5. Kapitel

Anderthalb Stunden später hatte ich mir im Dellbrücker McDonald's einen BigMac mit Fritten nebst einer Cola reingezogen und eine gute Wegstrecke zurückgelegt.

Ich stand auf der Kölner Straße in Bergneustadt, der Durchgangsroute zwischen dem Oberbergischen Land und Troisdorf. Neben mir auf dem Beifahrersitz lag die Karte. Man konnte im Atlas gut erkennen, dass die Straße die Agger entlangführte. Doch von dem bergischen Flüsschen war in natura nichts zu erkennen. Alles war mit einem schier endlosen Band von Geschäften, Betrieben, Mietshäusern und Vorstadtpizzerien zugebaut.

Die Hausnummer, die auf dem Brief stand, bezeichnete ein heruntergekommenes Firmengelände. Aus der gepflasterten Zufahrt wuchs das Unkraut, und auf einem grauen Rolltor wucherten Rostflecken. Hinten ragte ein backsteinroter Schornstein in den nachmittäglichen Novemberhimmel. An der Fassade des alten Verwaltungsgebäudes war ein riesiges Schild angebracht: »ZU VERKAUFEN« stand da in recht frisch wirkender blauer Schrift auf weißem Grund. Darunter prangte eine Telefonnummer.

Ich blickte eine Weile auf die Szenerie, während hinter mir der Verkehr durch das Aggertal donnerte. Das Beste war, einen kleinen Rundgang zu machen.

Weiter unten gelangte man auf einen kleinen Hinterhof, auf dem ein Haufen alter Reifen vor sich hin gammelte. Ein Baum hatte sich aus dem Asphalt gekämpft, und auf der ehemals weißen Wand daneben breitete sich eine grünliche Fläche aus. Die Scheiben waren blind, einige eingeschlagen.

Ich ging zurück zur Straße und tippte die Telefonnummer auf dem Schild in mein Handy.

Es klingelte zweimal, dann meldete sich eine Männerstimme. Es klang, als hätte ich den Mann gestört.

Merkwürdig. Ich drückte auf den roten Knopf und lief zurück auf den Hof. Einen Moment überlegte ich, ob ich mich geirrt hatte, dann drückte ich die Wiederholtaste.

Ich hatte Recht gehabt. Irgendwo in dieser verlassenen Industrienanlage jodelte ein Telefon. Und es hörte genau in dem Augenblick auf, als sich der Mann meldete.

»Ja«, kam es ungehalten.

»Rott, mein Name«, sagte ich und versuchte, möglichst jovial zu klingen. »Ich grüße Sie. Bin ich da richtig für den Verkauf des Industriegeländes in Bergneustadt, Kölner Straße?«

»Sind Sie.«

»Schön - mir hat jemand, der an dem Grundstück vorbeikam, von dem Verkauf erzählt. Und er hat mir die Nummer aufgeschrieben …«

Während ich sprach, hastete ich an der Mauer entlang und suchte einen Eingang. Es gab nichts als diese Rolltore. Die einzige Tür, die ich entdecken konnte, lag hinter dem Baum, der aus dem Teer gewachsen war. Da war schon lange keiner mehr durchgegangen.

»Könnten Sie mir sagen, wann man das Anwesen einmal besichtigen kann? Wissen Sie, es ist sehr eilig, denn ich bin nur kurz im Bergischen. Am liebsten wäre mir, wenn wir heute noch …«

Ich lief weiter, und endlich fand ich hinter einem verrosteten Windfang aus Metall eine weitere Tür. Ich drückte die dreckige Klinke hinunter, sie war nicht verschlossen.

»Heute geht's nicht«, sagte der Mann, dann war einen Moment Stille in der Leitung. Ich war mittlerweile in einen muffig riechenden Flur mit zerborstenen Bodenfliesen gelangt. Hinter milchigem Glas sah ich Licht. Ich stoppte und blieb hinter der Tür stehen.

»Ach, ich glaube, ich kann mich auch selbst ein bisschen umsehen. Ich bin nämlich ganz in der Nähe.«

»Was? Ich hab doch gesagt…«

»Sie glauben gar nicht, wie nahe ich dem Gelände bin. Ehrlich gesagt habe ich es gerade betreten. Sind Sie vielleicht auch gerade da?«

»Verdammt…«

Ich drückte den roten Knopf und öffnete die Tür. Sie führte in eine Halle, die an eine alte Kfz-Werkstatt erinnerte. Ich sah den Typen sofort. Er mich aber nicht. Er hatte mir den Rücken zugewandt und hielt sein Handy ans Ohr. »Hallo?«, rief er immer wieder. »Hallo?«

Ich ließ ihn noch eine Weile mit dem Telefon spielen und sah mich um. In der Halle stand ein Kleinbus - so einer, mit denen Kegelclubs Ausflüge unternehmen. Auf der anderen Seite war ein Teil des riesigen Raumes mit Neonlampen beleuchtet. Darunter saßen etwa zwei Dutzend Leute gebückt auf Bierbänken und an Biertischen. Es waren Männer und Frauen; sie schienen mit irgendeiner Arbeit beschäftigt zu sein. Sie hatten mich entdeckt und starrten mich ängstlich an, während der Mann auf der anderen Seite immer noch mit dem Handy kämpfte.

Er drückte nervös auf seinem Telefon herum. Wahrscheinlich wollte er feststellen, ob das Ding meine Nummer gespeichert hatte. Zwischendurch sah er den Leuten an den Tischen. Offenbar passte ihm irgendwas nicht.

»Glotzt nicht so dämlich!«, brüllte er. »Macht weiter. Hier gibt's nichts zu sehen.«

Plötzlich drehte er sich um und blickte in meine Richtung - und wenn nun einer dämlich glotzte, dann war er es.

»Guten Tag«, sagte ich. »Wir haben gerade telefoniert. Ich glaube, Sie haben sich noch nicht vorgestellt.«

Sofort brüllte er weiter. Es wirkte eher belustigend, denn der Mann ging mir gerade mal bis zum Kinn. Er erinnerte mich an Rumpelstilzchen.

»Was wollen Sie hier?«, schrie er. »Machen Sie, dass Sie wegkommen!«

Ich schüttelte tadelnd den Kopf. »Mal ganz langsam. Geht man so mit potenziellen Kunden um?«, fragte ich und marschierte seelenruhig auf die Leute zu, die aufgereiht dasaßen.

Sie bastelten Weihnachtsschmuck. Runde Gestecke aus Plastiktannengrün, das sie in mühsamem Gefriemel mit silbernen Girlanden durchsetzten, um es dann um eine dicke rote Kerze zu legen. Die ganze Konstruktion wanderte schließlich in eine Pappschachtel.

Andere stellten kleine Landschaften her. Auf eine lose Anordnung aus trockenen Pflanzen und farbig bemalten Steinen wurde ein Plastiknikolaus gesetzt. Ich fragte mich, aus welchem Science-Fiction-Film diese Weihnachtsszene sein sollte. Es sah aus, als habe sich Santa Claus von seinem Heim am Nordpol in die Wüste verirrt. Im dämmrigen Hintergrund stapelten sich auf der einen Seite Kisten mit Material, auf der anderen die fertigen Schachteln.

Das Zeug würde zum supergünstigen Weihnachtspreis in irgendeinen Billigmarkt wandern und dann seinen Weg als Mitbringsel bei Tante Ernas Adventskaffee machen. Wenn es im nächsten Monat erst mal zur Verschönerung der weihnachtlichen Wohnzimmer beitrug, sah ihm keiner mehr an, dass es von illegal beschäftigten Bastlern zu Hungerlöhnen zusammengefummelt worden war.

Einige der Arbeiter blickten erschrocken auf. Irgendwas passierte hinter mir. Reflexartig drehte ich mich um und bekam Rumpelstilzchen gerade noch rechtzeitig an den Armen zu fassen, bevor er Schlimmes anrichten konnte. Ich verpasste ihm ein paar in seine fette Visage. Er kippte hinten über und fiel auf den Hintern. Auf den Gesichtern der Arbeiter machte sich Belustigung breit.     

»Hau ab!«, schrie er, während er vor Wut rot anlief und sich vom dreckigen Boden aufrappelte. »Das hier geht dich überhaupt nichts an. Hau ab!«

»Mich nicht«, sagte ich ruhig, »aber vielleicht interessiert sich die Polizei dafür, was hier abgeht.«

»Dann kommst du hier nicht lebend raus«, sagte er großspurig, als er seine gut anderthalb Meter wieder in die Senkrechte gebracht hatte.

»Okay«, sagte ich und hob die Hände. »Ich gehe. Aber eigentlich bin ich nicht hier, um diese Bude zu kaufen, sondern ich hätte gerne eine Information.«

»Ich bin keine Auskunftei«, brummte der Typ und klopfte sich den Staub aus seiner Hose.

»Und wenn ich diese Information kriege«, fuhr ich fort, »dann vergesse ich vielleicht, was ich hier gesehen habe.«

»Bist du 'n Bulle?«

»So was Ähnliches. Deswegen solltest du mit deinen Drohungen ein bisschen aufpassen.«

»Verdammte Scheiße«, rief er und wischte sich über sein Gesicht. »Und ihr glotzt nicht so blöd, verdammt noch mal«, brüllte er die Arbeiter in der Ecke an. Sofort wandten sie sich ihren Basteleien zu.

»Komm mit, Mann«, sagte er. »Wir reden im Büro.«

Was Rumpelstilzchen Büro nannte, war ein weiß gefliester Raum, der aussah, als hätte man darin früher Schweine geschlachtet. In der einen Ecke stand ein zerkratzter Resopaltisch, dessen Fläche sich ein paar Stapel Papier und eine Batterie leerer Bierflaschen teilten. In der anderen waren Kartons aufgebaut. Der Turm reichte bis zur Decke. Offenbar war das hier nicht nur das Büro, sondern auch das Materiallager.

»Was ist jetzt?«, fragte Rumpelstilzchen und sah mich an.

Ich holte die Kopie des Briefes heraus, die ich bei Sondermann mitgenommen hatte. »Wer hat das hier geschrieben? Und wer steckt hinter der Firma P+A?«

Er warf einen kurzen Blick darauf und ging hinüber zu den Kartons. Ein paar davon schob er beiseite, und ein dreckiger Kühlschrank wurde sichtbar. Er holte ein Bier heraus, wühlte in der Tasche nach einem Feuerzeug, öffnete die Flasche und trank.

»Keine Ahnung«, sagte er dann.

»Alles klar«, sagte ich. »Schönen Tag noch.« Damit ging ich auf den Ausgang zu.

»He, Mann, lass den Quatsch«, rief er mir nach.

Ich drehte mich um. »Also?«

»Wer will das überhaupt wissen?«, fragte er.

Ich seufzte, griff wieder in die Tasche und förderte den ganzen Kram zutage, den mir Frau Weitershagen gegeben hatte.

Ich zeigte ihm die Zeitungsausschnitte, und da ich davon ausging, dass Rumpelstilzchen nicht gerade der schnellste Leser war, erklärte ich, worum es ging.

»Und was soll ich damit zu tun haben?«, fragte er am Ende.

»Ganz einfach. Dein Hampelmann wurde neben der Leiche gefunden.« Ich übertrieb etwas, und es zeigte die beabsichtigte Wirkung. Rumpelstilzchen wurde blass.

»Damit habe ich nichts zu tun.« Seine Stimme wurde leicht quengelnd. »Ich kenne das Mädchen gar nicht.«

»Wirklich nicht?« Ich hielt ihm das Blatt mit dem kopierten Foto unter die Nase. »Wie kannst du das sagen?«, fuhr ich fort. »Woher kommen denn diese Leute, die da draußen für dich arbeiten?«

Er machte eine abwehrende Bewegung und ging einen Schritt zurück. »Die arbeiten vollkommen freiwillig«, sagte er und wirkte beleidigt.

»Und du holst sie mit deinem Bus aus irgendwelchen Asylantenheimen, oder?«

»Na und? Ich tue denen doch nur einen Gefallen.«

»Und was zahlst du ihnen pro Stunde? Nur so zur Information, falls ich mal einen Job brauche.«

»Achtzig Cent«, sagte er.

»Ich bin überwältigt.«

»Na und? Dafür brauchen die aber auch kaum was zu tun. Sie müssen nur möglichst schnell den Kram zusammenbasteln.«

»Haben diese Leute auch die Hampelmänner gemacht?«

»Diese nicht.«

»Natürlich nicht. Du holst dir wahrscheinlich jede Woche Frischfleisch. Wer hat hier gearbeitet, als du die Hampelmänner hergestellt hast?«

»Ich weiß nicht - das ist lange her. Ich hab keinen Kontakt mehr zu diesen Arbeitern.«

Ich ging ein paar Schritte durch den Raum. Er hatte natürlich Recht. Das war alles lange her. Und Rumpelstilzchen notierte sich bestimmt nicht die Namen und Adressen seiner Bastler.

»Sag mir eins - und gnade dir Gott, du lügst mich an.«

»Was willst du wissen?«

»Hast du außer dem Bus da drin noch einen Wagen?«

»Was?«

»Sag schon - was für 'ne Kiste fährst du?«

»Einen Opel. Warum?«

»Was für einen? Welche Farbe?«

»Einen blauen. Corsa.«

»Steht er hier irgendwo? Ich meine, kannst du das beweisen?«

»Der ist bei mir zu Hause. Aber hier, schau nach, wenn du willst.«

Er holte irgendetwas aus der Tasche und hielt es mir hin. Es waren Wagenpapiere. Ich prüfte Fabrikat und Farbe. Es stimmte, was er sagte. Und sein Wagen war Baujahr '98. Ich musste grinsen, als ich Rumpelstilzchens Namen las. Er hieß Willi Ehrlich.

»Na, bei dem Namen hast du dir ja das richtige Gewerbe ausgesucht.«

»Mann«, brüllte er. »Wie oft soll ich das noch sagen? Ich zwinge doch keinen zur Arbeit. Die machen das freiwillig.«

»Und warum zahlst du ihnen nicht mehr? Warum suchst du dir nicht richtige Arbeitskräfte? Es gibt genug Arbeitslose.«

»Ich bin Geschäftsmann. Ich muss sehen, dass ich auf meine Kosten komme.« Er trank von seinem Bier.

»Weiter im Text«, sagte ich. »Hast du im April dieses Jahres ein anderes Auto besessen?«

»Warum?«

»Antworte mir einfach. Einen weißen Transporter vielleicht?«

»Nein.«

»Und was ist aus den Hampelmännern geworden? Hast du irgendeine Erklärung dafür, wie so ein Ding auf den Parkplatz nach Solingen gekommen sein kann?«

Er seufzte. »Die Sache mit den Hampelmännern war meine erste Geschäftsidee. Und die ist dumm gelaufen.«

»Geht's etwas genauer?«

»Ich hab gedacht, so ein Werbegeschenk für Kinder ist was Schönes. Ich hab dann tausend Stück machen lassen.«

»In Handarbeit.«

»Ging nicht anders. Und dann hab ich sie an Geschäfte verschickt, die ich aus dem Branchenbuch rausgesucht habe. Mit den Firmennamen war das alles ganz schön teuer.«

»Und auf dem Parkplatz lag der Hampelmann für Sondermann. Obwohl der doch an das Geschäft geschickt worden war.«

»Es sind ja für jedes Geschäft mehrere gemacht worden. Das war mit dem Druck günstiger. Und ich hatte mir ausgerechnet, dass vielleicht doch ein paar sofort anbeißen. Dann hätte ich ja direkt nachliefern müssen.«

»Wie viele pro Geschäft?«

»Hundert.«

»Das heißt, du hast es nur mit zehn Geschäften probiert? Wie viele haben denn da angebissen? Lass mich raten. Gar keiner.«

Er nickte.

»Was ist mit den Restbeständen passiert?«

Er hob die Schultern. »Weggeschmissen.«

»In den Müll?«

»Ja.« Er trank noch mal kräftig an seinem Bier. Dann war die Flasche leer, und er stellte sie zu den anderen auf den Tisch.

»Und es gibt keinen einzigen mehr?«

»Nein.«

»Die Dinger sind also hier zusammengebaut worden, dann wurde jeweils eins an die Kunden mit dem Anschreiben verschickt, und danach haben sie dieses Gelände nicht verlassen?«

»Doch, als ich sie weggefahren habe.« Er stieß laut auf.

»Zu einer Müllkippe?«

»Klar.«

»Wohin hast du die Dinger gefahren?«

»Ich weiß es nicht mehr.«

»Du weißt es nicht mehr? Wie viele Möglichkeiten gibt's denn?«

»Keine Ahnung. Hau jetzt ab, ich weiß nichts mehr.« Er ging auf die Tür zu, aber ich war schneller und stellte mich ihm in den Weg.

»Mach den Mund auf und sag mir, wo du die Dinger hingebracht hast.«

»Ich habe da so ein Grundstück …«

»Du meinst eine illegale Müllkippe.«

»Na ja …«

»Wo ist die?«

Er schüttelte nur den Kopf.

»Hast du unseren Deal vergessen? Ich kriege Auskünfte, und dafür gehe ich nicht zur Polizei. Wo ist das Grundstück?«

»Kann ich dir nicht erklären«, sagte er ärgerlich. »Zu kompliziert, da hinzufinden.« Er rülpste wieder laut, dass es in dem gekachelten Raum nur so hallte.

»Das werde ich schon schaffen.«

»Ich muss jetzt nach den Kanaken gucken«, sagte er.

»Das trifft sich gut. Da komme ich mit. Übrigens - was sind das für Landsleute?«

»Keine Ahnung. Polen, Albaner, was weiß ich?«

Wir gingen zurück in die Halle. Als die Arbeiter Schritte hörten, wirkten sie plötzlich besonders fleißig. Dabei war ich sicher, dass während der Abwesenheit ihres Aufpassers die Disziplin deutlich nachgelassen hatte.

Ehrlich inspizierte die fertig verpackte Ware. »Das muss schneller gehen«, herrschte er sie an. »Schneller, versteht ihr? Ach - ihr blöden Idioten versteht ja überhaupt nichts.«

Ich begutachtete noch mal den Bus. Er hatte eine hellgraue Lackierung. Ich fragte mich, ob man nachts das Fahrzeug für einen weißen Lieferwagen halten konnte, aber das war wohl unwahrscheinlich. Ein Bus war ein Bus.

Ich zeigte den Männern und Frauen das Foto von dem Kind. Ich hatte den Eindruck, dass sie sofort begriffen, was ich wollte. Aber sie schüttelten nur die Köpfe. Manche Frauen begutachteten das Bild sehr genau und machten ein besorgtes Gesicht. Wahrscheinlich stellten sie sich vor, was ihren Kindern im fremden Land alles zustoßen konnte.

»Und hier ist wirklich ein solches Kind nicht gewesen?«, fragte ich Ehrlich, als wir durch den Gang nach draußen gingen. »Auch nicht, als die Herstellung dieser Hampelmänner lief?«

»Kinder arbeiten bei mir nicht«, sagte er kategorisch.

»Und es bringen auch keine Arbeiterinnen Kinder mit?«

»Das gibt nur Ärger. Die Kinder quengeln rum, haben Hunger oder so was.«

»Das klingt, als hättest du's schon mal versucht.«

»Ganz am Anfang. Aber die Kinder waren viel kleiner. Fast noch Säuglinge.«

»Gut«, sagte ich. »Wo ist das Grundstück mit der Müllkippe?«

Die Straßen wurden schmal und schmäler, an den Ortseinfahrt standen keine großen gelben Schilder mehr, sondern kleine grüne, und die Namen waren Dümlinghausen, Deitenbach und Niederrengse.

Ehrlich hatte auf eine Stelle weit östlich der Aggertalsperre getippt, die wie ein verwackeltes dickes, blaues V in der Mitte der Karte lag - eingebettet in das Grün, das Wald darstellte, und ein paar kleine rosa Ansammlungen, die Besiedlungen markierten.

Irgendwo hinter einem Dörfchen namens Lieberhausen, das laut Karte noch ein Stadtteil von Gummersbach war, aber wie eine Insel in der Landschaft schwamm, nahm ich die breite gelbe Straße Richtung Süden und gelangte auf weiten Kurven durch ein kleines Tal. An einer T-Kreuzung bog ich rechts ab.

»Danach gleich wieder links rauf«, hatte Ehrlich gesagt. »Und dann immer dem Waldweg nach. Wenn's nicht mehr weitergeht, bist du da.«     

Ich folgte seiner Beschreibung. Der Golf knirschte über Schottersteine. Ich passierte ein Schild, das die Durchfahrt nur für Fahrzeuge des Forstbetriebes erlaubte, und dann wurde ich vom Wald verschluckt. Das schwache Licht des Nachmittags hatte hier kaum eine Chance. Ich schaltete die Scheinwerfer ein. Der Lichtkegel traf auf ein paar Rabenkrähen, die erst noch auf dem Weg herumwatschelten, sich dann aber auf den nächsten Baum verzogen. Die Straße endete in einer Sackgasse vor einer Gruppe von Büschen. Ein Stück dahinter ragte eine dunkle Felswand in die Höhe.

Ich stieg aus und gab Acht, nicht gleich in die erstbeste Pfütze zu treten. Der Boden war aufgeweicht. Es roch nach herbstlicher Fäulnis und abgestandener Feuchtigkeit. Zwischen den Büschen verlief ein kleiner Pfad, der zu einem Zaun führte. Er war von einem Tor unterbrochen, das die Breite eines Pkw besaß und mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Oben hing ein rostiges Schild: »PRIVATBESITZ. BETRETEN VERBOTEN«. Der Zaun war an einigen Stellen kaputt, und ich fand eine Stelle, wo ich hindurchschlüpfen konnte.

Ich sah breite Reifenspuren, in denen zentimeterhoch das Wasser stand. Durch das feuchte Unterholz näherte ich mich der Felswand. Ich ging noch an ein paar Büschen und kleinen Bäumen vorbei, dann war ich am Ziel. Ich blickte nach oben. Der Felsen wurde von mächtigen dunklen Tannen gekrönt - Riesen, die drohend auf mich herabzublicken schienen.

Am Fuß des emporwachsenden Felsens befand sich eine kleine Lichtung. Der Boden wellte sich in kleinen Hügeln, und die Erde war weich. Das Gelände sah aus, als sei es mehrmals umgegraben worden. Ich stocherte mit der Schuhspitze ein bisschen in dem Dreck. Nach ein paar Zentimetern erschien etwas Blaues. Ein Müllsack. Ich trat ein paarmal dagegen; er war weich. Ich bückte mich und riss das Plastik auf. Holzwolle kam zum Vorschein. Ich wühlte darin. Ich fand nichts weiter, auch keine Hampelmänner. Die waren sicher in einer tieferen Schicht vergraben.

Ich erhob mich, und die Totenstille nahm mich nach und nach gefangen. Es begann dunkel zu werden; die Felswand schien näher zu rücken. Ich fröstelte.

Ich hatte mir vorgestellt, das unbekannte Kind könnte an der Müllkippe gespielt haben und auf diese Weise an den Hampelmann gekommen sein. Jetzt, wo ich hier stand, kam mir das absurd vor. Was wollte ein kleines Mädchen mitten im Wald?

Es hatte keinen Zweck. Ich würde Mölich den Hinweis auf diesen Ehrlich geben. Das Mädchen musste das Kind einer ehemaligen Arbeiterin sein. Wenn die Mutter illegal in Deutschland war, konnte das immerhin erklären, warum sie sich nach dem Tod des Kindes nicht bei der Polizei gemeldet hatte.

Ich ging langsam zurück, die weiche Erde schluckte meine Schritte. Gerade hatte ich mich durch den Zaun gequetscht, da hörte ich Motorengeräusch.

Ich lauschte. Es war kein Auto, was da durch den Wald knatterte, sondern eher ein Motorrad. Vielleicht auch eine Motorsäge. Jedenfalls entfernte sich das Geräusch nicht, und es kam auch nicht näher. Es kam nicht von dem Weg, den ich herangefahren war. Sein Ursprung war in der anderen Richtung. Vielleicht im nächsten Tal.

Rasch ging ich zurück, setzte mich in den Golf und studierte erneut die Karte. Zwei Zentimeter neben der Stelle, an der ich mich gerade befand, waren in weiten Abständen zwei rosa Kästchen eingezeichnet - zu erreichen über eine Straße, die von dem Zufahrtsweg, den ich gekommen war, abzweigte. Ich hatte die Abbiegung gesehen, sie aber nicht beachtet, weil mir Ehrlich eingeschärft hatte, immer auf diesem Weg zu bleiben.

Ich drehte den Wagen zwischen dem Unterholz und fuhr zurück. Nach der Einbiegung wurde die Straße noch etwas schmaler und führte durch einen langen Hohlweg, auf dem keine zwei Fahrzeuge aneinander vorbeikamen. Immer wieder hörte ich in regelmäßigen Abständen den Lärm. Und er wurde lauter. Ich dachte schon, die Strecke würde ins absolute Nirwana führen, da verwandelte sich der Schotterweg in eine rissige Asphaltstraße und ging genau auf ein Haus zu. Der Wald war zu Ende. Hinter dem Haus ging es weiter bergauf, hinten lag ein kleiner Bergrücken mit eingezäunten Weiden. Drei, vier einzelne Bäume reckten ihre Äste in den grauen Novemberhimmel.

Das Haus war Teil eines Anwesens. Rechts lag hinter einem Zaun ein kleiner Teich mit hölzernem Entenhaus; auf der anderen Seite erhob sich ein Betonsilo, und daneben gab es einen Schuppen mit Plastikfolie als Dach. Alte Autoreifen hinderten die Folie daran, bei starkem Wind davonzufliegen. Vor dem Schuppen stand ein Mann in blauer Monteurskluft neben einem Motorrad und gab immer wieder testweise Gas. Der blaue Dunst, der im selben Rhythmus in einzelnen Stößen aus dem Auspuff kam, wanderte langsam nach oben. Der Krawall war fürchterlich.

Gerade als ich auf den Mann zukam, startete er eine neue Testserie. Erst als ich näher kam, wurde er auf mich aufmerksam. Er kümmerte sich aber nicht um mich, sondern setzte die Knatterei fort.

»Entschuldigung«, brüllte ich. »Darf ich Sie etwas fragen?«

Ich war etwas irritiert, weil er ständig weitermachte, ohne zwischendurch irgendwas am Motor oder sonst wo zu verändern.

»Könnten Sie bitte mal einen Moment das Ding ausmachen?«

Er nickte, hörte aber trotzdem nicht auf und senkte den Kopf ein bisschen auf die eine Seite, als würde er dem Krach entnehmen wollen, was dem Motorrad fehlte.

»Klingt irgendwie ungesund«, schrie ich.

Er legte die Stirn in Falten und nickte wieder.

»Die Zündkerzen?«, fragte ich, obwohl ich keine Ahnung von so was habe.

Er zuckte mit den Schultern. Die Menschen im Bergischen Land sind wortkarg, habe ich mal gehört. Hier war ein lebender Beweis.

Ich sah ihm noch eine Weile zu, dann würgte er den Motor ab. Die Stille war eine Wohltat.

»Verdammt«, fluchte er und hob den Kopf. Sein Gesichtsausdruck wirkte erstaunt, als er mich ansah. Offenbar hatte er mich schon wieder vergessen.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe«, sagte ich.

Er reagierte mit Kopfschütteln. Erst dachte ich, es sollte eine Geste auf meine Bemerkung sein, dann wurde mir klar, dass er sich über seine Mühle ärgerte. Er trat ein paarmal auf den Starter, das Knattergeräusch verreckte jedes Mal im Echo des Waldes. Schließlich ließ er es sein. Er bockte das Gefährt auf und ging in den Schuppen. Wahrscheinlich wollte er Werkzeug holen.

»Haben Sie sich verfahren?«, rief er mir zu.

Ich schüttelte den Kopf und holte die Unterlagen aus der Tasche. Als er mit einer Kiste aus blauem Metall zurückkehrte, hielt ich ihm das Foto des Mädchens hin.

»Haben Sie dieses Kind hier in der Gegend mal gesehen?«, fragte ich.

Er streifte das Blatt mit einem kurzen Blick, stellte den Werkzeugkasten ab und öffnete ihn.

»Nein. Was ist damit?«

»Es ist umgekommen. Bei einem Verkehrsunfall. Niemand weiß, wo das Mädchen herkommt.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Könnten Sie sich das Bild genauer ansehen?«

Er blickte noch einmal missmutig auf das Blatt und schüttelte den Kopf. Er warf den Schraubenschlüssel, den er gerade hervorgeholt hatte, zurück in die Kiste und baute sich vor mir auf. »Wer sind Sie überhaupt?«

»Mein Name ist Rott, und Sie heißen …?«

»Broich.«

»Freut mich, Sie kennen zu lernen, Herr Broich. Ich bin Privatermittler und untersuche diesen Todesfall.«

»Was?«

»Am 25. April 2003 wurde in Solingen dieses Kind überfahren. Mitten in der Nacht. Niemand weiß, wer der Fahrer war, niemand weiß, wer die Eltern sind.«

»In Solingen? Und was wollen Sie dann hier?«

»Könnte es sein, dass das Mädchen von hier stammt?«

Er seufzte und sah sich das Bild erneut an. »Glaube ich nicht.«

»Haben Sie denn nichts darüber gehört? Ich meine, als es passiert ist.«

»Nein.«

»Es hat in allen Zeitungen gestanden. Es wurde im Radio und im Fernsehen darüber berichtet.«

Er machte eine wegwerfende Geste. »Ach, was da alles los ist. Kann man ja gar nicht mehr mit ansehen.«

Ohne mich weiter zu beachten, schlurfte er zurück in den Schuppen.

»Hallo?«, rief jemand hinter mir.

Ich drehte mich um. Die Stimme gehörte zu einer Frau, die unbemerkt näher gekommen war. Sie trug einen hellblauen Kittel und sah mich streng an.

»Sind Sie Frau Broich?«, fragte ich.

Sie nickte. »Und wer sind Sie?«

Ich ließ wieder mein Sprüchlein vom Privatermittler ab. Der Ehemann ließ sich nicht mehr blicken. Zum Glück kam er auch nicht auf die Idee, das Motorrad wieder anzuschmeißen.

»Zeigen Sie mir mal das Foto.«

Ich hielt ihr die Kopie hin. Sie musterte sie eingehend und schüttelte den Kopf. »Kinder gibt's viele«, sagte sie.

»Auch hier in der Nähe?«

»Klar. Aber es liegt ja alles so verstreut. Hören Sie sich mal in den Ortschaften um. Da gibt's natürlich jede Menge Familien.«

»Wer sind denn hier Ihre direkten Nachbarn?«

Sie hob die Schultern. »Eigentlich niemand. Das heißt…«

»Ja?«

»Auf der Ratnik-Hütte hat mal jemand gewohnt.«

»Ist diese Hütte in der Nähe?«

»Ziemlich. Zwei Kilometer von hier. Im Wald.«

»Was meinen Sie damit, da hat jemand gewohnt? Eine Familie?«

»Nicht so richtig.«

»Was heißt das?«

Frau Broich senkte die Stimme. »Sie ist Ausländerin.«

Ich wartete, dass die Frau noch etwas sagte, aber da kam nichts. Ich verstand, dass Ausländer hier wohl per se als so merkwürdig galten, dass sie unmöglich Teil einer Familie sein konnten.

»So«, sagte ich. »Es wohnen also Ausländer in der Hütte.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nur sie ist Ausländerin. Er nicht.«

»Wer ist er?«

»Ratnik. Der Sohn.«

Ich machte ein verständnisloses Gesicht, und sie setzte zu einer Erklärung an. »Der alte Ratnik hatte da oben eine Jagdhütte. Also ein Waldgrundstück mit einer Hütte drauf. Als er dann gestorben ist, erbte sie der Sohn.«

»Und der wohnt da immer noch?«

»Weiß ich nicht. Er ist lange nicht mehr aufgetaucht. Er geht nicht gerne unter Leute, wissen Sie. Ich weiß auch gar nicht, ob er die ganze Zeit da gewohnt hat, lassen Sie mich mal überlegen -«

»Ich hatte Sie eigentlich nach einem Kind gefragt«, unterbrach ich sie.

Sie machte ein erstauntes Gesicht. »Ach! Habe ich das noch nicht erwähnt? Da wohnte auch ein Kind.«

»Ein Kind von Ratnik und der Frau?«

»Wahrscheinlich.«

»Wann haben Sie das Kind zuletzt gesehen?«     

Sie stemmte die Hände in die Hüften und dachte nach. »Das war irgendwann im Frühjahr. Oder war's vor Weihnachten?« Sie wies auf eine Rasenfläche, auf der Wäscheleinen gespannt waren. Direkt daneben zog sich der Weg in Richtung Horizont. Genau auf die Weide mit den Bäumen zu.

»Hier. Da habe ich gestanden und Wäsche aufgehängt. Da kam die Frau mit dem Kind den Weg runter. Ich ging natürlich gleich hier rüber. Gesindel hat hier nichts verloren. Das ist Privatbesitz.«

Sie sah mich mürrisch an. Offenbar wartete sie auf einen Kommentar von mir.

»Und weiter?«

»Ich erklärte ihr dann, dass sie gefälligst dahin gehen sollte, wo sie hergekommen ist. Freundlich natürlich.«

»Und wie hat sie reagiert?«

»Stellen Sie sich vor. Die hat kein Wort Deutsch verstanden. Sie hat immer nur ›Ratnik‹ gesagt und nach hinten in Richtung Weide gezeigt. Später habe ich sie dann noch mal aus dem Wald kommen sehen. Da hat sie sich aber schon gar nicht mehr hergetraut. Recht so.«

Ich sah mir das trostlose Panorama an. »Die Hütte ist also da hinten, oder?«

Sie nickte.

»Aus welchem Land kam die Frau?«

»Woher soll ich das wissen? Sie hat ja kaum was gesagt. Sie hatte dieses Kind dabei, und das hat dann auch gleich rumgequengelt. Äußerlich sah die gar nicht wie eine Ausländerin aus. Gut - die Haut war vielleicht etwas mehr gebräunt, als man das so kennt. Aber diese jungen Frauen, die gehen ja alle auf die Sonnenbank.«

»Haben Sie mit Ratnik mal über die Frau gesprochen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Mit dem können Sie nicht sprechen. Der will immer allein sein. Als der alte Ratnik noch lebte, hatte der schon nichts als Scherereien mit seinem Sohn.«

»Was denn für Scherereien?«

»Der Jonas - so heißt der junge Ratnik -, der wollte immer für sich sein. Ist von zu Hause ausgerissen und so. Mit sechzehn ist er mal einfach von der Schule aus nach Hamburg gefahren und hat versucht, auf ein Schiff zu kommen. So ein Abenteurer. Verantwortungslos. Manche Leute sind schon mit ihren Kindern geschlagen.«

»Warum ist der junge Ratnik in die Hütte gezogen? Kann er sich keine Wohnung leisten?«

»Weiß ich nicht so genau. Jedenfalls hat sein Vater ihm nichts vererben können. Er hatte eine Kfz-Werkstatt in Gummersbach, aber die hat schon lange vor seinem Tod Pleite gemacht. Ihr Wohnhaus hatten sie auch verkauft. An die Bank. Schulden, verstehen Sie? Nur die Hütte war noch da. Und da ist dann der Jonas untergekrochen wie ein Penner. Eigentlich ist das nicht erlaubt. Man darf in solchen Waldhütten nicht wohnen. Aber alle haben ein Auge zugedrückt.«

»Kann man zu der Hütte mit dem Auto fahren?«

»Schlecht.«

»Und wie komme ich da hin?«

»Folgen Sie dem Weg am Weidezaun entlang. Nach so etwa einem Kilometer geht's nach rechts in den Wald rein und dann immer geradeaus. Irgendwann kommen Sie an eine Abzweigung, die führt runter nach Bleche, auf die andere Seite. Die dürfen Sie aber nicht nehmen. Sie müssen immer weiter. Ganz am Ende ist es dann.«

Die Beschreibung klang so ähnlich wie die zu Ehrlichs Müllkippe.

»Kann ich meinen Wagen hier stehen lassen?«

Sie wandte sich zu meinem Auto um und schien eine Weile zu prüfen, ob es da auch wirklich nicht störte. Dann erst nickte sie.

Ich marschierte drauflos wie Eichendorffs Taugenichts. Nach zwanzig Minuten hatte ich die Weiden hinter mir gelassen und den Waldrand erreicht.

Ich war an einen solchen Gewaltmarsch nicht gewöhnt, und bald bemerkte ich an meiner linken Ferse ein unangenehmes Reiben. Außerdem wurde mir schmerzlich bewusst, wie dünn meine Schuhsohlen waren. Ich spürte jedes Steinchen unter den Füßen.

Endlich erreichte ich die Abzweigung. Es konnte nicht mehr weit sein. Der Weg war sehr schmal, mit dem Auto war er nicht zu befahren. Wer am Ende dieser Strecke lebte, der wollte wirklich für sich sein.

Es ging immer steiler bergauf, über hervorstehende Wurzeln mächtiger Tannen, die man wie eine unregelmäßig gebaute Treppe erklimmen musste. Nicht nur meine untrainierten Beine, auch meine gequälte Raucherlunge machte mir zu schaffen. Ich japste nach Luft und hatte den Eindruck, als wanderten dabei die Rückstände der abertausend Zigaretten, die ich in meinem Leben inhaliert hatte, auf meine Zunge und verbreiteten einen rauchigen Geschmack. Ich schwitzte und musste anhalten, um zu verschnaufen. Ich sollte doch mehr Sport treiben. Wie Jutta immer sagte …

Ich atmete ein paarmal kräftig durch. Plötzlich wurde mir klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich sog noch einmal die Luft ein. Es roch nicht nur nach Laub und Erde. Etwas hatte sich verändert. Rauch lag in der Luft.

Brandgeruch!

Ich mobilisierte meine Reserven und stolperte weiter den Berg hinauf. Längst lief mir unter dem Hemd der Schweiß in Bächen den Rücken herunter, mein Herz schien Chachacha zu tanzen - egal.

Endlich tauchte zwischen den Tannen etwas auf, das man für eine Hütte halten konnte. Noch eine Biegung, und ich gelangte auf eine kleine Lichtung. Eine wilde Wiese, dahinter niedriger Mischwald; die Tannen lagen hinter mir. Mitten auf dem Gras stand die Hütte - oder vielmehr das, was von ihr übrig war.

Das Holzgebäude stand, die Wände und das Dach schienen intakt, aber alles rundherum war verkohlt und pechschwarz. Die Tür stand halb offen und gab den Blick in ein schwarzes Loch frei. Das Glas in den beiden Fenstern links und rechts war zerstört; dahinter erkannte ich schemenhaft ein Chaos von durcheinander geworfenem Zeug. Einen Moment lang dachte ich, von den Überresten der kleinen Behausung würde noch grauer Rauch aufsteigen. Das war aber Einbildung. Doch je näher ich kam, desto schärfer wurde der Gestank, und es kam mir so vor, als wäre auch noch eine Note dabei, die mich an Benzin erinnerte.

Täuschte ich mich, oder strahlte das verkohlte Holz noch Wärme aus?

Instinktiv drehte ich mich um. Es konnte nicht lange her sein, dass es hier gebrannt hatte. Wahrscheinlich hatte nur die Feuchtigkeit der Jahreszeit verhindert, dass die Behausung zerstört worden war. Oder derjenige, der sie angezündet hatte, war zu blöd zum Feuerlegen gewesen. Vielleicht hatte er auch zu wenig Benzin dabei gehabt.

Ob noch jemand in der Nähe war? Oder vielleicht sogar im Inneren der Hütte?

»Hallo?«, rief ich.

Niemand antwortete. Die Stille ringsum war unheimlich.

Ich zuckte zusammen, als irgendwo Vögel krächzten und Geflatter die Luft erfüllte.

Vorsichtig umrundete ich den geschwärzten Holzbau - immer darauf gefasst, dass mir plötzlich jemand entgegensprang. Auf der Rückseite gab es weitere Fenster, auch die waren kaputt. Ich beschloss, mir das Innere später vorzunehmen und mich erst einmal auf dem Grundstück umzusehen.

Ich ging die ganze Wiese ab und fand einige Dinge, die darauf schließen ließen, dass hier tatsächlich einmal eine Familie gelebt hatte. An einem einzeln stehenden knorrigen Laubbaum war eine Schaukel befestigt; daneben hatte jemand im Quadrat mit der Schmalseite Bretter in den Boden getrieben. Was dazwischen lag, war wohl mal ein Sandkasten gewesen. Ein Stück weiter gab es einen sorgsam aus Natursteinen gemauerten Grill. Unter dem Rost lag noch eine Schicht Asche.

Hinten fiel die Wiese steil ab. Der Boden dort schimmerte nass. Als ich näher kam, sah ich, dass Wasser aus dem Gras sickerte. Es suchte sich seinen Weg in das von Laubbäumen ausgefüllte Tal. Bevor es im Dunkel des Waldes verschwand, sammelte es sich in einem Becken aus Kieselsteinen und bildete dort einen winzigen Teich - so groß und so tief wie eine Badewanne. Daneben lag ein alter Plastikeimer. Er trug die Aufschrift einer berühmten Düsseldorfer Senfmarke.

Ich musste das Innere der Hütte untersuchen. Mir graute davor, was ich vielleicht finden würde. Aber mir blieb nichts anderes übrig.

Ich ging zurück zur Tür und öffnete sie ein Stück weiter. Es knarrte leise. Ich atmete noch mal tief durch und ging hinein.

Das schwache Licht, das durch die Fenster hereinkam, beleuchtete jede Menge Hausrat, den jemand wild durcheinander geschmissen hatte. Ich erkannte Reste von undefinierbaren Textilien, Reste eines umgekippten Geschirrschranks. Haufenweise Porzellan- und Glasscherben. Es gab zwei Räume im Erdgeschoss; in der Mitte des größeren gähnte ein gemauerter Kamin. In dem schmalen Flur zwischen den Zimmern führte eine steile Treppe hinauf, es war mehr ein Mittelding aus Treppe und Leiter.

Ich packte das Holz und rüttelte daran. Der unbekannte Brandstifter schien sich mehr auf die unteren Wohnräume konzentriert zu haben. Die Treppe wirkte, als sei sie in Ordnung, obwohl das Holz auch schwarz und verkohlt war.

Langsam stieg ich hinauf und gelangte in einen einzigen Raum voller Schrägen, der das gesamte Obergeschoss ausfüllte.

Ein Gesicht sah mich an; ich zuckte vor Schreck zusammen. Es war der Kopf eines Schaukelpferds, das direkt neben der Treppe stand. Die gemalten Züge des Tieres wirkten wie ein groteskes Grinsen.

Dahinter lagen ein paar Matratzen auf dem Boden, umgeben von Spielzeug. Kleine Püppchen, Bauklötze, das meiste aus Holz. Es sah aus wie selbst gemacht. Bis auf eine Ausnahme. Ich ging ein paar Schritte in den Raum hinein. Ich musste mich dabei ducken. Ich hob etwas auf, das mir bekannt vorkam: der gleiche Plastikhampelmann wie der, den der Cellist vom Rosenberg-Quartett in seinem Instrumentenkoffer hatte. Es gelang mir, in dem Dämmerlicht die Aufschrift zu lesen. Es war ebenfalls ein Exemplar aus der Sondermann-Edition.

Ich suchte nach weiteren Indizien und erkannte in einer Ecke einen Haufen Bücher. Sie waren nicht verbrannt, aber dreckig und verstaubt, und sie hatten sich mit Feuchtigkeit voll gesogen.

Ganz oben auf dem Stapel lag ein Band, der »Auf einer Blockhütte in Kanada« hieß. Ich überschlug ein paar Seiten; das Buch hatte offenbar einer dieser Aussteiger geschrieben, die es in die Wildnis zog. Ein weiterer Band hieß »Waiden oder das Leben in den Wäldern«. Der Aussteiger-Klassiker von Henry David Thoreau. Auf die erste Innenseite des Taschenbuches hatte Ratnik ungelenk seinen Namen gekritzelt. Viele Stellen waren mit Bleistift unterstrichen. Ich hielt das Buch an das winzige Dachfenster und versuchte, einige davon zu entziffern. »Das meiste von dem, was man unter dem Namen Luxus zusammenfasst, und viele der so genannten Bequemlichkeiten des Lebens sind nicht nur zu entbehren, sondern geradezu Hindernisse für den Aufstieg des Menschengeschlechts«, las ich. Oder: »Nicht die Speise, welche in den Mund eingeht, verunreinigt den Menschen, sondern die Gier, mit welcher sie verzehrt wird. Weder die Qualität noch die Quantität, sondern die Hingabe an den sinnlichen Reiz ist das Übel.«      

Ich legte das Buch auf den Boden. Gut, dachte ich. Ratnik war ein Aussteiger und hat hier mit Frau und Kind gelebt - so weit weg von der Zivilisation wie möglich. Das Kind ist tot, Ratnik und die Frau sind verschwunden und irgendjemand hat vor recht kurzer Zeit die Hütte angezündet.

Aber wer hatte das getan? Und warum?

Um Spuren zu verwischen? Um von irgendetwas abzulenken?

Hatte der Typ im braunen Opel damit etwas zu tun?

Ich sah auf die Uhr: kurz nach fünf. Ich musste machen, dass ich zum Auto zurückkam, denn ich hatte keine Lust im Dunkeln im Wald herumzustolpern.

Doch vorher sollte ich vielleicht die Polizei anrufen, dachte ich. Heute Morgen hatte mich Mölich noch ausgelacht. Was würde er für ein dummes Gesicht machen, wenn ich ihm das hier präsentierte?

Ich holte seine Nummer aus dem Wiederwahlspeicher und hörte eine Weile zu, wie sich der Rufton wiederholte. Ich ließ es klingeln, bis das Besetztzeichen kam.

Gut, dachte ich. Wird er eben morgen erfahren, dass es manchmal durchaus sinnvoll sein konnte, hartnäckig jeder Spur nachzugehen. Und wenn es ein Spielzeug war, das man an einem Ort gefunden hatte, wo öfters Flohmärkte stattfanden.

Ich machte mich vorsichtig an den Abstieg - immer bemüht, nicht von der schmalen Treppenleiter abzurutschen. Ich hatte gerade die Hälfte des Weges geschafft, als ich einen Schuss hörte.