8. Kapitel
Um halb acht weckte mich Radio Wuppertal mit den Lokalnachrichten. Ich hielt mir ein Kissen über das Ohr und verschwand wieder in einer wüsten Traumlandschaft. Da gab es Wälder, deren Ränder schnurgerade waren, bis sie dann plötzlich einen 90-Grad-Haken bildeten. Irgendjemand trieb mich an, diesen Wald zu durchqueren, und ich rannte durch das Unterholz, als wäre der Teufel hinter mir her. Vielleicht war es ja auch so. Plötzlich hörte ich Pop-Musik mit hartem Schlagzeug aus der Mitte des Waldes - etwa da, wo das Zentrum des riesigen Hakenkreuzes war. Ich schlug die Augen auf. Die Musik kam aus dem Radiowecker, und es war kurz vor halb neun.
Ich machte, dass ich aus dem Bett kam, wurde jedoch durch ein schmerzhaftes Ziehen in den Beinen gebremst. Muskelkater. Ich versuchte, mich zu entspannen, während ich die Kaffeemaschine lud. Ich schaltete sie ein und ging unter die Dusche.
Zehn Minuten später hatte ich mich angezogen und saß mit einer Tasse Kaffee im Büro.
Als Erstes rief ich Sondermann an. Ja, er habe sich die Kopie von Herrn Antoni zeigen lassen. Nein, er kenne das Kind nicht.
Als Zweites forschte ich über die Auskunft nach der Adresse der Zimmerei Zichorius. Wie Fischer gesagt hatte, saß die Firma in Wiehl - in einer Straße, die Brucher Wiesen hieß. Frau Kniesbeck erreichte ich ebenfalls. Sie war freundlicher, als ich befürchtet hatte, bestätigte aber nur, was mir die Musiker vom Quartett schon erzählt hatten. Sie erinnerte sich allerdings nicht daran, dass der junge Cellist den Hampelmann gefunden hatte.
Dann kam Mölich an die Reihe. Er meldete sich nach dem zweiten Klingeln.
»Guten Morgen«, sagte er. »Na, haben Sie wieder einen Fall, bei dem Sie die Hilfe der Polizei benötigen?«
Ich ließ mich nicht provozieren. »Im Gegenteil, Herr Mölich.
Ganz im Gegenteil. Ich bin in der Sache mit dem unbekannten Kind sehr weit gekommen, und ich denke, die Polizei könnte einiges von dem, was ich herausbekommen habe, gebrauchen.«
»Ach ja, Sie hatten ja irgend so ein Spielzeug gefunden. Was ist passiert? Liegt auf dem Parkplatz am Rathaus noch mehr Zeug von früheren Flohmärkten herum?«
Der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören. Ich blieb die Ruhe selbst.
»Ich weiß, wo das Kind gelebt hat«, sagte ich. »Ich kenne den Namen seines Vaters. Und es sind während meiner Ermittlungen ein paar Dinge passiert, die darauf schließen lassen, dass jemand daran arbeitet, Spuren zu verwischen und die Sache unter den Teppich zu kehren.«
»Ach?« Mölich sagte nur dieses eine Wort, danach war erst mal Sendepause. Ich glaube, mit einer so geballten Ladung von Ermittlungsergebnissen hatte er nicht gerechnet. Er fing sich aber wieder. »Ihnen ist klar, dass Sie alles, was Sie herausgefunden haben, zu Protokoll geben müssen, oder?«
»Und wie stellen Sie sich das vor?«
»Ich denke, Sie kommen zu uns in die Polizeiinspektion, und wir nehmen Ihre Aussage auf. Passt es Ihnen in einer Stunde?«
»Tja, so einfach ist das nicht.«
»Oh doch, so einfach ist das!« Seine Stimme war barsch.
»Und was ist, wenn ich bei Ihnen sitze, meine Aussage mache und plötzlich das ein oder andere vergesse?«
»Na hören Sie mal, das kann doch nicht … Was wollen Sie eigentlich, Rott?«
Es war doch immer wieder dasselbe. Jedes Mal, wenn die Polizei in näherem Kontakt mit mir trat, hatte sie es so eilig, dass sie das höfliche »Herr« vor meinem Namen wegließ. Ich kannte das schon von Hauptkommissar Krüger.
»Ich habe herausgefunden, dass der Vater des Kindes wahrscheinlich bis April im Oberbergischen Kreis gelebt hat. In einer Hütte in der Nähe von Gummersbach.«
»Wie heißt er?«
Ich überhörte die Frage. »Er lebte da mit einer Frau, vermutlich Ausländerin, und dem Kind. Ich habe noch einen dieser Hampelmänner in der Hütte gefunden.«
»Hm«, machte Mölich. »Nicht schlecht.«
»In der Nähe der Hütte gibt es eine wilde Müllkippe, wo die Herstellerfirma nach eigener Aussage Restbestände von diesen Hampelmännern verbuddelt hat. Wahrscheinlich ist das Kind auf dem Müllplatz gewesen und hat das Spielzeug mitgenommen.«
»Ein vierjähriges Kind allein auf einem Müllplatz?«
»Vielleicht war die Mutter dabei.«
»Wo sind die Eltern jetzt? Seit April?«
»Ein Nachbar hat ausgesagt, sie seien nach Kanada ausgewandert.«
»Wie heißen die Leute?«, fragte Mölich noch mal, und ich überging die Frage auch diesmal.
»Jemand hat die Hütte angezündet. Gestern wahrscheinlich.« Ich dachte kurz darüber nach, die Broichs und ihre politische Gesinnung zu erwähnen, doch es kam mir ein bisschen spekulativ vor, sie mit der Sache in Verbindung zu bringen. Ich durfte mich nicht dazu hinreißen lassen, Mölich gegenüber mehr als glasklare Fakten zu behaupten.
»Heißt der Mann, der in der Hütte wohnte, vielleicht Ratnik? Der Vater des Kindes?«
»Wer hat Ihnen das denn erzählt?«
»Wenn eine Hütte im Wald abbrennt, dann fällt das nicht nur Ihnen auf, Rott. Wir haben hier eine entsprechende Meldung vom zuständigen Förster vorliegen.«
»Also gut«, brummte ich.
»Sie haben ganz schön viel rausgefunden in der kurzen Zeit«, gab Mölich zu. Er klang plötzlich fast väterlich. »Und Sie wissen tatsächlich mehr als wir. Uns war nicht klar, dass dieser Ratnik mit dem toten Kind in Solingen in Zusammenhang steht.«
»Mich würde interessieren, ob Ratnik wirklich nach Kanada gegangen ist. Das muss doch über die kanadische Botschaft und irgendwelche Anträge und Visa rauszukriegen sein.«
»Das werden wir natürlich nachprüfen.«
»Ich möchte aber gerne, dass Sie es mir auch sagen. Das würde nämlich meinen Ermittlungen helfen.«
»Machen wir«, sagte er. »Sozusagen als Belohnungsbonbon.«
Ich musste auf Mölich wirklich Eindruck gemacht haben.
»Und wo wir gerade davon sprechen …«, begann ich wieder.
»Was denn noch?«
»Könnten Sie eine Halteranfrage für mich machen?«
»Was?«
»Da war gestern so ein komischer Typ hinter mir her. Ich hatte das Gefühl, dass der was mit dem Fall zu tun hat.«
Mölich seufzte. »Von mir aus. Das heißt - ich kann es nicht versprechen. Wenn das so weitergeht, dann können gleich Privatleute den Polizeijob erledigen.«
Ich gab ihm das Kennzeichen durch.
»Ich hoffe, dass Sie sich jetzt aus der Sache raushalten«, sagte er dann.
»Warum? Ich werde dafür bezahlt, dass ich mich darum kümmere.«
»Finden Sie nicht, dass den Rest die Polizei erledigen sollte?«
»Mein Auftraggeber interessiert sich für die Hintergründe, Herr Mölich. Und die werde ich Stück für Stück ans Licht bringen. Ob Ihnen das passt oder nicht.«
»Soso. Und? Was werden Sie tun?«
»Ich werde versuchen, ein bisschen was über Ratnik rauszufinden. So ein Aussteigerschicksal - das ist doch hochinteressant. Ich denke, ich spreche mal mit seinem Arbeitgeber. Übrigens - da ist noch was.«
»Was denn nun noch?« Mölich war wieder ungehalten.
Ich erzählte ihm von dem mysteriösen Hakenkreuzwald, und ich erwähnte jetzt auch die angeblich rechte Gesinnung der Broichs. Mölich sollte ruhig wissen, dass ich mir Gedanken machte und dass der Fall vielleicht weiter reichte, als es den Anschein hatte. »Dieser Musikkritiker hat behauptet, Ratnik habe sich für den Wald interessiert. Ob es da einen Zusammenhang gibt?«
»Davon habe ich noch nie was gehört«, sagte Mölich. »Ich kann mir das nicht vorstellen. So lange nach dem Krieg.« Er war genauso ratlos wie ich.
Ich legte auf und trank meinen Kaffee aus. Dann ging ich hinunter ans Auto und holte die Stadtpläne und Atlanten. Es war ein ganzer Stapel; das dickste Buch war der Autoatlas »Bergisches Land und Sauerland«. Oben angekommen, schlug ich die Seite mit Gummersbach und Bergneustadt auf.
Ich durchsuchte Gummersbach und die Umgebung, wanderte mit dem Finger östlich über Bergneustadt nach Olpe, dann nördlich über Meinerzhagen und Marienheide wieder zurück, ich verfolgte die Karten bis nach Engelskirchen und südlich bis Nümbrecht, Reichshof, Freudenberg, Wenden. Dann war ich wieder in Olpe. Es gab sehr, sehr viel Wald im Bergischen Land, und er hatte alle möglichen Formen. Aber nirgendwo fand ich einen, der wie ein Kreuz aussah, geschweige denn wie ein Hakenkreuz.
Eine innere Stimme sagte mir, dass es wohl auch naiv war, so etwas auf einer normalen Karte zu suchen. Wenn es einen solchen Wald wirklich gab, war er wahrscheinlich eher auf einem Privatgrundstück zu finden, und er war sicher nicht in einer offiziellen Karte verzeichnet. Vielleicht war es ja auch gar kein Wald. Vielleicht war es einfach nur eine Baumreihe, die sich irgendeiner in den Garten gepflanzt hatte. Und ein Gerücht, das von Mund zu Mund ging und schließlich zu Ratnik vorgedrungen war, hatte einen ganzen Wald daraus gemacht.
Ich dachte wieder an den Fall dieses selbst ernannten Volksbereinigers aus Overath und an den braunen Opel. Ich stapelte die Karten und Atlanten sorgfältig auf dem Schreibtisch, legte mein Handy, meine Geldbörse und meine Schlüssel hinzu und ging ins Schlafzimmer. Im Schrank gab es ganz unten breite Schubladen. Ich zog eine davon auf.
Unter einer dicken Schicht Unterhosen hatte ich meine Beretta Neunmillimeter versteckt. Ich überprüfte die Munition, schnallte das Holster um und verließ die Wohnung.
Das Flüsschen, das an Wiehl vorbeifließt, heißt Wiehl, und die Frage ob Fluss oder Stadt zuerst diesen Namen gehabt hatte, erinnerte mich an die Sache mit dem Huhn und dem Ei.
Abseits des kleinen Stadtkerns lag ein winziges Häusergrüppchen, das den Ortsteilnamen Bruch trug. Die Straße, die dort hinführte, ging an einer verrosteten Bahnlinie entlang, auf der Unkraut wucherte. Als Bruch in Sicht kam, drängte sich die Straße an den Wald, und kurz darauf öffnete sich auf der linken Seite ein matschiger Platz. Dort stellte ich das Auto ab und ging zu Fuß die enge Straße hinunter, auf der man mitten in die dicht gebaute, etwas bergab gelegene Ansammlung von Häusern gelangte - manche in altem Fachwerk, andere mit grauem Klinkerimitat beklebt.
Vor einer breiten Einfahrt blieb ich stehen. Ein großes Holzschild am Zaun trug die gebeizte Aufschrift »Zimmerei Zichorius«. Auf der rechten Seite des Hofs duckte sich ein kleines Fachwerkhaus mit schmalem Vorgarten, auf der anderen gab es einen hohen Schuppen, in dem gewaltige Stapel von Holzbrettern lagerten. Als ich auf das Haus zuging, hörte ich von irgendwoher das Kreischen einer Kreissäge.
Unter dem Briefkasten döste eine grau-weiß gemusterte Katze, die sich weder von dem Lärm noch von mir stören ließ. Ich klingelte, und kurz darauf öffnete eine unglaublich dicke Frau die Tür. Ihre Haare waren rot gefärbt, auf ihrem Pullover reihte sich eine Kette mit kastaniengroßen Holzperlen.
Ich stellte mich vor und sagte, dass ich Herrn Zichorius sprechen wollte.
Ihr Blick wurde skeptisch. Sie witterte offenbar, dass ich kein Kunde war. Vielleicht hielt sie mich für einen Finanzbeamten.
»Der ist in der Werkstatt und muss gleich auf die Baustelle«, sagte die Frau. »Worum geht's denn?«
»Es geht um einen Mitarbeiter der Zimmerei. Jonas Ratnik. Ich hätte da ein paar Fragen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Jonas? Der arbeitet längst nicht mehr hier. Ich glaube, der ist sogar ins Ausland gegangen. Da können wir Ihnen nicht helfen.« Sie schien erleichtert zu sein, mich abwimmeln zu können.
»Es wäre trotzdem nett, wenn ich mit Herrn Zichorius sprechen könnte. Es dauert nicht lange.«
Die Säge schrie wieder herüber. »Sind Sie von der Polizei?«
»Nein. Weder von der Polizei noch vom Gewerbeaufsichtsamt noch vom Finanzamt oder sonst einer Behörde. Sie können ganz beruhigt sein.« Eigentlich hatte ich der Bemerkung einen spaßigen Unterton geben wollen, aber das war mir wohl nicht so ganz gelungen. Bei der Aufzählung der Ämter wirkte die Frau nicht besonders erheitert.
»Warten Sie bitte einen Moment«, sagte sie. »Ich frage mal, ob er eine Sekunde Zeit hat.«
Für ihre Leibesfülle ging sie ziemlich behände in Richtung des Schuppens. Sie öffnete eine Tür mit Glasfenster, und die Säge, die in diesem Moment wieder zu hören war, kreischte deutlich lauter als vorher.
Schließlich kam die Frau mit einem bärtigen Mann zurück. Er hatte eine Schutzbrille auf die Stirn geschoben. Sein rötliches Haar, sein rotkariertes Flanellhemd und auch die schwarze Zimmermannshose waren über und über mit Holzspänen bedeckt. Er gab mir die Hand. Sie war rau und hart.
»Zichorius. Guten Tag. Was gibt's denn? Ich hab's ein bisschen eilig. Die Baustelle ruft.«
»Nur ganz kurz.« Ich erklärte, dass ich Detektiv sei und Informationen über Jonas Ratnik brauche.
»Der ist schon lange nicht mehr hier.« Er drehte sich zu seiner Frau. »Hast du das nicht gesagt?«
»Doch, Herr Zichorius«, sagte ich. »Aber Sie haben Herrn Ratnik gekannt, und ich brauche Informationen über ihn. Kontakte. Bekannte und so was.«
Er stemmte die Hände in die Hüften. »Ist ihm was passiert? Ist er tot?«
Ich schüttelte den Kopf. »Er wird gesucht.«
»Hat er etwas ausgefressen?«
»Nein. Wir suchen ihn als Zeugen.« Ich zeigte wieder den Zeitungsausschnitt mit dem Foto des toten Kindes. Zichorius nahm das Blatt und überflog die Schlagzeile des Artikels. »Es kann sein, dass dieses Kind Ratniks Kind war«, erklärte ich.
»Ratnik hat ein Kind? Das ist mir völlig neu.«
»Wissen Sie, wo er sich aufhält?«
»Er hat im Frühjahr aufgehört, bei mir zu arbeiten, und ist nach Kanada ausgewandert. Das wollte er schon immer. Es war sein Traum. In einer einsamen Hütte leben. Er hat's ja auch hier schon versucht. Er hat in der alten Jagdhütte von seinem Vater gehaust.«
»Sind Sie mal in der Hütte gewesen?«
»Nein. Das hätte er auch nicht zugelassen. Die Hütte war seine Burg. Da ließ er nicht jeden hin.«
»Mir kommt das komisch vor, dass da einer so leben kann - ohne Strom und fließendes Wasser.«
»Da kennen Sie Jonas schlecht. Der hatte richtig Ahnung davon, wie man mit einfachsten Mitteln überlebt. Er hat noch nicht mal ein normales Einkommen gebraucht.«
»Aber er hat doch bei Ihnen gearbeitet?«
»Nur ab und zu, wenn es ihm wirklich am Allernötigsten fehlte. Der kam ganz gut allein zurecht. Auf dem Grundstück soll es ja eine Quelle geben. Außerdem ein Stück Wald. Er konnte also Holz verfeuern. Er wird sich einen Ofen gebaut haben.«
»Wussten Sie, dass er mit Frau und Kind auf der Hütte lebte?«
»Wie gesagt, von dem Kind wusste ich bis eben nichts.«
»Und von der Frau?«
Er gab mir das Blatt zurück. »Er hat von ihr erzählt. Sie hieß Maria. Aber gesehen hat sie keiner von uns. Manchmal haben wir Witze darüber gemacht. Wir haben gesagt, er habe die Frau nur erfunden.«
»Wissen Sie, aus welchem Land sie kam?«
»War sie denn nicht von hier?«
»Vermutlich nicht.«
»Sehen Sie, da wissen Sie schon mehr als ich. Hören Sie - ich muss noch ein Dutzend Bodenleisten zurechtschneiden und nachher einbauen.«
»Einen Moment noch. Wissen Sie, wohin er genau ausgewandert ist? Hat er sich mal gemeldet? Gibt es eine Adresse?«
»Eine Adresse habe ich nicht.«
»Hat er nicht über den Ort gesprochen, wo er hinwollte?«
»Nein, darüber hat er nichts gesagt. Anfang des Jahres kam er zu mir und sagte, dass jetzt endlich alles klar sei, dass er die Papiere habe und dass er Deutschland verlassen wolle. Ich habe ihm alles Gute gewünscht, und er ist gegangen. Das war's. Der hat nie viele Worte gemacht, wissen Sie.«
»Wie ist er überhaupt zur Arbeit gekommen?«
»Wir haben einen kleinen Bus, mit dem ich meine Leute zu den Baustellen bringe. Da steht er.«
Ich wandte mich um. Neben dem Schuppen gab es einen Car-port, wo ein kleiner Transporter stand. Er war rot.
»Wie haben Sie sich verabredet, wenn er so unregelmäßig bei Ihnen gearbeitet hat? Er hatte ja sicher kein Telefon.«
»Er ist an eine öffentliche Telefonzelle gegangen und hat sich die Termine aufgeschrieben. Wir haben ihn dann an der Hauptstraße eingesammelt.«
»Gut. Er hat also den Job bei Ihnen gekündigt. Hat er sich danach jemals bei Ihnen gemeldet?«
»Nein.«
»Hat Ratnik Verwandte? Oder Freunde? Gibt es jemanden, der mir mehr über ihn erzählen kann?«
Er schüttelte den Kopf. »Dieser Einzelgänger? Kaum. Er hat so wenig über sich erzählt. Er sprach keine drei Worte am Tag. Das heißt, da gibt es noch was.« »Ja?«
»Als er bei mir angefangen hat…«
»Wann war das?«
»Ach, das ist schon eine Weile her … '97, '98? Ich weiß nicht genau. Es war jedenfalls, als wir uns das erste Mal unterhalten haben, beim Einstellungsgespräch. Da war er gerade auf die Hütte gezogen. Und er hat mir erzählt, dass er gerade eine Scheidung hinter sich habe.«
»Das heißt, es gibt eine Ex-Frau.«
»Genau. Damals wohnte sie in Marienheide, denn da hat er vorher auch gelebt. Wahrscheinlich hat bei dem Rückzug auf die Hütte auch ein bisschen die Enttäuschung über seine Ehe eine Rolle gespielt.«
»Oder seine Frau wollte kein Aussteigerleben führen.«
»Richtig. Im Gegensatz zu dieser Maria.«
»Den Namen der Ex-Frau wissen Sie nicht zufällig?«
»Nein.«
»Auch nicht den Mädchennamen?«
»Nein. Und jetzt muss ich wirklich arbeiten.«
»Noch eine Sekunde. Es wird für Ratnik ja nicht leicht gewesen sein, eine Frau kennen zu lernen - so einsam auf der Hütte. Wie ist er dann an seine Maria gekommen?«
»Das kann ich Ihnen so genau nicht sagen.«
»Wenn nicht genau, dann vielleicht ungefähr?«
»Ich meine, so viele Möglichkeiten hatte er ja nicht.« Zichorius grinste. »Unsereins lernt viele Frauen auf Baustellen kennen.«
Ich nickte. Dieser Möglichkeit musste ich unbedingt nachgehen.
»Was ich bis jetzt herausgefunden habe, ist Folgendes: Diese Maria ist keine Deutsche. Sie stammt wahrscheinlich aus Portugal. Können Sie sich an eine Baustelle erinnern, wo vielleicht ein Portugiese der Bauherr war? Oder wo es eine andere Verbindung zu Portugal gibt? Irgendwann in den letzten Jahren? Vielleicht hat ja auch mal ein Portugiese bei Ihnen gearbeitet.«
Er kratzte sich am Kopf. »Einen portugiesischen Mitarbeiter hatte ich nicht. Das steht schon mal fest. Und was die Baustellen betrifft …«
»Könnte man da in irgendwelchen Unterlagen nachsehen? Ich müsste nur erfahren, auf welcher Baustelle Ratnik beschäftigt war.«
Zichorius seufzte. »Lassen Sie mich jetzt mal arbeiten. Ich sehe heute Abend nach, ob ich was finde, und rufe Sie an. In Ordnung?«
»In Ordnung. Noch eine letzte Frage.« »Ja?«
»Ist es möglich, dass Ratnik gar nicht nach Kanada gegangen ist? Dass er noch in Deutschland lebt?«
»Möglich ist alles«, sagte Zichorius. »Aber warum hätte er mich anlügen sollen?«
»Allerletzte Frage. Hat Ratnik Ihnen gegenüber jemals einen Hakenkreuzwald erwähnt? Oder kennen Sie so etwas hier in der Gegend?«
Zichorius blickte mich verwirrt an. »Wie bitte? Einen was? Hakenkreuzwald? Was meinen Sie denn damit?«
»Ratnik soll sich für so was interessiert haben. Angeblich ist das ein Wald, in dem die Bäume in Form eines Hakenkreuzes stehen. Irgendein Relikt aus der Nazi-Zeit.«
»Nein. Davon habe ich noch nie was gehört.« Er verabschiedete sich und ging zurück in seine Werkstatt. Ich klingelte noch einmal am Haus, um Zichorius' Frau meine Telefonnummer zu hinterlassen. Ich fragte auch sie nach Ratnik. Aber sie wusste noch weniger als ihr Mann.
»Wissen Sie, das war so ein ganz lieber. Einer, der mit der Welt irgendwie überhaupt nicht zurechtkam. Den hätte man am liebsten in den Arm genommen und beschützt. Wahrscheinlich ist der nur auf die Hütte gezogen, weil er mit der Welt überfordert war.«
»Aber das spartanische Leben hat ihm nichts ausgemacht.«
»Nein. Das war für ihn wohl ganz normal.« Sie lächelte mich an, aber trotzdem wirkte ihr Gesichtsausdruck traurig. Nachdenklich nestelte sie an ihrer Kette mit den Holzperlen. »Es wäre doch tragisch, wenn ausgerechnet so einer unter die Räder käme. Man müsste sich direkt schuldig fühlen.«
Ich verabschiedete mich und ging durch die enge Häuseransammlung zurück in Richtung Auto. Ich musste Ratniks Ex-Frau finden. Vielleicht hatte sie ja den Namen behalten und stand schlicht und ergreifend im Telefonbuch. Während ich die Straße entlangmarschierte, drückte ich die Nummer der Auskunft, und als ich an meinem Golf angekommen war, wusste ich: In Marienheide gab es keinen Telefonanschluss auf den Namen Ratnik. Auch nicht in den Städten im Umland. Es gab einen in Potsdam, einen in Braunschweig, mehrere in Dresden und ein paar in Hamburg. Ich würde nicht drum herumkommen, sie zu überprüfen.
Als ich losfuhr, fiel mir ein, dass es in der Hütte vielleicht irgendeinen Hinweis auf die Ex-Frau oder auf andere Kontakte Ratniks geben konnte. Oder auf Kontakte dieser geheimnisvollen Maria. Gut - Ratnik hatte wahrscheinlich nicht gerade sein Notizbuch in Deutschland gelassen, damit ich all seine Adressen auf dem Silbertablett serviert bekam. Andererseits: Warum nicht? Vielleicht hatte er so abrupt Schluss gemacht mit dem Leben hier, hatte so gründlich alle Brücken abgebrochen. Bei all den Sachen, die in der Hütte gewesen waren, sah es ganz danach aus. Hoffentlich hat die Polizei die Sachen, die in der Hütte gewesen waren, noch nicht sichergestellt.
Während ich in diese Gedanken vertieft war, folgte ich der Straße an dem unkrautbedeckten Bahnübergang. Ich näherte mich wieder der Innenstadt von Wiehl. Vor mir tauchte der Bahnhof auf. Ich bog links ab, um die Landstraße nach Norden zu erreichen. Als ich an einer Einmündung stehen blieb, um den Vorfahrtsverkehr durchzulassen, blickte ich kurz in den Rückspiegel.
Direkt hinter mir stand ein brauner Opel. Der Mann am Steuer schien zu wissen, dass ich ihn bemerkt hatte, denn im selben Moment verzog er den Mund zu einem schiefen Grinsen.