an meiner Seite in diesem Flugzeug, so weiß ich doch ganz genau, es wäre nicht richtig. Er hat mir die Flügel geschenkt, um alleine fliegen zu können, und irgendwo da draußen wartet gerade ein kleiner Lieblingsmoment sehnsüchtig darauf, von mir fotografiert zu werden.

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht denke ich an unsere gemeinsame Nacht und dann an unsere erste, damals in den Weinbergen. Als Tristan für mich gesungen hat. Ich erinnere mich noch genau daran, und auf einmal will mir der Song nicht mehr aus dem Kopf gehen. Es ist fast so, als wäre dieses Lied zum Soundtrack meines Lebens geworden. Ganz leise nur summe ich die Melodie vor mich hin, während der Flieger vom Boden abhebt und mich in mein neues Leben trägt.

Zieh die Notbremse,

und steig aus.

Tu’s für dich, nur für dich.

Es steckt mehr in dir, als du denkst.

Mach jeden Moment

zu einem Lieblingsmoment.

Ende