10. Kapitel

Hinter dem Band aus dahinfließendem Verkehr lag Dückraths runtergekommenes Fliesenlegergeschäft, und nichts tat sich. Die Fenster in der ersten Etage blickten dunkel in die Gegend. Noch nicht mal eine Gardine zitterte. Der Hinterhof, so weit ich ihn durch die Einfahrt erkennen konnte, blieb leer.

Das Heck des weißen Transporters ragte ein Stück in mein Blickfeld. Als endlose fünfzehn Minuten vergangen waren, überlegte ich, ob ich noch mal rüberlaufen sollte, um die Nummer zu notieren. Krüger oder Mölich könnten dann den Halter ermitteln. Wenn die Herren so frei waren. Andererseits war ja wohl klar, dass der Wagen Dückrath gehörte.

Die dahinrollende Fahrzeuglawine hatte etwas Hypnotisches, das gleichmäßige Brummen machte mich schläfrig. Manchmal stach ein einzelnes Fahrzeug heraus - zum Beispiel wenn einer der vielen Lkw gerade an dieser Stelle Gas gab.

Ich sah auf die Uhr. Jutta war jetzt zwanzig Minuten unterwegs. Ich schätzte, dass sie eine gute halbe Stunde brauchen würde - mindestens. Ich spürte, wie die eine Seite meines Hinterns einzuschlafen drohte, und suchte mir eine neue Sitzposition. Vielleicht sollte ich mir ein neues Auto anschaffen. Ein größeres, in dem man bei solchen Observationen auch mal die Beine ausstrecken konnte. Die Frage war natürlich, von welchem Geld ich das bezahlen sollte. Wie viel hatte mir Frau Weitershagen im Erfolgsfall geboten? Zehntausend Euro. Wenn ich einen neuen Wagen kaufen wollte, kam ich damit nicht weit.     

Ich versank immer mehr in Gedanken. Plötzlich zuckte ich erschrocken zusammen. Ein silberfarbener Sportwagen donnerte an mir vorbei und fuhr mit quietschenden Reifen rechts ran. Das Ding war überraschend groß und erinnerte an ein fahrendes Haifischmaul.

Ich riss mich zusammen und konzentrierte mich wieder auf Dückraths Einfahrt. In diesem Moment klingelte mein Handy. Es war Jutta.

»Remi. Ich stehe genau vor dir.«

»Das bist du in diesem Geschoss?«

»So ist es.«

Ich schüttelte ungläubig den Kopf.

»Wen willst du denn hier observieren? Hier ist ja gar keiner.«

»Es ist ein Typ, der in dem Haus gegenüber wohnt.«

»Wo das Schaufenster ist?«

»Ja genau. Behalte du die Einfahrt im Auge. Ich bringe mal meinen Golf aus der Schusslinie. Wenn einer rausfährt, vor allem ein weißer Transporter, dann folge ihm bitte. Ansonsten wie gehabt. Du sammelst mich gleich ein.«

Ich fuhr los, brachte den Golf etwas weiter weg möglichst unauffällig unter und ging zu Fuß zurück. Als ich mich Juttas Wagen näherte, las ich das Kennzeichen. W-JA 666.

»Eine wirklich teuflisch tolle Karre«, sagte ich, als ich eingestiegen war. »Ein schlichteres Auto gab's wohl nicht?«

»Das ist ein ganz neues Modell«, sagte Jutta, »und es macht mir eine Menge Spaß.«

»Wie nennt sich denn so was?«, fragte ich, denn ich hatte von Automarken so viel Ahnung wie Dieter Bohlen von Goethes Dramen.

»Es ist ein BMW Z4. Ich schätze, das war der erste, der in Wuppertal überhaupt verkauft wurde.«

»Gab's den nicht als Cabrio?«

»Das ist ein Cabrio, du Ignorant. Er hat ein Hardtop für den Winter. Wenn du möchtest, kann ich dir alle Details über die Leistung des Motors und so weiter erklären.«

»Verschon mich. Nur eins. Wie teuer war er?«

»Knapp fünfzig.«

Ich ging nicht weiter darauf ein. Wir nahmen wieder Aufstellung mit Blick auf die Einfahrt.

»Jetzt erzähl mir, was mit diesem Typen da vorn los ist«, sagte Jutta.

Ich schilderte noch mal, wie ich gestern in Köln und heute ab Wiehl verfolgt wurde.

»Mölich war nicht bereit, für mich herauszufinden, wer der Halter ist. Da habe ich mir gedacht, ich werde selbst aktiv.«

»Komisch, dass die so genau Bescheid wissen, wo du dich bei deinen Recherchen herumtreibst.«

»Ja, es ist direkt unheimlich. Als ich mir den Typen auf dem Parkplatz geschnappt hatte, dachte ich einen Moment, dass es mehrere sind, die sich ablösen. Und dass mir die anderen einfach nicht aufgefallen sind. Aber so scheint es nicht zu sein.«

»Und du hast gesagt, der Typ war bewaffnet?«

»Er hatte eine Pistole und ein Messer. Liegt beides bei mir im Handschuhfach.«

Jutta schüttelte den Kopf. »Das war ganz schön leichtsinnig, dem alten Dückrath einfach auf die Bude zu steigen. Du wusstest doch gar nicht, was dich erwartet.«

»Ist mir klar«, sagte ich. »Aber ich war so sauer auf diesen Typen im Opel, und dann hatte ich das Gefühl, endlich auf einer richtigen Spur zu sein. Und als ich dann den weißen Transporter im Hof gesehen habe …«

»Es wäre besser gewesen, Dückrath im Ungewissen zu lassen.«

»Ist ja gut«, sagte ich. »Es ist eben passiert.«

»Okay. Jetzt bin ich ja da, und wir kriegen das in den Griff. Ich dachte schon, es kommt nie dazu.«

»Wozu?«

»Dass du mich in den Fall mit einbeziehst.«

»Na siehst du. Dann hast du ja jetzt ein Erfolgserlebnis.«

»Nicht so gönnerhaft, mein Lieber. Fang lieber endlich an.«

»Womit?«

Jutta lächelte mich großspurig an, und es war wieder einer dieser Momente, in denen ich nicht wusste, ob sie sich über mich lustig machte oder ob sie sich wirklich darüber freute, mit mir zusammenzuarbeiten - oder beides.

»Na, mir die aktuellen Erkenntnisse mitzuteilen. Ich weiß immer noch nicht, was du in Wiehl rausgekriegt hast. Du warst doch bei diesem Zichorius …«

»… bei dem Arbeitgeber von Ratnik. Genau.« Ich schüttelte den Kopf. »Viel ist da nicht rausgekommen. Er hat mir im Grunde nur bestätigt, was ich schon von diesem Musikkritiker wusste. Ratnik war ein Einzelgänger, der vom Leben in einer einsamen Hütte träumte. Und es wohl auch wahr gemacht hat. Zichorius war ebenfalls der Meinung, Ratnik sei im Frühjahr nach Kanada ausgewandert.«

»Mit oder ohne Frau und Kind?«

»Weiß er nicht. Er wusste nichts von einem Kind.«

»Das muss doch rauszukriegen sein. Über Visa-Anträge und so …«

»Den Gefallen tut mir Mölich. Wenigstens etwas.« Plötzlich fiel mir etwas ein. »Apropos Frau und Kind … Eine Sache gab es doch noch. Ich habe von Zichorius erfahren, dass Ratnik mal verheiratet war. Ich weiß aber den Namen der Frau nicht.«

»Wo haben sie denn gewohnt? Wusste Zichorius das?«

»In Marienheide.«

»Tja dann … du musst nur alle Ratniks in Marienheide anrufen, und schon -«

»Es gibt im Telefonbuch niemanden in Marienheide, der Ratnik heißt.«

Jutta schob die Unterlippe vor. »Marienheide«, sagte sie dann, und es klang, als würde sie nicht mit mir, sondern mit sich selbst sprechen. Dann wandte sie den Kopf und strahlte mich an. »Ich hab's«, rief sie, »der Hochzeitswald!«

»Was?«

»Der Hochzeitswald in Marienheide! Mit ein bisschen Glück wird er dir weiterhelfen. Übrigens - hast du schon was zu Mittag gegessen?«

»Nein. Aber könntest du mir jetzt mal erklären, was du mit dem Hochzeitswald meinst? Hakenkreuzwald - Hochzeitswald … Der Fall wird ein bisschen waldlastig, findest du nicht?«

»Was erwartest du im Bergischen Land?«, sagte sie. »Warte mal einen Moment.« Jutta stieg aus und holte etwas aus dem Kofferraum. Ich streckte derweil die Beine aus und genoss den großen Fußraum. Jutta kam wieder herein, in der Hand zwei Tüten vom Bäcker.

»Krümel bitte nicht«, sagte sie.

»Ich werde mich bemühen.« Ich zog ein belegtes Brötchen hervor und starrte kauend vor mich hin. »Sag mal, warum hast du die beiden Tüten eigentlich im Kofferraum gehabt?«

Jutta zog die Stirn kraus. »Das ist ein kleiner Nachteil des Wagens. Schau dich doch mal um.«

Ich nickte. Wenn zwei Leute im Auto saßen, war der Wagen voll.

»Um noch mal auf unsere Beschattung hier zurückzukommen«, sagte Jutta.

»Jetzt fang bitte nicht schon wieder an, mich zu kritisieren. Ich kann's nun auch nicht mehr ändern.«

»Das meine ich nicht. Ich verstehe nur nicht, was du dir von dieser Beschattung genau versprichst. Worauf wartest du überhaupt?«

»Langsam«, fuhr ich auf. »Nur, dass wir nicht die Übersicht verlieren. Wenn ich mich recht entsinne, warst du gerade dabei, mir etwas über einen Hochzeitswald in Marienheide zu erzählen.«

»Alles zu seiner Zeit. Wir waren ja noch dabei, dass du mich auf den neuesten Stand bringst. Also: Was machen wir hier?«

Ich atmete tief durch. Bei Jutta brauchte man Geduld. »Ganz einfach. Der junge Hannes Dückrath muss irgendwie nach Hause kommen. Entweder er ruft seinen Vater an, und der holt ihn ab. Oder er kommt auf anderem Wege her.«

»Gut. Und wenn er dann zu Hause ist - was passiert dann?«

»Ich muss wissen, wo die sich so rumtreiben. Was sie machen. Wen sie kennen.«

Jutta seufzte. »Und du glaubst, das bringt was?«

»Klar.«

Sie schüttelte den Kopf. »Wie kommst du darauf, dass der junge Dückrath seinen Vater anruft? Es kann doch sein, dass er irgendeinen Kumpel hat, der ihn holt. Es kann übrigens auch sein, dass der alte Dückrath gar nicht weiß, dass der Junge dich verfolgt hat. Vielleicht ist nur der Junior in irgendwas verstrickt und der Alte nicht. Dann vertun wir hier nur unsere Zeit. Und so ganz nebenbei: Es kann sogar sein, dass das Ganze nur ein großer Zufall war.«

»Zufall? Und woher kommen dann die Waffen, die ich bei ihm gefunden habe? Außerdem: Gestern in Köln hat er mich hundertprozentig verfolgt. Das ist eindeutig.«

Jutta dachte nach, und eine Weile herrschte Schweigen im Auto. »Ich denke, du solltest die Polizei informieren«, sagte sie schließlich. »Vielleicht sind diese Dückraths einschlägig bekannt.«

»Und weiter?«

»Na ja - du könntest Krüger oder Mölich die Sache erklären. Bei all dem, was du bis jetzt rausgefunden hast, müssen sie dich doch unterstützen.«

»Das denkst auch nur du. Mölich ist hart wie Granit. Der will einfach nicht, dass ein Privatermittler in einem Fall Erfolg hat, in dem die Polizei bisher versagt hat. Der wird einen Teufel tun und mit Informationen über die Dückraths rausrücken. Und außerdem: Stell dir mal vor, sie sind nicht vorbestraft und es lag noch nie was gegen sie vor. Welche Beweise habe ich denn?«

»Naja, der Waffenbesitz … der weiße Transporter …«

»Der weiße Transporter sagt gar nichts, und den Waffenbesitz werden sie ganz einfach abstreiten. Im Gegenteil - die werden mir noch was anhängen, weil ich seine Reifen kaputtgemacht habe. Ein cleverer Anwalt wird leicht Zeugen finden, der uns auf dem Parkplatz des Supermarktes gesehen hat. Und dann werden sie mir einen Strick draus drehen. Nein - das muss alles andersrum laufen. Wir werden diese Leute so lange verfolgen, bis sie uns zu jemandem führen, der mit dem Fall zu tun hat.«

»Und du glaubst, das klappt?«

»Woher hat Dückrath gewusst, welche Ermittlungsschritte ich unternehme? Er hat im Voraus gewusst, dass ich in Köln unterwegs war, und er hat auch gewusst, dass ich nach Wiehl fahre.«

»Du meinst, er steckt mit irgendjemandem unter einer Decke, dem du von deinen Ermittlungen erzählt hast?«

»Ganz genau. Und leider sind das mittlerweile so viele, dass ich nicht alle überwachen kann.«

»Schon kapiert. Halten wir uns also an Dückrath. Bin mal gespannt, wie lange der braucht, um sich mit dem großen Unbekannten zu treffen.«

»In der Zwischenzeit kannst du dann endlich das Geheimnis von Marienheide lüften. Stichwort Hochzeitswald, wenn du dich erinnerst.«

Jutta zuckte mit den Achseln. »Es gibt dort ein Grundstück, auf dem Paare, die in Marienheide geheiratet haben, einen Baum pflanzen können. Nach und nach entsteht dadurch ein richtiges Waldstück.«

»Romantisch.«

»Nicht? Ich war mal bei so einer Hochzeit dabei.«

»Wäre es nicht besser, gleich eine Angestellte des Standesamtes zu bezirzen, damit sie mir die Infos gibt?«

»Nicht nötig. An jedem der Bäume ist eine Plakette, und darauf stehen die Namen der Brautleute.«

»Seit wann gibt's denn diesen Wald?«

»Lass mich mal nachdenken … Wann hat Hannelore geheiratet? Das muss so 1990 rum gewesen sein. Und damals hatten die mit diesem Wald gerade angefangen.«     

»Das kommt zeitlich hin. Fischer hat gesagt, Ratnik sei Mitte dreißig gewesen. Dann wird die Hochzeit wohl in den letzten dreizehn Jahren stattgefunden haben. Kannst du mir erklären, wo dieser Hochzeitswald ist?«

»Klar!«

Ich dachte nach, und dabei starrte ich auf den endlos dahinfließenden Verkehr. Bei Dückrath war immer noch alles ruhig. Wenn ich an diese geschiedene Frau rankäme …

»Du hast wahrscheinlich Recht«, sagte ich. »Es bringt nichts, zu zweit hier zu warten. Ich suche Ratniks Ex-Frau.«

»Alles klar«, sagte Jutta.

Ich wollte gerade den Wagen verlassen, da kam ein Taxi aus Richtung Autobahn herangefahren. Es wendete und hielt vor dem Haus mit dem geschlossenen Fliesengeschäft. Dückrath junior stieg aus und schien beschwichtigend auf den Taxifahrer einzureden. Schließlich stieg auch der Fahrer aus, und beide verschwanden in der Hofeinfahrt. Nach einer Weile kam der Fahrer zurück und fuhr weg.

»Und jetzt?«, fragte Jutta. »Willst du immer noch nach Marienheide?«

»Einen Moment noch.«

Es dauerte keine fünf Minuten, da kam der weiße Transporter aus der Einfahrt und bog in die Hauptstraße ein.

»Es geht los«, sagte ich und duckte mich.

Jutta ließ den Motor an. Tiefes Brummen, butterweich. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Ich blieb mit dem Kopf unten. Der Z4 gewann an Fahrt.

»Wohin fahren sie?«, fragte ich.

»Eben ging es eine Weile Richtung Innenstadt, dann sind sie links abgebogen«, sagte Jutta. »Es geht jetzt Richtung Nordosten. Ich glaube, du kannst raufkommen. Ich habe ein bisschen Abstand gelassen.«

Ich hob den Kopf. Der weiße Transporter war ein gutes Stück weit vor uns.

»Mist«, sagte ich.

»Was ist los?«

»Ich habe meine Landkarten im Auto gelassen.«

»Wofür brauchst du die?«

»Wer weiß, wo die hinfahren? Es ist vielleicht günstig, das Ganze auch auf der Karte zu verfolgen.«

»Das ist nicht nötig«, sagte Jutta und drückte auf ein paar Knöpfe auf der Konsole über dem CD-Player. »Das Navigationssystem sagt uns, wo wir sind.«

»Wunderbar. Jetzt hoffen wir nur noch, dass wir mit deinem Rennwagen nicht auffallen.«

Die Dückraths fuhren auf eine Schnellstraße, die wie eine Autobahn aussah. Links und rechts begrenzten Schallschutzwände die Sicht. Immer wieder kamen Ausfahrten; der weiße Transporter raste daran vorbei.

»Was werden die jetzt wohl groß unternehmen?«, fragte Jutta. »Wenn sie nicht gerade einkaufen fahren, dann sind sie vielleicht nach Wiehl unterwegs, um das Auto einzusammeln, das du kaputtgemacht hast.«

»Und wie soll das gehen?«

Jutta drosselte die Geschwindigkeit. Die Schnellstraße lief auf eine T-Einmündung mit Ampel zu.

»Ganz einfach. Wahrscheinlich haben sie in dem Auto vier Ersatzräder. Zum Beispiel die Sommerreifen. Und die bauen sie dann dran.«

»Hier geht's aber glaube ich nicht nach Wiehl«, sagte ich trotzig. Es passte mir nicht, dass Jutta meinen schönen Verfolgungsplan kaputtmachte.

»Da hast du natürlich einigermaßen Recht«, gab sie zu.

Wir fuhren durch eine Wohngegend. Jutta ließ den Dückraths einen satten Vorsprung. Als wir ein weiteres Mal abbogen, erkannte ich ein Sackgassenschild.

»Was sagt denn dein Computer über unseren Standort?«, fragte ich.

»Lies doch selbst.«

Ich entzifferte die elektronische Schrift auf dem Display. »Brucknerstraße.«

»Wir scheinen am Ziel zu sein. Guck mal da hinten.«

Jutta stoppte, und ich konnte gerade noch sehen, wie der weiße Wagen rechts in einer Einfahrt verschwand.

»Und jetzt? Soll ich parken? Oder willst du weiter hinterher?«

Ich sah mich um.

»Weiter hinterher schon, aber zu Fuß. Bleib mal mit dem Wagen so weit weg wie möglich.«

»Was hast du vor?«

»Ich werde mich auf dem Grundstück umsehen, auf das sie abgebogen sind. Vielleicht finde ich ja was Interessantes.«

»Das ist keine gute Idee«, sagte Jutta. »Aufgrund deiner unglaublichen Professionalität kennen dich die beiden jetzt. Weißt du was? Ich glaube, es ist besser, wenn ich da mal hingehe.«

»Bist du verrückt? Das ist viel zu gefährlich!«

»Was soll denn schon passieren? Da hinten sind Bäume, da geht's in den Wald. Ich bin eine harmlose Spaziergängerin, die im Vorbeigehen einen Blick auf das Grundstück wirft.«

»Aber geh kein Risiko ein, klar? Nicht das Grundstück betreten. Denen ist alles zuzutrauen.«

Jutta grinste. »Was denkst du denn, was die machen? Mich gefangen nehmen? Mich umbringen?« Sie runzelte die Stirn. »Mal sehen, vielleicht komme ich sogar mit ihnen ins Gespräch. Ich könnte ja nach dem Weg fragen. Oder nach der Uhrzeit.«

»Das tust du nicht!«, rief ich.

Jutta legte mir die Hand auf den Arm und sah mich an. »Ganz ruhig, Remi. Ich verspreche dir, dass ich nichts Unbedachtes tue, klar? Ich nehme mein Handy mit und melde mich, wenn ich an ihnen vorbei bin.«

»Ist in Ordnung.«

Jutta stieg aus, schloss die Tür, ging aber nicht los, sondern öffnete den Kofferraum. Ich hörte sie hinten herumwühlen, und als sie wieder in mein Blickfeld kam, trug sie eine dicke Jacke. Auch seine Garderobe musste man in diesem Nobelauto aus Platzgründen im Kofferraum verstauen. Und wenn man dann noch zwei Brötchen gekauft hatte, war hinten alles voll. Ich fragte mich, was man unternahm, wenn man im strömenden Regen aus so einem Z4 steigen musste. Wie kam man trockenen Fußes an den Kofferraum, um den Regenschirm zu holen? So was war nicht vorgesehen. Entweder man verließ das Auto in einer Garage mit Zugang zum Haus. Oder in einem Parkhaus. Oder vor einem Hotel, vor dem ein uniformierter Portier mit einem Monsterschirm bereitstand. Und genau so war das ja in Juttas Welt.

Sie lächelte mir noch einmal zu, dann bewegte sie sich an den parkenden Autos vorbei in die Richtung, in die der weiße Transporter verschwunden war.

Als ich das erste Mal auf die Uhr sah, konnte ich die Zeit, die Jutta weg war, nur schätzen. Ich tippte auf fünf Minuten.

Dann riss ich mich zusammen und wartete weitere fünf.

Die Straße lag still da. Kein Auto, kein Fußgänger, niemand in den Gärten.

Ich nahm mein Handy und wählte Juttas Nummer. Ihr Anschluss war nicht erreichbar.

Wut stieg in mir hoch. Wenigstens ihr Telefon hätte sie anmachen können!

Nach weiteren drei Minuten tat sich etwas am Ende der Straße. Ein Wagen näherte sich. Es war der weiße Transporter.

Ich duckte mich, so tief ich konnte, als er vorbeikam. Noch während sich das Motorengeräusch hinter mir in der Ferne verlor, tastete ich nach meinem Telefon. Ich wollte gerade den Redial-Knopf drücken, da begann es zu vibrieren.

»Remi, ich bin's.«

»Jutta, was machst du, verdammt noch mal? Warum hattest du dein Handy aus?«

»Ich habe gesagt, ich melde mich. Und das tue ich hiermit.«

»Und was haben wir jetzt davon? Die Typen sind gerade an mir vorbeigefahren, und wahrscheinlich sind sie jetzt über alle Berge.«

»Das ist egal.«

»Warum das denn?« Was egal ist, bestimme ich, hätte ich am liebsten gerufen, aber mir fiel noch rechtzeitig ein, wie bescheuert das klang.

»Quatsch nicht so viel und komm rüber. Das Grundstück steht zur Begutachtung bereit. Wenn du so weitertrödelst, sind sie wieder hier, bevor du die hundert Meter gegangen bist.«

Ich drückte den roten Knopf, zog den Zündschlüssel ab, verließ das Auto und drückte auf die Fernsteuerung der Zentralverriegelung.

Jutta wartete am Ende der Straße. Hinter ihr verlief ein Weg zwischen Bäumen hindurch. Neben ihr zweigte eine Einfahrt ab. Sie ging erst ein Stück steil bergab. Weiter unten gab es so was wie eine Wellblechhütte. Daneben eine Menge Müll. Das Grundstück war größer, als man von hier oben ahnen konnte. Ein Teil davon schien mit dem waldigen Brachland zu verschmelzen.

»Wo geht's denn da hin?«, fragte ich, und meine Stimme klang ungehaltener als gewollt.

»Du hast mir ja verboten, da runterzugehen«, sagte Jutta. »Der Weg hier oben führt jedenfalls zu einer Fußgängerunterführung unter der Schnellstraße durch.«

»Dann hast du ja gar nicht mitgekriegt, was die da unten gemacht haben?«

»Das war ganz leicht von hier oben zu sehen. Sie haben den Wagen beladen. Rate mal, womit.«

»Was weiß ich?«

»Mit vier Ersatzrädern. Und jetzt kannst du dir auch ausmalen, wo sie hingefahren sind.«

»Okay«, sagte ich. »Ich gebe mich geschlagen. Trotzdem sehe ich mir das da unten mal genauer an.«

»Nur zu, mein Lieber. Deswegen habe ich dich ja hergeholt.«

Ich sah mich um. Die Straße war immer noch wie ausgestorben. »Du gehst zum Wagen zurück, oder besser bis zur Einmündung.

Wenn sie plötzlich zurückkommen, kann ich mich noch in die Büsche schlagen.«

»Geht klar, Chef.«

»Keine Ironie bitte.«

Jutta machte sich schweigend auf den Weg, und ich marschierte zügig den Weg zu den Baracken hinunter. Der Untergrund war matschig, und ich musste zusehen, dass ich nicht ausrutschte. Soweit ich das beurteilen konnte, war die Einfahrt von benachbarten Häusern aus kaum einsehbar. Die Giebelwand, die an das Grundstück der Dückraths angrenzte, besaß kein Fenster. Es gab nur ein paar diagonal verlaufende Glasbausteine.

Die Hütte war massiver, als ich gedacht hatte. Die Tür besaß ein BKS-Schloss. Der Haufen von undefinierbarem Zeug, von dem ich oben an der Straße gedacht hatte, es sei Müll, waren mehr oder weniger zerstörte Fliesen. Dückrath schien hier so was wie ein Lager zu haben.

Auf der Rückseite der Baracke gab es ein kleines Fenster. Ich spielte mit dem Gedanken, es einzuschlagen und meine Untersuchung drinnen fortzusetzen. Aber was erwartete ich da drin? Die Lösung für das Rätsel des toten Kindes? Kaum. Aber mir hätte schon ein Hinweis auf irgendeine Straftat gereicht. Ein paar weitere versteckte Waffen zum Beispiel. Irgendetwas, womit ich den beiden Mölich oder Krüger auf den Hals hetzen konnte.

Ich stapfte eine Weile unschlüssig zwischen den Pfützen herum, entfernte mich ein Stück von dem kleinen Gebäude weg und kehrte schließlich zurück. Plötzlich donnerte mein Ellbogen durch die Scheibe des Fensters. Irgendetwas in mir hatte sich wohl entschieden.

Zügig stieg ich in die Baracke ein und stand zwischen sauber gestapelten Kartons. Ich versuchte, einen anzuheben, er war sehr schwer. Ich riss an der Verpackung, und was zum Vorschein kam, waren Fliesen. Rötliche, gelbe, blaue, ockerfarbene, auch weiße wie für einen Metzgerladen.     

»Du machst aber kein besonders glückliches Gesicht«, sagte Jutta, als ich wieder oben an der Straße angekommen war.

»Lass uns zum Auto zurückgehen«, brummte ich. »Hier kommen wir nicht weiter.«

Eigentlich hätte ich jetzt von Jutta eine spöttische Bemerkung erwartet, aber die kam nicht. Offenbar strahlte ich meine schlechte Laune sehr deutlich aus. Noch auf dem Weg zum Auto zog ich mein Handy hervor.

»Wen willst du anrufen?«, fragte Jutta.

»Den Polizeipräsidenten«, sagte ich und suchte Mölichs Nummer aus dem Speicher. Es tutete.

»Mölich.«

»Rott hier. Haben Sie was über Ratniks Auswanderung herausbekommen?«

»In der Tat. Ein gewisser Jonas Ratnik hat ein Visum für Kanada beantragt.«

»Hat er die Reise wirklich angetreten?«

»Er hat das Visum im Flugzeug gestellt. Und geflogen ist er am 27. April.«

Zwei Tage, nachdem das Kind umkam, dachte ich. »War er allein?«

»Wie meinen Sie das?«

»Er lebte doch mit einer Frau auf der Hütte. Einer Frau, die Maria hieß. Können Sie nicht rauskriegen, ob eine Frau namens Maria mit in dem Flugzeug war?«

Mölich lachte wie ein Lehrer über ein Kind, das eine dumme Bemerkung gemacht hat. »Wie stellen Sie sich das denn vor, Rott? Sie brauchen dafür mindestens den Nachnamen der Frau!«

»Sie müssen ihn in Kanada suchen lassen! Wir müssen ihn unbedingt zu dieser Maria befragen. Außerdem wird er sicher wissen, was mit seinem Kind passiert ist.«

»Wir wissen schon, was wir tun müssen. Und im Übrigen ist die Informationsstunde jetzt beendet. Sie haben mich um diesen Gefallen gebeten, ich habe ihn Ihnen getan. Und jetzt ist Sense. Wollten Sie nicht sowieso die Finger von dem Fall lassen?«

»Ich kann mich nicht erinnern, das jemals angekündigt zu haben«, sagte ich. »Und ich werde es auch jetzt nicht tun. Vor allem, wo es wieder mal neue Verdächtige gibt.«

»Verdächtige«, wiederholte Mölich langsam. »Und wieder mal. Hört, hört. Sie tun gerade so, als hätte es jemals einen Verdächtigen in diesem Fall gegeben.«

»Ich bin zwei Typen auf die Spur gekommen, von denen mich der eine andauernd verfolgt. Das habe ich Ihnen doch schon erzählt.«

»Und das sind gleich Verdächtige?«

»Es sind Vater und Sohn. Sie heißen Dückrath. Sie wohnen in der Landwehrstraße in Solingen, und da gibt es in der Brucknerstraße noch so ein Grundstück. Ich glaube, der Alte ist Fliesenleger.«

»Welchen Beweis haben Sie denn gegen die beiden?«

»Sie fahren einen weißen Transporter. Und der junge Dückrath hatte eine Pistole und ein Springmesser dabei.«

»›Hatte‹? Haben Sie ihm die Waffe etwa abgenommen?«

»Ja, und …«

»Das heißt, Sie sind jetzt im Besitz einer verbotenen Waffe. Und jetzt muss ich Sie verhaften, oder was? Mensch, Rott! Das sind doch alles keine Beweise! Weiße Transporter gibt's wie Sand am Meer, und der Mann wird den Waffenbesitz abstreiten.«

»Ich dachte, Sie könnten wenigstens mal nachsehen, ob gegen die Leute was vorliegt.«

»Lassen Sie mich in Ruhe, Rott. Wir haben genug andere Dinge zu tun. Kommen Sie wieder, wenn Sie was in der Hand haben.«

»Das werde ich«, sagte ich, doch die Verbindung war schon unterbrochen.