18. Kapitel

»Maria Garcia wurde wie eine Sklavin von Mölich in der Wohnung gehalten. Und das monatelang.«

Krüger lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück, als müsse er diese ungeheuerliche Information erst mal sacken lassen. »Leider ein Schicksal vieler Frauen, die illegal in Deutschland leben«, fügte er hinzu.

Ich zog an meiner Camel und nickte. Krüger hielt ein paar Bögen Papier in der Hand: die Aussagen der Brasilianerin. Es war Sonntag früh, kurz vor halb vier.

»Hat sie auch etwas darüber sagen können, wie ihre kleine Tochter umkam?«

»Nach dem, was Sie uns erzählt haben und was Maria Garcia wusste, muss es so abgelaufen sein: Ratnik hatte im April versucht, Mölich zu erpressen, um Papiere zu bekommen.«

»Das hat Mölich gesagt.«

»Es passt ins Bild - jedenfalls, wenn Ratnik so naiv und weltfremd war, wie ich ihn mir vorstelle. Polizisten haben auch nicht so einfach die Möglichkeit, gefälschte Pässe zu besorgen.«

»Ratnik muss vollkommen davon überzeugt gewesen sein, dass das funktioniert. Er hat allen erzählt, dass er auswandern würde. Und als er dann verschwunden war, haben alle gedacht, es hätte geklappt.«

»Dabei hat Mölich genau darin seine Chance erkannt. Ihm war sofort klar, dass er erstens mit Ratnik abrechnen und zweitens Maria zurückbekommen konnte. Nachdem er Ratnik erledigt hatte, ist er rauf zur Hütte gefahren, wo er sich Maria und das Kind geschnappt hat. Niemand hat die drei vermisst.«

»Was ist dann passiert?«

»Nach Maria Garcias Aussage war es so: Sie und das Kind waren in dem Transporter, den sich Mölich übrigens von seinem alten Kumpel Dückrath geliehen hat. Irgendwann ist Maria die Flucht gelungen. Sie ist über den Parkplatz geirrt, und Mölich bog einfach rechts in die Einbahnstraße ab, um sie möglichst schnell wieder ein-zufangen. Er hatte keine Zeit, um den Block zu fahren. In der Zwischenzeit muss das Kind weggelaufen sein. Und es geriet ihm am Ende der Potsdamer Straße genau vor den Kühler. Maria Garcia war so schockiert, dass sie sich sofort wieder einfangen ließ. Und damit war sie in Mölichs Gewalt. Genau wie damals, als sie nach Deutschland gekommen war und völlig verzweifelt eine Möglichkeit suchte, von Mölich wegzukommen.«     

»Woher stammt Maria Garcia denn?«

»Wie sie selbst sagt, aus den Slums von Sao Paulo.«

Ich dachte eine Weile nach »Wissen Sie, was mich wundert? Warum ist sie erst aus ihrem Versteck gekommen, als ich Mölich schon überwältigt hatte? Ich hätte ihre Hilfe schon viel früher gebrauchen können.«

Krüger beugte sich wieder nach vorn und zuckte mit den Schultern. »Soweit ich das verstanden habe, konnte sie nicht einschätzen, wer Sie waren. Als Sie in die Wohnung eindrangen, hatte sie große Angst. Dann bemerkte sie, dass jemand ihr Gefängnis aufgeschlossen hatte. Sie schlich sich zur Tür und dachte erst, Sie seien ein Komplize von Mölich.« Er blätterte in seinen Unterlagen. »Wenn es stimmt, was sie sagt«, fuhr er fort, »hat Mölich hin und wieder in seiner Wohnung kleinere oder größere Orgien gefeiert - mit verschiedenen Mädchen und verschiedenen seiner Bekannten. Wir gehen dem noch auf den Grund, aber die Dückraths waren wohl auch dabei. Wir haben sie bereits festgenommen. Jedenfalls dachte Maria Garcia, dass so eine Sache wieder bevorstand oder dass jemand gekommen war, um mit Mölich abzurechnen, und es deswegen Streit gegeben hätte.«

»Jetzt wird mir klar, warum die Dückraths Mölich geholfen haben, alles unter der Decke zu halten, als ich mit der Ermittlung anfing. Der junge Dückrath hat mich verfolgt, er hat die Hütte angezündet. Am Ende haben die beiden auf uns geschossen und Jutta getroffen.« Ich hatte plötzlich das Gefühl, mir käme irgendetwas Saures die Speiseröhre hoch. »Und ich habe die ganze Zeit sämtliche Ergebnisse an Mölich weitergegeben. Ich dachte, wenn ich ihn überzeugen kann, dass es in dem Fall weitere Spuren gibt, dann würde er mich endlich an die Akten ranlassen. Dabei habe ich ihm die Möglichkeit gegeben, mich zu kontrollieren …«

»Die Dückraths hatten eine kleine Abmachung mit Mölich«, sagte Krüger. »Sie betrieben einen Gelegenheitsfrauenhandel. Soweit wir wissen, belieferten sie ab und zu Bordelle im Großraum Düsseldorf. Mölich wusste davon und deckte sie, so gut er konnte. Gegen Bezahlung natürlich.«

Ich drückte die Zigarette aus. »Mir ist immer noch nicht klar, warum Maria so spät hereinkam.«

»Erst als die Rede darauf kam, dass Mölich Ratnik getötet hatte, verstand sie.«

»Wieso? Hat sie das nicht gewusst?«

»Nein. Offenbar hat Mölich es ihr gegenüber so dargestellt, dass Ratnik sie verraten und verkauft habe. Im wörtlichen Sinne.«

Das Telefon klingelte. Krüger nahm den Hörer ab, meldete sich und sagte kurz: »Ja … verstanden … alles klar.« Dann legte er auf.

»Mölich ist tot«, sagte er.

Ich nickte. Krüger hatte den Blick auf die Schreibtischplatte geheftet und schüttelte fassungslos den Kopf.

»Was passiert jetzt mit der Frau?«

»Ich weiß es nicht. Anklage, Ausweisung nach dem Prozess … keine Ahnung.«

»Wie alt ist sie eigentlich?«

»Angeblich achtundzwanzig. Wir haben noch keine Kopie der Papiere bekommen. Falls das überhaupt jemals klappt.«

Krüger starrte immer noch vor sich hin. Ich konnte ihn verstehen. Man erfuhr nicht alle Tage, dass man einen Verbrecher als Kollegen hatte.

Ich stand auf, um zu gehen. Krüger sah es und schien aus einem Traum zu erwachen.

»Mölich war übrigens der Vater des kleinen Mädchens. Schade, dass er das nicht mehr erfahren hat.«

»Hat er«, sagte ich. »Ich habe es ihm gesagt.«

»Aber Sie wussten es doch gar nicht.«

»Irgendwie doch. Als mir die Zusammenhänge klar wurden.«

Ich nahm den Zeitungsausschnitt aus meiner Tasche und sah mir das Foto des Kindes noch mal an.

»Wie hieß es eigentlich?«

»Sie nannten es Maria. Wie seine Mutter.«

Als ich zu Hause ankam, stand immer noch Juttas Sportwagen vor meiner Tür.

Ich würde nicht schlafen können. Wachsein wollte ich aber nicht. Ich ging in meine Wohnung und fand noch einen Restbestand Kölsch. Vier Flaschen in einem ansonsten leer getrunkenen Kasten. Ich packte drei davon ins Eisfach und machte mich über die erste Flasche her. Sie war lauwarm, aber es war mir egal.

Morgen würde ich einen Haufen Geld von Frau Weitershagen bekommen. Aber was sollte ich damit anfangen, wenn Jutta tot war? Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Ich würde keinen einzigen Fall mehr lösen können, ich würde überhaupt nicht mehr arbeiten. Ich würde keine Miete mehr bezahlen, in der Gosse landen und dann war es nur noch eine Frage der Zeit…

Sogar wenn Jutta mir ihr ganzes Geld vererben würde, was sollte ich damit tun? Rumsitzen, in die Gegend starren und warten, dass das Leben zu Ende ging?

Bald waren die Flaschen leer. Ich musste eingeschlafen sein, als das Telefon klingelte. Ich stand auf, unterdrückte meine Benommenheit und ging hinüber ins Büro. Es war die Ärztin aus dem Krankenhaus.

»Ihre Tante ist aus der Intensivstation entlassen«, sagte sie. »Sie können auch mit ihr sprechen, wenn Sie wollen.«

»Jetzt gleich?«, rief ich, plötzlich hellwach. »Können Sie sie ans Telefon holen?«

»Sie müssen schon selbst kommen. Aber ich soll Ihnen schöne Grüße ausrichten.«

Ich legte auf und bemerkte erst jetzt, dass das Zimmer in helles Tageslicht getaucht war.

Auf dem Schreibtisch in meinem Büro lag Juttas Autoschlüssel. Ich nahm ihn und verließ die Wohnung. Auf dem Weg zur Haustür fielen mir die Zeitungen auf, die im Flur herumlagen. Ich suchte in dem Durcheinander nach meinem Exemplar der WZ, und als ich hinaus in die kalte Herbstluft trat, war ich stocknüchtern.

Ich stieg in den Z4 und ließ den Motor an. Als ich losfuhr, sah ich zwischen den Häusern ein Stückchen Himmel. Zwischen den Wolken war ein kleines Loch entstanden. Es strahlte in hellem, milchigem Blau.

An der ersten roten Ampel nahm ich die Zeitung vom Beifahrersitz und suchte nach den Stellenanzeigen. Es waren nicht besonders viele, und ich redete mir ein, dass es daran lag, dass heute Montag war. Am Mittwoch und am Samstag würde das viel besser aussehen.

Die Ampel schaltete auf Grün. Als ich anfuhr, schwor ich mir, mich auf jede Stellenanzeige zu bewerben.

Ich war zu allem bereit.