6. Kapitel

BUMM!

Es klang wie eine ferne Kanone. Der Nachhall rollte durch den Wald, und es dauerte eine Weile, bis er sich verflüchtigt hatte.

Ich war zu Tode erschrocken. So schnell ich konnte, stieg ich die Treppe hinunter. Vor dem Ausgang blieb ich in Deckung und spähte hinaus. Auf der Wiese war nichts zu sehen. Über den Bäumen erhob sich ein erschreckter Vogelschwarm und zog über den Himmel.

Instinktiv tastete ich an die Stelle, an der ich bei manchen Einsätzen meine Pistole trug. Heute hatte ich sie jedoch nicht dabei.

BUMM!

Es klang nicht so, als würden die Schüsse auf der Lichtung abgefeuert.

Ich zögerte noch eine Weile, dann wagte ich, hinaus auf die Wiese zu rennen. Nichts hielt mich auf, und ich sprintete weiter in den Wald. Am steilen Stück mit den Tannenwurzeln kam ich fast ins Stolpern.

BUMM!

Wenn mich nicht alles täuschte, kam das aus dem nächsten Tal, in das der abzweigende Weg führte. Nach Bleche, wie Frau Broich gesagt hatte. Ich blieb stehen. Sollte ich zum Auto zurücklaufen oder herausfinden, wer da in der Gegend herumballerte?

BUMM!

Wieder ein Schuss, wieder das ferne Rollen.

Ich entschied mich, der Sache nachzugehen. Vielleicht trieb ich ja einen weiteren Zeugen auf.

Ich folgte dem Weg, der ein wenig breiter war als der, der von Broichs aus zur Hütte führte. Kurz nach der Abzweigung weitete er sich sogar so weit aus, dass man mit dem Auto darauf fahren konnte. Ich registrierte in dem nassen Schlamm vage Reifenspuren.

BUMM!

Ich legte einen Schritt zu. Es ging jetzt durch ein enges Tal, und der Weg führte um eine lang gestreckte Kurve. Als ich es endlich geschafft hatte, kam ein paar hundert Meter weiter hellerer Himmel ins Blickfeld. Wieder eine ausgedehnte Weide, und mitten darauf ein kleines Fachwerkhaus. Zwischen den Obstbäumen im Garten stand ein Mann mit einem Gewehr. Er warf irgendetwas in den Himmel, legte an, zielte, und - BUMM! Dann lief er zu der Stelle, wo das, was er abgeschossen hatte, heruntergekommen war, hob es auf und warf es in einen Pappkarton. Er griff neben sich, nahm etwas anderes, was ich nicht identifizieren konnte, warf es hoch und -BUMM!

Alles ganz harmlos, dachte ich. Da übt einer Tontaubenschießen. Vielleicht nicht gerade ein typischer Sport für das Bergische Land, aber die Leute haben hier eben so ihre Eigenarten.

Als ich näher kam, sah ich etwas Eigenartiges. Zugegeben: Ich habe keine Ahnung, wie die Scheiben aussehen, die man normalerweise für das Tontaubenschießen verwendet. Der Mann hier benutzte jedenfalls etwas, das eigentlich nicht dafür gedacht war. Etwas sehr Flaches, Silbernes. Als ich schwer atmend am Zaun ankam, sah ich, dass es CDs waren. Er hatte neben sich einen Haufen davon im Gras liegen. Lose, ohne die dazugehörige Plastikverpackung.

Der Mann sah mich und nickte freundlich. Dann nahm er wieder eine CD und warf sie nach oben. Die flache Scheibe hatte eine sehr gute Aerodynamik und flog so hoch, dass sie mit dem grauen Himmel verschmolz. Der Mann legte an, BUMM!, weiter hinten auf der Weide flog etwas herunter. Er rannte hin und hob es auf. Ich war mittlerweile fast bei ihm. Er zeigte mir grinsend die CD - mit einem Loch in der Mitte und einem am Rand.

»Sind die Dinger nicht ein bisschen zu schade dafür?«, fragte ich.

»Das ist genau das, was sie verdienen«, sagte der Mann.

Wieder ging das Spiel eine Runde weiter. CD aus dem Haufen nehmen, hochwerfen, schießen und - BUMM! - der Silberscheibe ein weiteres Loch verpassen, die CD holen und in den Karton werfen. Auf dem Karton stand mit dickem Edding »ABFALL« geschrieben.

»Treffen Sie jedes Mal?«

»Klar«, sagte der Mann. »Das macht die Übung. Und der Hass.«

»Der Hass?«

Er nickte. »Der Hass auf das, was auf diesen CDs ist. Dieser Dreck, der sich Musik nennt.«

Die nächste Runde begann. CD nehmen, hochwerfen, schießen, BUMM!, holen, wegwerfen.

Mich beschlich das ungute Gefühl, es mit einem Irren zu tun zu haben. Eine Sekunde lang fragte ich mich sogar, ob ich mich wieder in einem von meinen lebhaften Träumen befand. Die Szene war einfach absurd: ein Novembernachmittag, an dem das letzte graue Licht über die Wiesen, Weiden und Wälder des Bergischen Landes sickerte. Und mittendrin, neben einem kleinen Fachwerkhaus, schoss einer auf CDs. Und behauptete, es aus Hass zu tun. Jutta würde das mit einem einzigen Wort beschreiben: »Strange«.

Ich betrachtete den Mann genauer. Er hatte schwarze Haare und trug eine Brille mit schwarzem Rand. Ich schätzte ihn auf höchstens Anfang dreißig. Er machte auf mich den Eindruck eines überalterten Studenten.

»Wird es Ihnen nicht langsam zu dunkel dafür?«, fragte ich.

»Ich höre gleich auf«, sagte er.

Und wieder: CD nehmen, hochwerfen, schießen, BUMM!, holen, wegwerfen.

»Aber es ist schwierig, aufzuhören. Es macht süchtig. Es ist, als würde man Chips essen.«

CD nehmen, hochwerfen, schießen, BUMM!, holen, wegwerfen.

»Ich würde Sie gerne was zur Ratnik-Hütte fragen«, sagte ich und bereute es gleich wieder. Was, wenn der Irre hier etwas mit dem Brand zu tun hatte? Was, wenn ihm meine Fragen nicht gefielen? Was, wenn er noch einen Schuss in seiner Flinte hatte? Einen für mich?

»Jetzt habe ich sowieso keine Munition mehr«, erklärte er, und ich atmete innerlich auf. Er schmiss die letzte CD in den Karton. »Außerdem wird's kalt. Kommen Sie, gehen wir rein. Dort können wir uns besser unterhalten.«

»Aber ich will Ihnen keine Umstände machen.« Ich wollte dem Mann ungern in seine Behausung folgen.

»Kein Problem«, sagte er. »Kommen Sie nur.« Er packte den Karton mit den Zweiloch-CDs und stellte sie neben den Eingang des Hauses. Ich kam hinter ihm her.

»Was für CDs haben Sie da zerstört?«, fragte ich. »Wäre es nicht besser, sie zu verschenken?«

»Nein«, erklärte er kategorisch. »Vor so was muss man die Welt bewahren.«

Ich bückte mich und wühlte ein bisschen in der Kiste. »Carl Orff. Carmina Burana« las ich auf einer CD.

»Völlig überbewertet.«

Ich hatte davon keine Ahnung. »Aber das hier ist doch was Bedeutendes?«, sagte ich. Auf der CD, die ich hochhielt, stand »Bachs Kunst der Fuge«. Das »u« in »Fuge« war verschwunden, genau an dieser Stelle prangte das Loch. Von dieser klassischen Komposition hatte mir Jutta einmal in einem Anfall von kulturellem Sendungsbewusstsein vorgeschwärmt.

»Sie haben völlig Recht. Ein Meisterwerk der abendländischen Musik. Aber nicht, wenn es in hirnlosen Techno verwandelt wird.«

Ich kniff die Augen zusammen, um das Etikett genau zu lesen. »DJ Knally presents JSBACH« stand da.

»Eine der Segnungen des Bachjahres 2000«, erklärte der Mann.

Ich wühlte noch ein bisschen herum und fand Titel wie »Die Wiener Sängerknaben singen Madonna«, »Die schönsten Verdi-Chöre mit der italienischen Fußballnationalmannschaft«.

»Und was ist das hier?«, fragte ich. »Mögen Sie den nicht?«

»Was ist das?«, fragte der Mann.

»Kaihans Bockhausen«, sagte ich. Das Cover zeigte einen alten Mann mit grimmigem Gesichtsausdruck. Das Stück auf der CD hieß »Dreiecksquartett«. Der Mann hatte es mit geometrischen Formen.

»Hören Sie mir bloß mit dem Blödsinn auf.«

Wir gelangten in ein winziges Wohnzimmer, und sofort begriff ich alles. Die Wände waren von oben bis unten mit CDs voll gestellt. Mit einzelnen, mit Doppel-CDs, mit Boxen, auf denen Operntitel standen: »La Traviata«, »Madame Butterfly«, »Die Hochzeit des Figaro«. Und das nicht nur einmal: Ich zählte sechs Aufnahmen der Oper »Don Giovanni« verschiedener Labels nebeneinander. Der Name Bach nahm eine ganze Breitseite des Wohnzimmers ein.

»Wie kommen Sie an das ganze Zeug?«

»Ich bin Musikkritiker«, sagte der Mann. »Ich kriege so gut wie alles, was an Klassik-CDs auf den Markt kommt. Etwa zweihundert CDs im Monat.«

»Und was machen Sie damit? Ich meine, wenn Sie sie nicht gerade erschießen?«

»Ich schreibe Rezensionen für verschiedene Zeitschriften. Natürlich, nachdem ich mir die CDs angehört habe.«

»Interessant«, sagte ich - förmlich erschlagen von all der Musik.

»Das hier ist übrigens nur eine Handauswahl, so zum Hören«, sagte er. »Das eigentliche Archiv habe ich in der oberen Etage.

»Wie viele CDs haben Sie denn?«, fragte ich.

»Ich schätze so an die zehntausend. Übrigens, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Fischer. Tilmann Fischer.«

»Rott«, sagte ich.

»Setzen Sie sich. Sie wollten was über die Ratnik-Hütte wissen. Warum?«

Wir nahmen in zwei kleinen Sesseln Platz, die mit den CD-Regalen das gesamte Wohnzimmer einnahmen. Mein Sprüchlein kam wieder zum Einsatz. Diesmal erweiterte ich es um den Hinweis, dass die Hütte offenbar von jemandem angezündet worden war. An dieser Stelle hakte Fischer ein.

»Die Hütte ist abgebrannt?«

»Nicht ganz, aber es hatte jemand vor. Haben Sie nichts gemerkt?«

»Wie meinen Sie das?«

»Soweit ich das beurteilen kann, kann man die Hütte doch nur von Ihnen oder von Broichs aus erreichen. Oder sehe ich das falsch?«     

»Nein, das stimmt. Außer man schlägt sich durch den Wald.«

»Und Sie haben niemanden gesehen, der sich heute an Ihrem Haus vorbei der Hütte genähert hat?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe den ganzen Tag Musik gehört.« Er deutete auf eine Box, die neben einem Stereoturm auf dem Boden stand. »Mozart« war in dicken gelben Lettern darauf zu lesen. »Eine neue Aufnahme seiner großen Sinfonien. Damit haben Sie eine Weile zu tun, das kann ich Ihnen sagen. Übrigens, darf ich Ihnen was anbieten?«

»Nein danke«, sagte ich. »Das heißt, Sie haben niemanden gesehen?«

»Nein.«

»Ist Ihnen in letzter Zeit ein weißer Transporter oder ein brauner Opel mit Solinger Kennzeichen aufgefallen?«

»Auch nicht, aber ich gehe wenig aus dem Haus.«

»Was ist nun mit diesem Jonas Ratnik?

»Was soll mit ihm sein?«

»Frau Broich hat mir erzählt, dass er etwas sonderbar gewesen sein soll.«

»Was ist schon sonderbar?«, sagte Fischer und grinste. »Wir sind doch alle sonderbar, oder nicht? Ich sitze den ganzen Tag hier rum, höre eine CD, schreibe dreißig Zeilen und höre die nächste. Sie verbringen Ihre Zeit damit, irgendwelche Fälle zu lösen. Der alte Broich bastelt ewig an seinem Motorrad herum, obwohl er überhaupt keine Ahnung davon hat. Seit zwei Jahren will er das Ding flott machen und damit Ausflüge durchs Bergische Land unternehmen. Angeblich hat er das in seiner Jugend ganz oft getan. Aber es wird nichts draus, weil er das Ding einfach nicht ans Laufen kriegt.«

»Als ich dort ankam, habe ich es gesehen.«

»Da fragt man sich doch, wer der Sonderbarste von uns ist. Ich glaube, Broich hat ganz gute Chancen.«

»Ich weiß, was Sie meinen. Aber ich muss etwas über Ratnik erfahren. Zunächst mal - wie alt war er?«

»Keine Ahnung. Das habe ich ihn nicht gefragt.«

»Ungefähr.«

»So Mitte dreißig.«

»Wohnt er immer noch in der Hütte?«

»Sie haben doch gerade gesagt, sie sei abgebrannt.«

»Bis heute Morgen war sie es wahrscheinlich noch nicht.«

»Haben Ihnen die Broichs nicht erzählt, was aus ihm geworden ist?«

»Die wussten nichts.«

»Er hat seinen Traum verwirklicht.«

»Seinen Traum?«

»So, wie Broich davon träumt, auf dem alten Motorrad zu fahren, hatte auch Ratnik einen Traum.«

»Lassen Sie mich raten«, sagte ich und dachte an die Bücher, die ich in der Hütte gesehen hatte. »Er wollte nach Kanada.«

Fischer nickte. »So ist es.«

»Richtig ausgewandert? Wann?«

Fischer runzelte die Stirn. »Auf jeden Fall dieses Jahr. Im Frühling oder so.«

»Vielleicht im April?«

»Das kommt hin. Wissen Sie, wir haben uns sehr selten gesehen. Wir sind ja alle Einsiedler hier. Wir wollen im Grunde nichts miteinander zu tun haben. Ich habe mit Ratnik nur ein paarmal gesprochen. Das erste Mal, als er in die Hütte zog.«

»Wann war das?«

»Das ist schon Jahre her. Sechs bestimmt.«

»Und dann?«

»Da kam er hier am Haus mit einer Frau und einem Kind vorbei. Es war Sommer, und ich war gerade draußen. Wir haben ein paar Worte gewechselt.«

»War es dieses Kind?« Ich hielt den Zeitungsausschnitt in die Höhe. Fischer sah kaum hin.

»Keine Ahnung. Als ich es sah, war es ein Baby. Die Frau hatte es in so einem Tragegurt. Ich habe es kein zweites Mal gesehen. Die Frau auch nicht.«

»Kann es sein, dass das Kind auf der Hütte geboren wurde?«

»Möglich.«

»Wann haben Sie das letzte Mal mit Ratnik Kontakt gehabt?«

»Als er mir sagte, dass er auswandern würde. Er sagte, er hätte alles geregelt. Mit den Papieren und so.«

»Hat er was darüber gesagt, dass er die Frau und das Kind mitnehmen wollte?«

»Nein, aber davon bin ich ausgegangen. Er wird es auch getan haben.«

»Das Kind aber nicht, wie man sieht.«

Er studierte noch einmal das Blatt.

»Glauben Sie wirklich, dass es sich um dasselbe Kind handelt?«, fragte er.

»Ich bin mir ziemlich sicher.«

Er schüttelte den Kopf. »Merkwürdige Geschichte.«

»Ja«, sagte ich, »zumal ich das mit dem Auswandern nicht so richtig glauben kann.«

»Warum?«

Ich erzählte Fischer, dass ich auf der Hütte Hausrat und Bücher gesehen hatte. »Es sieht nicht so aus, als sei jemand da oben ausgezogen.«

Fischer machte ein ratloses Gesicht. »Ich weiß es auch nicht.«

Wir schwiegen eine Weile. »Kann es sein, dass Ratnik das Kind getötet hat?«, fragte ich dann.

»Was? Warum hätte er das tun sollen?«

»Vielleicht hat er für das Kind keine Papiere bekommen. Und vielleicht war er nicht bereit, auf seinen Traum vom Auswandern wegen des Kindes zu verzichten.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Ratnik war ein gewaltloser Typ. So einer von diesen Sanften. Er hat immer irgendwelche philosophischen Sprüche draufgehabt und davon geträumt, mit der Natur in Harmonie zu leben. So einer bringt doch kein Kind um. Außerdem: Wenn er es getan hätte, dann hätte er doch sicher die Leiche beseitigt.«

»Vielleicht war er gerade dazu nicht kaltblütig genug.«

»Kriegen Sie es raus«, sagte Fischer. »Sie sind der Ermittler.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das kann alles nicht sein.«

»Wie meinen Sie das?«

»Woher wissen Sie von der Auswanderung? War er hier und hat Ihnen gesagt, dass er an einem bestimmten Tag fliegt? Oder wie haben Sie davon erfahren?«

»So ähnlich war es. Ich war draußen beschäftigt.«

»Mit CD-Abschießen?«

Er lächelte. »Nein. Manchmal muss ich mich auch um die Pflanzen kümmern. Vor allem im Frühjahr. Ratnik kam den Weg herunter. Genau wie Sie heute.«

»Allein? Ohne Frau und Kind?«

»Allein. Er stellte sich an den Zaun und sagte, es habe nun endlich geklappt. Sie würden bald aufbrechen. Dann ist er wieder gegangen.«

»Das war alles? Keine Einladung zum Abschied oder so was?«

Fischer lachte. »Sie können sich nicht vorstellen, was für ein Typ Ratnik war. Der hat nur ganz wenige Worte verloren. Und man hat ihn ja kaum zu Gesicht bekommen. Einladungen und so was - das gab's nicht.«

»Was wissen Sie über die Frau?«

»Gar nichts.«

»Aus welchem Land kam sie?«

»Schwer zu sagen. Sie sprach kaum.«

»Und das Wenige, was sie sagte? Wie hörte sich das an?«

»Darüber habe ich mir damals schon Gedanken gemacht. Erst dachte ich, es sei Spanisch. Aber es klang etwas anders.«

»Wie anders?«

»Hm - näselnd, würde ich sagen. Nein, ich glaube, es war kein Spanisch. Es war eher Portugiesisch.«

»Und was hat sie gesagt?«

»Sie hat mit Ratnik ein paar Worte gewechselt; er hat mit ihr in der Fremdsprache gesprochen. Nur ganz wenig. Ich weiß es nicht mehr.«

»Kam es vor, dass die Familie auf der Hütte von irgendwem Besuch bekam?«

»Wenn es so war, ist es mir jedenfalls nicht aufgefallen. Da war sowieso nichts los. Ratnik hat ab und zu die Hütte verlassen; ich sah ihn gelegentlich am Haus vorbeigehen in Richtung Hauptstraße. Die Frau und das Kind blieben wohl oben.«

»Wissen Sie vielleicht, wo die Frau herkam? Ich meine, wo er sie kennen gelernt hat?«

»Nein.«

»Hatte er ein Auto?«

»Dieser Öko-Typ? Nein.«

»Wie haben die sich denn da oben ernährt? Von was haben sie gelebt? Hat er mit Ihnen darüber gesprochen?«

»Ja. Ich habe ihn das auch gefragt. Ganz am Anfang. Die haben das gut hingekriegt. Ratnik war Zimmermann. Und er jobbte ab und zu in einer Zimmerei in Wiehl. Da hat er so viel Geld verdient, dass er das Nötigste kaufen konnte.«

»Wie hieß die Zimmerei?«

»Der Chef heißt Zichorius.«

»Das wissen sie aber noch ziemlich genau.«

»Ja, aber nur deshalb, weil die Firma mir oben einen neuen Dielenfußboden verlegt hat.«

»Hat Ratnik den gemacht?«

»Nein, das war früher. Als Ratnik mir erzählte, dass er da angefangen hat zu arbeiten, ist mir nur der Zufall aufgefallen. Er hat für diese Zimmerei wohl sehr unregelmäßig gearbeitet. Mehr als Aushilfe. Ich glaube, sein Traum war, völlig autark zu leben. Aber so ganz hundertprozentig hat er das nicht geschafft. Das sollte dann in Kanada klappen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht verstehen, wie eine Familie dort oben leben kann. So abgeschieden.«

»So wahnsinnig abgeschieden ist das gar nicht. Man ist immerhin nach zwanzig Minuten Fußmarsch an der Haltestelle zum Bus nach Gummersbach.«

»Aber ohne Strom. Ohne Heizung.«

»Manche Leute sind eben abgehärtet.«

»Ja. So wird es wohl sein.« Plötzlich spürte ich Müdigkeit in den Knochen. Meine Füße taten weh, und die Information mit der Bushaltestelle, zu der man noch ein Stück laufen musste, brachte mich auf die Frage, wie ich zum Wagen zurückkam.

»Haben Sie hier ein Telefon?«, fragte ich. »Ach, Quatsch, ich habe ja ein Handy. Andere Frage: Findet hier ein Taxi her?«

»Wo müssen Sie denn hin?«

»Mein Wagen steht bei Broichs.«

»Ich kann Sie rüberbringen. Ich habe ein Auto.« Er stand auf. »Kommen Sie. Es steht in der Garage.«

»Ich will Sie aber nicht länger vom Musikhören abhalten.«

»Für heute habe ich sowieso genug.«

Wir verließen das Haus. Als Fischer sein Fahrzeug aus der Einfahrt bugsierte, traute ich meinen Augen nicht. »Sie fahren das gleiche Auto wie ich«, sagte ich, als ich mich anschnallte.

»Roter Golf Diesel, Baujahr 1989- Habe ich geerbt«, sagte er in das Dröhnen hinein.

»Meiner ist genauso alt. Und dasselbe Modell.«

»Wer weiß«, rief Fischer. »Vielleicht sind sie ja gemeinsam vom Band gelaufen und freuen sich, wenn sie sich jetzt wiedersehen.«

Ein paar Minuten später erreichten wir das Haus von Broichs. Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen. Hinter einem Fenster brannte Licht.

»Das sind komische Leute«, sagte Fischer. »Total braun. Der Typ hat mal für die Republikaner in Gummersbach kandidiert. Übrigens - da fällt mir noch was zu Ratnik ein.«

»Was denn?«

»Der hat sich für eine ganz komische Sache interessiert. Davon hat er mir zweimal erzählt. Wenn man bedenkt, dass wir uns kaum gesprochen haben.«

»Machen Sie es nicht so spannend.«

»Na ja, die Sache ist etwas eigenartig.«

»Sagen Sie es einfach.«

Fischer holte Luft. »Es gibt hier irgendwo angeblich einen Hakenkreuzwald.«

»Einen was?«

»Einen Hakenkreuzwald. Bäume, die in Form eines großen Hakenkreuzes angepflanzt sind. Ratnik hat davon erzählt.«

»Moment«, warf ich ein. »Sie meinen, das gab es einmal. So was hat doch ganz sicher nicht fast sechzig Jahre Nachkriegszeit überlebt.«

Fischer seufzte. »Ich sagte ja, dass es eigenartig klingt. Ratnik war jedenfalls davon überzeugt.«

»Wo soll der denn liegen?«

»Das wusste Ratnik auch nicht. Jedenfalls nicht, als ich zuletzt mit ihm sprach. Vielleicht hat er es später herausgefunden.«     

»Meinte er wirklich einen Wald hier im Bergischen Land?«

»Ich glaube schon.«

»Klingt gruselig. Kann es sein, dass es da eine Verbindung zu der Frau und dem Kind gibt?«

»Wie meinen Sie das?«

»Kann dieser geheimnisvolle Wald etwas mit dem Tod des Kindes zu tun haben?«

Fischer schüttelte den Kopf. »Mir ist die Sache nur gerade eingefallen, weil wir hier bei Broichs stehen. Das ist alles. Vielleicht hätte ich sonst gar nicht mehr daran gedacht.«

Ich holte meine Visitenkarte hervor. »Wenn Ihnen noch was zu der Geschichte einfällt, oder wenn Sie jemanden zu der Hütte gehen sehen - rufen Sie mich bitte an.«

Er nahm die Karte und nickte.

Ich stieg aus, und Fischer fuhr mit seinem Doppelgänger von meinem Wagen davon.

Ich stand allein vor dem Haus der Broichs. Fernsehgeräusche drangen durch die Haustür. Nach einer Weile wurden sie lauter; die Werbung begann. Jemand drückte den Ton weg und sagte etwas.

Ich ging zur Tür. Der Bewegungsmelder tauchte mich schlagartig in helles Licht.

Dann klingelte ich.

Schlurfende Schritte näherten sich. Frau Broich öffnete und sah mich mürrisch an. »Fahren Sie jetzt Ihren Wagen weg?«

Ich erklärte, dass ich noch etwas fragen wollte. Hinter ihr sah ich ihren Mann. Umso besser, dachte ich, dann hören gleich beide zu.

Als ich berichtete, dass die Hütte abgebrannt war, wirkten beide überrascht, und mir kam ihre Reaktion echt vor. Trotzdem wollte ich es genau wissen.

»Wo waren Sie denn heute?«, fragte ich.

»Heute Morgen bei der Schwiegermutter in Olpe«, sagte Frau Broich. »Und dann haben wir noch in Gummersbach eingekauft.«

»Wann sind Sie zurückgekommen?«

»Am Nachmittag«, sagte Herr Broich. »Und dann habe ich mich gleich an das Motorrad gemacht.«

»Haben Sie gestern oder heute hier draußen jemand Fremdes gesehen?«

Schulterzucken. Kopfschütteln.

»Schönen Abend noch«, sagte ich und ging zum Wagen.