7. Kapitel

»Das ist ja eine furchtbare Geschichte, Herr Rott«, sagte Frau Weitershagen. »Sie meinen, das arme Kind hat in einer Hütte gelebt? Irgendwo im Wald? Ganz abgeschieden?«

»Ich denke, das können wir als erwiesen annehmen«, erwiderte ich, während ich den Golf über die dunkle Bundesstraße Richtung Wuppertal lenkte, das Telefon am Ohr. Trotz Vorschrift hatte ich immer noch keine Freisprechanlage. »Die nächste Frage ist nun: Was ist aus den Eltern geworden?«

»Wie schätzen Sie diesen Musikkritiker und die Leute aus der Nachbarschaft ein? Sind Sie sicher, dass sie nichts damit zu tun haben?«

»Schwer zu sagen.« Ich überlegte, ob Broich im Strafregister stand. Mölich war vielleicht in der Lage, mir das zu sagen. Ich musste sowieso mit ihm wegen der ausgebrannten Hütte und den neuen Informationen über das Kind reden. Vielleicht machten diese Entdeckungen so viel Eindruck auf ihn, dass er mir endlich mal entgegenkam.

»Glauben Sie, dass dieser Hauptkommissar Mölich Ihnen jetzt ein bisschen hilft?«, fragte Frau Weitershagen, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

»Darum wird er nicht herumkommen. Immerhin liefere ich ihm wichtige Informationen zur Lösung des Falles auf dem Silbertablett. Ich kenne die Polizei. Erst haben sie Angst, dass man sich einmischt. Wenn man dann - entschuldigen Sie - die Drecksarbeit gemacht hat, sind sie froh, wenn sie mit einem zusammenarbeiten können.«

Frau Weitershagen wünschte mir noch einen schönen Abend und legte auf. Ich erreichte Remscheid, und hier war die freie Fahrt über die Bundesstraße zu Ende. Es herrschte Feierabendverkehr. Die nächsten paar Kilometer bis Wuppertal kosteten mich eine Dreiviertelstunde.

Beim Gedanken an mein einsames Wohnbüro grauste es mir. In Elberfeld angekommen, nahm ich gleich die steile Straße hinauf zum Brill - vorbei an den schönen alten Villen, die neben der Schwebebahn und dem Friedrich-Engels-Haus zu Wuppertals Sehenswürdigkeiten gehören.

Jutta wohnte ganz oben am Berg. Wenn man auf der Briller Höhe geparkt hatte, musste man durch eine schmiedeeiserne Pforte gehen und exakt vierundfünfzig Stufen hinter sich bringen. Dann befand man sich vor der Eingangstür von Juttas monströsem Hangbungalow. Beim Aufstieg, der wegen meiner wunden Füße ziemlich schmerzhaft war, sah ich hinter den Panoramascheiben gedämpftes Licht. Jutta war also zu Hause.

Ich drückte auf die Klingel, von weit weg ertönte ein dunkles »Ding-Dong«. Zwischenzeitlich hatte Jutta mal einen Klingelton einbauen lassen, der eine halbe Mozart-Oper abspielte, wenn man zu ihr wollte. Zum Glück hatte sie diese Zumutung bald wieder entfernt.

Trotzdem würde mich ganz sicher gleich irgendeine neue Überraschung erwarten. Jutta, die seit ihrer Heirat mit einem von Hause aus sehr reichen und deutlich älteren Beamten im Geld schwamm, schien es darauf anzulegen, herauszufinden, für was man alles seine Euros zum Fenster rauswerfen konnte. Zumal ihr Ehemann ihr keinerlei Beschränkungen auferlegen konnte, denn er war kurz nach der Hochzeit gestorben und hatte Jutta als reiche Witwe zurückgelassen.

Hinter der Scheibe wurde eine Bewegung sichtbar. Außen ging das Licht an.

»Was machst du denn hier?«, fragte Jutta, als sie die Tür geöffnet hatte.

»Ich dachte, du freust dich, wenn ich dich besuche. Jedenfalls hat das gestern noch so geklungen.«

»Entschuldige. Aber ich bin gerade mit einer wichtigen Sache beschäftigt.«

»Darf ich trotzdem reinkommen?«

»Ja klar.«

Ich ging in die geräumige Diele, und sie senkte den Blick auf meine Schuhe, die nicht gerade dem entsprachen, was Jutta als »sauber« bezeichnet hätte.

»Zieh um Gottes willen diese Treter aus. Was hast du denn mit denen angestellt?«

Ich hob den einen Fuß und friemelte die Schnürsenkel auf. »Ermittlungen im Bergischen Land«, sagte ich. »Ganz tief drinnen. Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Und es war ein voller Erfolg.« Ich genoss das Gefühl, endlich die Schuhe los zu sein. Jutta schien erst in diesem Moment einzufallen, worum es ging. Typisch: Dabei hatten wir erst gestern Abend ausführlich über meinen aktuellen Fall gesprochen. Ihre neue Beschäftigung nahm sie wohl wirklich sehr in Anspruch.

»Die Sache mit dem toten Kind? Mit dem Streichquartett? Hast du rausgekriegt, wer das Kind war?«

»Fast. Dafür musste ich aber eine Verfolgungsjagd und mehrere Gewaltmärsche überstehen.«

»Übertreib mal nicht.« Jutta wischte sich die schulterlangen Haare aus dem Gesicht. Sie trug schon wieder eine neue Haarfarbe. Das Blond war deutlich heller als sonst.

Ich folgte ihr durch die hintere große Glastür in den Wohnbereich. Mit welch gigantischem Wohnraum diese Frau doch gesegnet war! Im Marmorboden spiegelte sich die weit hinuntergedimmte Beleuchtung. Hinter der Fensterfront lag ein Lichtermeer - Wuppertal von oben. Auf dem Glastisch neben dem weißen Ledersofa stand ein Weinglas, in dem es rötlich schimmerte. Die Bar - eine frei im Raum stehende kreisrunde Säule, die bis zur Decke reichte - war offen. Wunderbar. Gleich würde mir Jutta einen Drink anbieten, und …

Plötzlich stutzte ich. Da stand in einer Ecke des Wohnzimmers etwas Großes, Schwarzes, das ich dort noch nie gesehen hatte.

»Was ist das denn?«, fragte ich, umrundete die Bar und bekam schließlich das ganze Ding ins Blickfeld. Es hatte gigantische Ausmaße, glänzte in Hochpolitur und erinnerte irgendwie an den Monolithen aus Kubricks »2001«.

»Ein Konzertflügel«, sagte Jutta. »Hast du so was noch nie gesehen?«

»Doch«, sagte ich. »Aber ich wusste nicht, dass die so groß sind.«

»Das ist ja auch die größte Ausführung«, sagte Jutta so dahin. »Ein Steinway D. Er ist genau zwei Meter vierundsiebzig lang. So was steht normalerweise auf Konzertpodien.«

»Und wo ist der Pianist dazu?«

»Es handelt sich um eine Pianistz«. Sie steht vor dir.«

»Moment mal! Soll das heißen, dass du jetzt Klavier spielst?«

»Genau das heißt es.«

Vorsichtig pirschte ich mich an das Mordsinstrument heran. Die Tastatur war aufgeklappt, das Weiß der Tasten blendete geradezu.

»Und - wann kann man dich mal mit Rachmaninow oder so was hören?«

»Das dauert noch ein bisschen. Ich habe vorgestern die erste Klavierstunde gehabt.«

»Muss man sich als Klavieranfänger gleich einen Konzertflügel kaufen?«

»Am Instrument soll man nicht sparen, habe ich gedacht.«

Jutta ging auf den Flügel zu, legte ihre Hand auf den schwarzen Lack und strich sanft darüber, als sei das Klavier ein großer Hund.

»Darf ich fragen, was der gekostet hat?«

»Preiswert. Ich habe ihn für neunzigtausend gekriegt.«

»Euro?«

Jutta zog die Stirn kraus. »Welche Währung haben wir denn? Taler? Das Hauptproblem war übrigens, ihn hier ins Haus zu kriegen. Die Stufen - du weißt schon.«

Ich ging zu dem weißen Sofa hinüber und setzte mich. »Wenn ich daran denke, dass ich gestern noch nicht wusste, wie ich meine Miete bezahlen soll.«

»Wie war's denn mit Arbeiten?«

Ich verzichtete darauf, mit ihr zu diskutieren. Das hatten wir schon zu oft getan.

Jutta nahm auf dem Klavierhocker Platz und verschwand fast völlig hinter dem gigantischen Instrument. Ich sah nur noch ihren Kopf herausgucken. Sie lächelte.

»Bist du etwa schon so weit, dass du mir was vorspielen kannst?«

»Klar«, kam es hinter dem Flügel hervor. »Mein Lehrer sagt, ich sei sehr begabt.« Kein Wunder, bei einer so finanzkräftigen Schülerin, dachte ich. Sie machte eine Bewegung, und es raschelte. Offenbar blätterte sie in einem Heft.

»Sag mal…«, begann ich. »Ja?«

»Du hast gestern am Telefon von einer Überraschung gesprochen. Damit ist nicht vielleicht die Anschaffung dieses Klaviers gemeint, oder?«

»Doch. Genauso ist es. Und natürlich, dass ich drauf spielen kann.«

»Und dann hast du noch gesagt, wenn ich die Wette verliere, dann müsste ich mich damit beschäftigen. Was hast du damit gemeint?«

»Was könnte ich denn wohl gemeint haben, mein lieber Neffe?«

Alarm!

Wenn mich Jutta »mein lieber Neffe« nannte, dann war etwas im Busch. Sie hatte damit zwar sachlich Recht, rein verwandtschaftlich gesehen war sie tatsächlich meine Tante, und ich hatte sogar in meiner Jugend nach dem Tod meiner Eltern eine Weile bei ihr gelebt. Aber von alter Tante hatte sie nun überhaupt nichts an sich. Sie war gerade mal zehn Jahre älter als ich, also knapp über fünfzig, und konnte ohne weiteres als Frau von vierzig durchgehen.     

»Natürlich muss ich dir gleich vorspielen, was ich gelernt habe«, erklärte Jutta enthusiastisch. »Ich hab den ganzen Abend geübt.«

»Mir wäre es lieber, wenn wir das Konzert verschieben«, sagte ich. »Mir schwirren so viele Sachen im Kopf herum. Wenn ich mich jetzt auf was anderes konzentriere, dann geht da einiges verloren. Abgesehen davon - hast du was zu trinken? Und vielleicht auch eine Kleinigkeit zu essen?«

Jutta stand auf und seufzte. »Gut. Aber nachher musst du mein pianistisches Talent bewundern, dass das klar ist. Gehen wir in die Küche. Ich mach uns ein Süppchen warm, und du erzählst, was du über das Kind rausgekriegt hast. War es nun ein Fall von Caspar Hauser oder nicht?«

»Was? Ach so - eigentlich hast du gar nicht mal so Unrecht. Das Kind lebte tatsächlich sehr zurückgezogen, allerdings nicht so extrem wie Caspar Hauser.«

Wir gingen durch das Esszimmer in die Küche, die halb so groß wie meine ganze Wohnung war. Jutta schnitt Brot, holte einen Topf Suppe aus dem zwei Meter hohen silberfarbenen Kühlschrank und stellte ihn auf den Herd. Ich sah in der Kühlschranktür eine Flasche Früh, nahm sie heraus, holte den Öffner aus der Schublade und köpfte sie. Jutta verzog den Mund, als ich aus der Flasche trank, sagte aber nichts.

Während das Essen warm wurde, deckte sie den Tisch, und ich erzählte. Von A bis Z. Die Begegnung mit dem Streichquartett, den Besuch bei der Firma Sondermann, das Erlebnis mit Rumpelstilzchen Ehrlich, den Besuch auf der illegalen Müllkippe, bei den Broichs und den Fund der ausgebrannten Hütte sowie das Gespräch mit Fischer. Auch den Typen im Opel ließ ich nicht aus.

Als ich fertig war, las ich Staunen in Juttas Gesicht.

»Ein ganz schönes Tagespensum, das muss ich zugeben«, sagte sie.

»Verstehst du jetzt, warum ich fix und fertig bin?«

»Vollkommen. Und mir ist auch klar, dass du so langsam vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr siehst. Du brauchst den nüchternen Blick auf die Fakten. Die Sicht von außen.«

»Und? Was ergibt diese Sicht?«, fragte ich, denn mir war klar, dass Jutta eine eigene Betrachtung der Dinge einleiten wollte. »Fass dich bitte kurz, wenn's geht.«

»Na gut. Ganz kurz: Das ist eine Neonazi-Geschichte.«

»Meinst du wirklich?«

»Das ist doch sonnenklar. Ganz sicher war die Frau Anfeindungen ausgesetzt. Von irgendwelchen Ausländer-raus-Skandierern. Würde mich nicht wundern, wenn diese Broichs da mit drinstecken.«

»Ich weiß nicht so recht…«

»Und die Sache mit dem Hakenkreuzwald?«

»Mir fehlt da der direkte Zusammenhang. Warum wurde denn die Hütte ausgerechnet jetzt angezündet? Und warum hat mich ausgerechnet jetzt dieser Typ in dem braunen Opel verfolgt? Das sieht doch eher so aus, als wolle jemand verhindern, dass ich bestimmte Dinge herausbekomme.«

»Das eine schließt ja das andere nicht aus«, sagte Jutta und trug den Topf zum Tisch.

»Aber wenn Rechtsradikale dahinter stecken, die was dagegen hatten, dass in der Hütte ein Deutscher mit einer Ausländerin lebt, dann hätten sie doch schon viel früher etwas unternommen.«

Jutta brachte noch einen Korb mit Baguette-Schnitten; ich schöpfte die dampfende Tomatensuppe in die Teller. Der Duft ließ mir das Wasser im Munde zusammenlaufen.

»Haben sie ja vielleicht auch. Immerhin gibt es ein totes Kind. Und außerdem - vielleicht ging es ja gar nicht darum, dass die Frau von diesem Ratnik eine Ausländerin war. Vielleicht war es ja umgekehrt.«

»Wie - umgekehrt?«

»Vielleicht gehört Ratnik zu den Rechtsradikalen. Vielleicht hat er da oben irgend so eine Blut-und-Boden-Theorie verfolgt. Vielleicht hat er irgendein Geheimnis gekannt.«

Ich nahm einen Löffel Suppe und biss in ein Stück Brot. »Jetzt übertreibst du aber«, sagte ich kauend. »Man sollte nicht noch Geheimnisse dazuerfinden. Denn dann wird's wirklich unübersichtlich.«

»Wieso dazuerfinden? Denk an den Hakenkreuzwald. Wenn das kein Geheimnis ist…«

Ich starrte nachdenklich in meine Suppe. »Ob es so einen Wald wirklich gibt?«

»Finde es raus.«

Ich nickte. »Ich werde mich erst mal um das Umfeld von Ratnik kümmern. Fischer hat mir ja verraten, wo er gearbeitet hat.«

Wir aßen schweigend weiter, meine Gedanken kreisten stetig um meinen Fall. Obwohl ich mir vorgenommen hatte, das Thema erst einmal zurückzustellen, bis ich mehr über Ratnik wusste, kam ich von dem Hakenkreuzwald nicht los. Wie sah so was überhaupt genau aus?

Es musste eine große freie Fläche sein, wahrscheinlich ziemlich eben, und dann waren da Zweier- oder Dreierreihen von Bäumen in einem riesigen Kreuz angeordnet, und an den Spitzen der beiden Linien ging es dann noch jeweils um eine 90-Grad-Ecke. Man würde das Ergebnis vielleicht nur vom Flugzeug aus sehen können. Und sicher war dieser Wald auch deswegen so schwer zu finden. Weil man ihn vom Boden aus gar nicht als Hakenkreuz erkennen konnte.

Warum sollte jemand eigentlich so einen Wald anpflanzen? Einfach so? Weil der »Führer« gerade mit dem Flugzeug vorbeikam?

Nehmen wir an, irgendein Nazi-Förster hat die Eichen 1933 angepflanzt, dachte ich. Konnten die Dinger denn in zwölf Jahren Nazizeit einen Wald bilden, der so richtig was hermachte? Wie schnell wuchsen Eichen eigentlich?

»Na, in Gedanken versunken?«, fragte Jutta und räumte die Teller in die Spülmaschine.

»Ich komme nicht davon los. Ob dieser Hakenkreuzwald irgend so eine nationalsozialistische Thingstätte oder so was ist? So ein Kultplatz für irgendwelche Sonnenwendfeiern?« Mir fiel einer meiner Fälle ein, wo es um moderne Hexen im Bergischen Land gegangen war, die mit allerlei Ritualen am Lüderich die Walpurgisnacht begingen.

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte Jutta. »Warum soll es so was im Bergischen Land nicht gegeben haben?«

»Ich frage mich eher, ob es das heute noch gibt.« Ich zündete mir eine Zigarette an.

»Jetzt geh erst mal nach Plan vor. Kümmere dich morgen um diesen Ratnik. Vielleicht ist er ja gar nicht nach Kanada ausgewandert. Vielleicht arbeitet er immer noch in der Zimmerei und ist mit der Frau zusammen, und sie wohnen eben woanders.«

»Und das Kind?«

»Das Kind ist…« Jutta rang nach Worten.

»Ja?«

»Es ist bei einem tragischen Verkehrsunfall umgekommen, und Ratnik und seine Frau versuchen die Sache unter dem Deckel zu halten.«

»Und warum?«

»Weil … die Frau illegal in Deutschland lebt und die ganze Sache rauskommen würde, wenn man den Tod des Kindes anzeigen würde.«

Ich stand auf und holte mir einen Aschenbecher von der Küchenarbeitsfläche. »Wenn die Frau Portugiesin war, dann lebte sie nicht illegal hier. Trotzdem, diese Version finde ich viel überzeugender als diese mysteriösen Nazisachen.«

»Na siehst du. Morgen weißt du mehr.«

Ich nickte, saß einfach nur da, zog an meiner Zigarette und schwieg. Mir war klar, dass Juttas Theorie nur den einen Sinn hatte - mich von den düsteren Gedanken abzubringen, demnächst in der Nazi-Szene recherchieren zu müssen. Ich musste an den Rechtsanwaltsmord in Overath vom Oktober denken. Ein selbst ernannter »Bereiniger des deutschen Volkskörpers« hatte mit einer Pumpgun einen Anwalt sowie dessen Tochter und Ehefrau erschossen. Er hatte die Tat als »Maßnahme zur Gesundung des deutschen Volkes« bezeichnet, dabei hatte der Anwalt schlicht und ergreifend dessen ehemaligen Vermieter vertreten, bei dem er zehntausend Euro Mietschulden angehäuft hatte. Irgendetwas Dunkles breitete sich in mir aus wie eine bedrohliche Wolke.

Ich versuchte, mich auf etwas anderes zu konzentrieren, und drückte sehr sorgfältig die Zigarette aus. Ich beseitigte jedes einzelne rote Glutpünktchen, und mir kam es vor, als brächte ich eine halbe Stunde damit zu.

Jutta setzte sich neben mich. »Remi. Was ist denn mit dir los?« Ihre Stimme klang sanft.

»Ach, vielleicht bin ich einfach nur müde.«

»Du wirst den Fall schon lösen, da bin ich ganz sicher.«

»Ja, klar.«

»Denkst du noch oft an Svetlana? Hat es damit vielleicht was zu tun?«

Ich nickte nur. In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß, und als ich ihn endlich los war, ertappte ich mich dabei, wie ich immer noch in den Aschenbecher starrte und der längst kalten Kippe den Rest gab.

»Das war eine Scheißsituation damals«, sagte ich, und sofort hatte ich die Bilder wieder vor Augen. Das junge Mädchen, dem das Blut aus dem Hals schoss, weil jemand mit meiner Waffe aus nächster Nähe auf sie gefeuert hatte. Das Bild vermischte sich mit den Eindrücken aus meinem Traum von letzter Nacht.

Jutta legte mir die Hand auf die Schulter. »Lass uns rüber ins Wohnzimmer gehen.«

Ich riss mich von der Erinnerung los. »Was kommt denn im Fernsehen?«

»Nix Fernsehen. Jetzt gibt's klassisches Konzert.«

Wir gingen hinüber, ich setzte mich in die weiße Ledercouch, und Jutta verschwand hinter dem Flügelmonster.

»Wie heißt denn das Stück?«, fragte ich.

»Es hat keinen Titel«, kam es von der anderen Flügelseite. Ich konnte nur ein Stück von Juttas Stirn und ihre Haare sehen. »Es geht los.« Sie wartete noch einen Moment und begann.

PLING! PLING! PLINGPLINGPLINGPLING!

»Moment, ich hab mich verspielt…«

PLING! PLING! PLING! PLINGPLINGPLINGPLINGPLING!!

Stille.

PLINGGGGÜ!

Die Pause danach war ziemlich lang. Juttas Haare hinter dem Monsterflügel bewegten sich nicht.

»War's das?«, fragte ich in die Stille hinein.

»Ehrlich gesagt, ja. Es ist das erste Stück in der Klavierschule. Es hat nur vier Takte.«

Ich applaudierte matt.