4. Kapitel

Ein rothaariges Mädchen hielt mir eine knallrote Billardkugel hin und lächelte. Es dauerte eine Weile, bis ich sie erkannte. Es war Svetlana.

»Ein Geschenk für dich«, sagte sie; ich nahm die Kugel, die sich warm und glatt anfühlte und überraschend schwer war.

»Lass sie nicht fallen«, sagte Svetlana, und ihre Stimme klang merkwürdig. Als hätten da zwei Svetlanas gesprochen. Als ich hochsah, stand sie gleich zweimal vor mir. Sie lächelte doppelt, strich sich in zweifacher Ausfertigung das rote Haar zurück, und ich war so perplex, dass mir die Kugel aus der Hand rollte. Ich sah in Svetlanas schreckgeweitete Augen; sie öffnete den Mund, wahrscheinlich, um zu schreien, doch dann knallte die Kugel auf den Boden, sie zerplatzte, Blut spritzte, als wäre eine mit roter Farbe gefüllte Wasserbombe explodiert, dann lag Svetlana auf der Intensivstation, umgeben von Schläuchen und elektronischen Geräten, und ein junger Arzt schüttelte immer nur den Kopf.

Es war halb neun, als ich zum ersten Mal die Agentur »Strings and more« anrief. Es meldete sich nur ein Anrufbeantworter, und das blieb so, als ich es alle fünf Minuten immer wieder versuchte.

Um neun ging ich zur Bank, zahlte einen dicken Batzen von Frau Weitershagens Vorschuss ein und holte auf dem Rückweg beim Bäcker in der Friedrich-Ebert-Straße zwei Brötchen. Zu Hause setzte ich Kaffee auf und griff wieder zum Telefon.

Um kurz vor zehn waren die Brötchen gegessen und die Kaffeekanne leer, und endlich bekam ich in der Agentur jemanden an die Strippe. Ich dachte erst, ich hätte mich verwählt. Die Frau am anderen Ende der Leitung klang wie eine Zwölfjährige.

»Das tut mir Leid«, sagte das Kind und versuchte krampfhaft, einen geschäftsmäßigen Ton an den Tag zu legen, »aber da müssen Sie sich mit Frau Kniesbeck persönlich in Verbindung setzen. Ich kann Ihnen unmöglich Herrn Rosenbergs Handynummer geben.« Das Wort »unmöglich« betonte sie, indem sie fein säuberlich die Silben trennte.

»Und wann kann ich Frau Kniesbeck erreichen?«, fragte ich. »Die Sache ist ziemlich dringend.«

»Frau Kniesbeck wird gegen zwölf im Büro sein«, bekam ich von der Piepsstimme zu hören.

»Ich glaube, Sie haben mich nicht richtig verstanden.« Ich verschärfte meinen Ton. »Mein Name ist Rott, und ich arbeite für die Staatsanwaltschaft Wuppertal. Wir ermitteln in einem Mordfall, und es sieht so aus, als sei Herr Rosenberg ein wichtiger Zeuge für uns. Vielleicht können Sie mir wenigstens sagen, wo er sich im Moment aufhält.«

Die Nummer mit dem Staatsanwalt wirkte manchmal Wunder. So auch jetzt.

»Herr Rosenberg ist mit seinem Quartett in Köln«, erklärte das Mädchen spitz. »Er probt für ein Konzert heute Abend in der Philharmonie. Ich glaube kaum, dass es möglich sein wird -«

»Wann sind diese Proben?«, fiel ich ihr ins Wort.

»Ab zehn Uhr«, erklärte sie wie eine Schülerin, die beweisen will, dass sie ihre Hausaufgaben gemacht hat. »Und sie dauern bis zwei.«

»Und danach?«

»Danach möchte Herr Rosenberg wie immer bis zum Konzert nicht gestört werden. Und daher ist es völlig un-mög-lich -«

»Ich gebe Ihnen jetzt meine Handynummer. Und die geben Sie Frau Kniesbeck, sobald sie ins Büro kommt. Sie soll mich zurückrufen. Und ich meine natürlich: sofort, wenn sie zurückkommt. Klar?«

Ich verließ mein Büro und orientierte mich im Auto kurz anhand eines Kölner Stadtplans.

Als ich hinter dem Kiesbergtunnel auf die Autobahn kam und die Höhe erreichte, hatte ich den Eindruck, mein alter Golf würde erleichtert aufatmen. Ich hatte den Wagen gebraucht von meinem Kumpel Manni erstanden, der damit in der Anfangsphase seiner Computerfirma kreuz und quer durch die Gegend gefahren war, um Kunden zu besuchen. Dafür war der Wagen noch ziemlich gut in Schuss. Schon dreimal war der Kilometerzähler wieder auf null gesprungen; jetzt hatte die Maschine fast dreihundertzwanzigtausend Kilometer drauf.

Der Verkehr hielt sich in Grenzen, und es dauerte nur eine knappe Dreiviertelstunde, bis ich hinter der Zoobrücke zur Rheinuferstraße hinunterkurvte. Kurz darauf erreichte ich die Rückseite des Kölner Hauptbahnhofs und folgte der Beschilderung, die mich unter den Gleisen hindurch in das Philharmonieparkhaus führte.

Den Diensteingang des Konzertsaals bewachte ein älterer Mann in hellblauem Hemd, der hinter einer Glasscheibe saß und mich durch dick berandete Brillengläser eingehend musterte. Der Zugang war durch eine zweite Glastür versperrt, die der Pförtner öffnen musste. Ich hatte vorher den Eingang eine Weile beobachtet und gesehen, wie das lief, wenn jemand Kölns Musentempel Nummer eins betreten wollte. Es war sonnenklar, dass man einen guten Grund brauchte, um hineingelassen zu werden. Aber ich war vorbereitet.

»Hier im Hause probt das Rosenberg-Quartett«, sagte ich.

»Richtig«, bestätigte der Pförtner.

Ich hielt einen dicken Briefumschlag in die Höhe. »Für die Aufführung heute Abend fehlen Noten. Ich bin eigens aus Düsseldorf gekommen, um sie Herrn Rosenberg zu bringen und die Änderungen durchzusprechen. Würden Sie mich durchlassen?«

In dem Kuvert waren alte Computerkataloge, die seit Mannis Zeiten in dem Golf herumlagen. Aber das sah man dem Päckchen nicht an.

»Eigentlich wollten die Künstler nicht gestört werden«, sagte der Pförtner, und ich erkannte ein Quäntchen Unsicherheit in seinem Blick.     

»Das ist eine Ausnahme. Frau Kniesbeck von der Agentur hat mich extra angerufen.« Ich sah auf die Uhr, um anzudeuten, dass die Sache ziemlich dringend war. Schließlich nickte der Mann, streckte den Arm aus und drückte auf einen Knopf. Die Innentür summte.

»Gleich hier rechts runter«, rief er.

»Danke«, sagte ich und lächelte so verbindlich ich konnte.

Ich gelangte in ein Treppenhaus, von dem rechts ein Gang abzweigte. Ganz am Ende kam ich zu einer geschlossenen Tür. Aus dem Raum dahinter erklangen merkwürdige Geräusche.

Ich klopfte. Die Geräusche hörten nicht auf. Sie erinnerten an Katzengejammer.

Ich klopfte wieder. Das Gejammer blieb.

Ich drückte die Klinke nach unten und ging einfach hinein. Mir bot sich ein seltsames Bild.

In der Mitte des Raumes saß ein junger Mann mit einem Cello zwischen den Knien. Er strich darauf herum, was das Zeug hielt. Drei andere hatten je eine Fiedel unter dem Kinn und produzierten ebenfalls irgendwelche Misstöne. Sie saßen aber nicht hinter Notenpulten, sondern umkreisten ihren Kollegen in langsamem Marsch. Es wirkte wie ein fremdartiges Ritual. Als sie mich sahen, brachen sie abrupt ab und starrten mich an. Ich kam mir vor, als wäre ich in eine Umkleidekabine voller halbwüchsiger Mädchen geraten.

»Was wollen Sie denn hier?«, fragte einer von den vieren. Es war der Typ mit der eigenartigen Frisur.

»Sind Sie Herr Rosenberg?«, fragte ich.

»Wer hat Sie hier reingelassen?«, fragte er giftig. »Ich hatte ausdrücklich verlangt, dass uns niemand stört!«

»Mein Name ist Rott«, stellte ich mich vor, ging einen Schritt in den Raum hinein und schloss die Tür hinter mir.

»Wir haben hier eine schwierige Probe«, erklärte er und hob dabei die Stimme so sehr, dass sie zu brechen drohte. Gleichzeitig wurde sein eben noch blasser Teint rötlich.

»Nur eine Minute«, sagte ich.

»Wir haben jetzt keine Zeit! Auch keine Minute. Nicht mal eine Sekunde!«

Der Musiker in der Mitte blieb wie erstarrt sitzen; die beiden anderen verzogen sich in den hinteren Bereich des Raumes, wo ein großer schwarzer Flügel stand. Nur Rosenberg blieb vorn stehen. Angespannt wie ein Wachhund. Offenbar war er in jeder Hinsicht der Chef der Truppe.

»Was proben Sie denn?«

»Ein neues Streichquartett, das heute Abend uraufgeführt wird.«

»Interessant.«

Rosenbergs Stimme klang ehrfurchtsvoll. »Sehr sogar. Es heißt ›Kreisspiel‹. Von Kaihans Bockhausen. Ein neuer Teil seines Zyklus' ›Schwärze‹.«

»Soso.«

»Also, was wollen Sie?«

»Ich komme von der Staatsanwaltschaft Wuppertal und habe ein paar dringende Fragen an Sie.«

»Jetzt?«

»Durchaus. Ich ermittle in einem Mordfall.«

»Das geht nicht. Bitte gehen Sie.« Er hob den Geigenbogen, und das musste so etwas wie ein Kommando sein. Die beiden Musiker am Flügel nahmen wieder ihre Instrumente und kehrten stumm in die Mitte des Raumes zurück. Der Cellist konzentrierte sich einen Moment und setzte den Bogen auf die Saiten. Schlagartig ging das misstönende Gefiedel wieder los.

»Moment mal«, schrie ich in den Krawall hinein. »Ich glaube es ja wohl nicht!«

Das Gedudel erstarb; nur Rosenberg machte verbissen weiter, und seine Geige jammerte noch kurz allein. Dann gab er es auf. Die Röte, die sein Gesicht überzogen hatte, wurde dunkler, und er funkelte mich wütend an.

»Hören Sie, wir können uns jetzt nicht mit Ihnen beschäftigen. Wir stehen vor einer bedeutenden Uraufführung. Herr Bockhausen wird persönlich anwesend sein und -«

»Sie haben mich wohl nicht richtig verstanden«, brüllte ich dazwischen. »Sie werden mir doch wohl eine Minute von ihrem Meisterwerk opfern können. Es geht um den Tod eines Menschen!«

Er atmete deutlich aus und ließ sein Instrument sinken. »Gut. Fragen Sie.« Er stapfte durch den Raum, nickte den anderen zu, und alle brachten ihre Instrumente zum Flügel. Der Mann in der Mitte zündete sich eine Zigarette an. Er war dunkelhaarig und wirkte etwas schmächtig. Ich hatte den Eindruck, er war der Jüngste von den vieren, die allesamt höchstens Ende zwanzig waren. Rosenberg drehte sich wieder zu mir. Seine grotesk abstehenden Haare begannen in den Spitzen leicht zu zittern. Ich senkte beschwichtigend die Hände.

»Regen Sie sich bitte nicht auf. Ich sehe ein, dass Sie da etwas sehr Wichtiges machen«, sagte ich gegen meine Überzeugung. »Und ich fasse mich kurz. Es geht um den 25. April dieses Jahres. Sie haben an diesem Abend im Theater- und Konzerthaus in Solingen einen Auftritt gehabt. Ist das richtig?«

Rosenberg grinste spöttisch und schüttelte den Kopf. »Wie soll ich all unsere Konzerte im Kopf behalten? Aber wenn Sie es sagen, wird es schon stimmen.«

»Das war am Abend vor der Tournee«, meldete sich von der Wand aus der rauchende Cellist zu Wort, und Rosenberg drehte sich um. Sein Gesichtsausdruck wirkte erst überrascht, dann wütend. Wahrscheinlich war es den Untergebenen seiner Truppe verboten, ungefragt zu reden.

»Ja, stimmt«, sagte Rosenberg, ohne den Blick von dem Jüngelchen zu nehmen. »Und weiter?«

»Wo sind Sie an diesem Abend nach dem Konzert hingefahren?«

Rosenberg erwies mir die Gnade, mir den Kopf wieder zuzuwenden. »Warum wollen Sie das wissen?«

»Beantworten Sie einfach meine Frage«, sagte ich. »Glauben Sie mir, so kommen wir am schnellsten voran.«

Rosenberg zuckte mit den Schultern. »Nach Köln wahrscheinlich. Da wohnen wir nämlich.«

»Und wie geht das so vor sich? Ich meine, sind Sie in den Zug gestiegen, oder haben Sie einen Wagen?«

Die vier schwiegen.

»Wir sind mit Marlene gefahren«, sagte der Cellist plötzlich.

»Wer ist Marlene?«, fragte ich.

»Marlene Kniesbeck«, sagte Rosenberg. »Unsere Managerin.«

»Hat sie damals auf dem Parkplatz gegenüber vom Theater- und Konzerthaus ihr Auto abgestellt?«

»Mein Gott«, rief Rosenberg aus. »Das weiß ich nicht mehr.«

Ich drehte mich zu dem Cellisten, und der zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es auch nicht. Es kann aber so gewesen sein.«

»Und was ist mit den beiden Geigen-Kollegen?«, fragte ich in die Runde. »Wissen Sie es vielleicht noch?«

»Der eine spielt nicht Geige, sondern Bratsche«, erklärte Rosenberg.

»Wie dem auch sei«, sagte ich. »Es geht um Folgendes.« Ich erklärte in kurzen Sätzen, was in der Potsdamer Straße an diesem Abend geschehen war und dass auf dem Weg zum Fundort des Kindes Grundmann die Musiker gesehen hatte.

»Und wenn wir das gewesen sind - ist das so wichtig?«, fragte Rosenberg. »Oder wollen Sie etwa behaupten, dass wir damit etwas zu tun haben?«

»Ich behaupte gar nichts«, sagte ich. »Aber wichtig ist es natürlich. Vielleicht haben Sie ja eine Beobachtung gemacht, die uns im Zusammenhang mit anderen Zeugenaussagen weiterhilft.«

Rosenberg kratzte sich am Kopf. Er wirkte jetzt deutlich beruhigter. Auch seine Gesichtsfarbe war wieder etwas heller geworden. »Wir haben an dem Abend gespielt, dann waren wir mit Marlene und dem Veranstalter essen. Marlene hat uns anschließend mit nach Köln genommen.«

»Wo waren Sie essen? Im ›Luzifer‹?«

Er schüttelte den Kopf. »Direkt gegenüber vom Konzertsaal gibt es ein Restaurant. Ich weiß nicht mehr, wie es heißt. Aber ›Luzifer‹ bestimmt nicht.«

»Um welche Uhrzeit waren Sie denn am Wagen? Kann das so um Mitternacht gewesen sein?«

»Kann sein. Keine Ahnung.«

Die anderen sagten nichts. Bei den zwei Fiedlern hatte ich sowieso das Gefühl, dass sie stumm waren.

Schließlich meldete sich der Cellist wieder zu Wort. »Das Auto stand auf einem großen Parkplatz. Groß und dunkel. Daran kann ich mich erinnern. Und man musste ein Stück durch eine Seitenstraße gehen.«

Ich nickte. »Sehen Sie. Langsam kommen ja die Erinnerungen.« Mir fiel ein, was Jutta gesagt hatte. »Warum hat Ihre Agentin eigentlich an der Potsdamer Straße geparkt und nicht hinter dem Gebäude, wo es für die Künstler Parkplätze gibt?«

»Vielleicht waren sie schon besetzt«, sagte Rosenberg. »Oder sie hat es vor dem Konzert so eilig gehabt, dass sie den erstbesten Parkplatz genommen hat. Sie kommt oft in letzter Minute.«

»Gut. Und wie ist das Ganze dann abgelaufen? Sie sind also nach dem Restaurantbesuch zum Wagen gegangen. Ist Ihnen auf dem Weg etwas aufgefallen?«

»Natürlich nicht«, sagte Rosenberg. »Wenn wir gesehen hätten, wie jemand ein Kind überfährt, hätten wir ja die Polizei geholt, das können Sie mir glauben.«

»Vielleicht haben Sie einen Wagen gesehen. Einen, der zu schnell gefahren ist. Oder eine Person, die sich auffällig verhalten hat. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein. Bitte denken Sie nach.«

Ich blickte in die Runde und sah nur Ratlosigkeit. Alle schüttelten die Köpfe. Auch die beiden Stummen. Immerhin waren sie nicht taub. Obwohl - ich fragte mich, wie man als hörender Mensch solche Musik machen konnte.

Rosenberg griff nach seiner Geige. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn wir jetzt weitermachen könnten.«

Ich nickte. Aus denen war wohl nichts weiter rauszuholen.

Sofort sammelten sie sich wieder in der Mitte, um ihr Katzengejammer aufzuführen. Mir war schleierhaft, was man da überhaupt so lange proben musste.

»Eine Sache noch«, sagte ich.

Rosenberg sah mich an. »Ja?«

»Die Polizei hat Sie damals nicht zu der Sache befragt, oder?«

»Das müssten Sie doch wissen. Kommen Sie nicht von der Staatsanwaltschaft?«

Ich grinste. »So wie Sie nicht alle Ihre Konzertdaten im Kopf haben, so kenne ich nicht alle Akten auswendig.«

»Nein. Uns hat niemand befragt.«

»Und Sie haben auch nichts von dem Tod des Mädchens gewusst?«

»Nein«, sagte Rosenberg, und ich spürte, wie er wieder unruhig wurde.

»Das ist erstaunlich, Herr Rosenberg«, sagte ich und legte so viel Misstrauen wie möglich in meine Stimme. »Sehr erstaunlich sogar. Wenn ich offen sein soll, kann ich das gar nicht glauben.«

»Ach ja? Wieso nicht?«

»Wochenlang stand die Geschichte in allen Zeitungen. Es wurde sogar ein Bild des Mädchens abgedruckt, um Angehörige oder Zeugen zu finden. Es meldete sich aber niemand. Absolut niemand, der das Mädchen gekannt haben könnte.«

»Wir haben es auch nicht gekannt«, sagte der Cellist. »Was hätten wir denn der Polizei sagen können?«

»Das meine ich nicht«, sagte ich. »Sie hätten aber von der Sache wissen können. So was vergisst man doch nicht. Wenn man genau an der Stelle vorbeikommt, wo so etwas passiert ist.«     

»Stopp«, sagte Rosenberg. »Einen Moment.« Zum ersten Mal, seit ich hier im Raum war, wandte er sich an seinen Cellokollegen. »Hanno, wann war das noch mal?«

»Am 25. April«, sagte ich, ehe Hanno etwas sagen konnte.

Rosenberg nickte, die Spitzen seiner Haare zitterten wieder ein bisschen; dann breitete sich auf seinem Bubigesicht ein breites Grinsen aus. »Ich glaube, Sie haben falsche Vorstellungen von unserem Beruf, Herr …«

»Rott«, half ich ihm auf die Sprünge.

»Herr Rott. Wir haben am 25. in Solingen dieses Konzert gegeben. Am nächsten Morgen sind wir vom Flughafen Düsseldorf aus nach Tokio geflogen. An diesem Tag begann unsere große Asien-Tournee. Sie dauerte sechs Wochen, und danach war jeder von uns zwei Wochen in Urlaub. Dann ging es auf verschiedene Festivals -hauptsächlich in Kalifornien und an der amerikanischen Ostküste. Das heißt…«

»Das heißt, Ihr Quartett ist ziemlich gut im Geschäft. Und Sie waren nicht da, um die Zeitungen zu lesen. Sie haben nichts gesehen und nichts gehört.«

»So ist es.«

»Vielleicht darf ich Ihnen meine Karte geben, falls Ihnen doch noch was einfällt. Dann lasse ich Sie jetzt in Ruhe, damit Sie weiter Ihren Kreisverkehr proben können.« Ich suchte in meiner Jackentasche.

»Kreisspiel«, berichtigte Rosenberg.

Plötzlich meldete sich der Cellist wieder.

»Einen Moment«, sagte er.

»Was denn nun noch?«, brummte Rosenberg genervt.

»Ich glaube, es gibt doch etwas.«

»Hanno, wir müssen jetzt proben«, insistierte Rosenberg. Die beiden stummen Kollegen standen bereits parat.

»Das ist aber vielleicht wichtig.« Er stand auf, lehnte sein Cello auf den Stuhl und ging zum Flügel, auf dem der Kasten für sein Instrument lag.

»Sie müssen mir glauben, dass mir das eben erst eingefallen ist«, sagte er.

»Hanno!«, rief Rosenberg, aber der andere achtete nicht auf ihn.

»Kommen Sie bitte mal hier rüber«, sagte der Cellist und griff in seinen Kasten. »Das hier habe ich an diesem Tag auf dem Parkplatz gefunden.«

Er holte etwas Buntes hervor. Ein paar farbige Plastikplättchen, die mit dünnen Nylonfäden miteinander verbunden waren. Sie waren rot, grün, blau und gelb. Auf das obere Plättchen, das den Kopf darstellte, war ein Gesicht aufgemalt - ganz primitiv nach dem Schema Punkt, Punkt, Komma, Strich.

Er reichte mir das Ding, und ich erkannte, dass es ein einfacher kleiner Hampelmann war.

»Davon hast du nichts gesagt«, kam es von Rosenberg.

»Weil du die ganze Zeit mit Marlene über die Tournee palavert hast«, erklärte der Cellist. »Das Ding hier lag direkt neben dem Auto.«

Ich sah es mir genauer an. Auf dem größten Plastikplättchen, das den Körper der Figur bildete, stand etwas mit kleiner gelber Schrift. »Sondermann und Co. Köln« las ich. »Ihr Spielwarenpartner«. Das Ding war wohl so etwas wie ein Werbegeschenk. »Jetzt sagen Sie mir eins«, sagte ich. »Warum heben Sie so was auf und nehmen es mit?«

Der Cellist lächelte. »Ich hatte gedacht, es bringt uns auf der bevorstehenden Tournee Glück. Wissen Sie, wir waren alle ziemlich nervös. Die Tour sollte ein wichtiger Durchbruch werden.«

Ich nickte.

»Kann ich das vielleicht mitnehmen?«, fragte ich.

Er verzog das Gesicht. »Muss das sein? Heute Abend haben wir eine wichtige Aufführung vor uns.«

»Allerdings«, meldete sich Rosenberg. »Und wir haben schon eine Viertelstunde Probenzeit verloren.«

Ich zog einen Zettel aus der Tasche. »Geben Sie mir Ihre Telefonnummer. Wenn ich noch was zu dem Ding wissen will, rufe ich Sie an.«

Er nickte und schrieb mir eine Handynummer auf.

»Dann wünsche ich viel Glück für heute Abend«, sagte ich und marschierte zurück in Richtung Ausgang.

Dünnes Eis, dachte ich, als ich draußen war. Sehr, sehr dünnes Eis. Natürlich konnte das Kind etwas mit diesem Hampelmann zu tun haben. Aber wäre das nicht ein zu großer Zufall? Aber was hatte so ein Spielzeug nachts auf einem Parkplatz zu suchen?

Ich ging hinunter zum Rhein, wo trotz des trüben Herbstwetters viele Spaziergänger unterwegs waren. Es reizte mich, Mölich anzurufen und ihm mit meinem kleinen Erfolg ein bisschen vor der Nase herumzuwedeln. Vielleicht beeindruckte ihn das ja, und er rückte doch noch mit ein paar Informationen heraus. Ich stellte mich an das Geländer. Links von mir streckte sich die Hohenzollernbrücke über den Fluss. Gerade kam ein Zug herübergerattert, und eine Schar Möwen erhob sich wie auf Kommando von den Lagerplätzen zwischen dem Stahlgestänge, flog ein Stück und ließ sich auf dem Wasser nieder. Ich tippte Mölichs Nummer in mein Handy, und der Hauptkommissar meldete sich nach dem zweiten Klingeln.

»Mölich.«

»Rott. Ich grüße Sie«, sagte ich freundlich.

»Ah, der Mann mit dem interessanten Namen.«

»Gut gemerkt.«

»Na, haben Sie sich einen anderen Fall gesucht?«

»Der hier gibt noch ganz gut was her. Deswegen rufe ich auch an.«

»Ach?« Es klang ehrlich erstaunt.

»Sehen Sie, es ist mir in doch ziemlich kurzer Zeit gelungen, noch ein paar bemerkenswerte Details aufzutun.«

»Ich hatte Sie gewarnt. Das ist Aufgabe der Polizei.«

»Tja, aber die Polizei kann auch mal was übersehen. Zum Beispiel gleich einen ganzen Trupp von Zeugen, der kurz vor oder kurz nach der Tat vorbeimarschiert kam.«

»Was?«

Ich erzählte ihm von dem Rosenberg-Quartett. Er hörte aufmerksam zu.

»Ein ganzer Trupp von Zeugen soll das sein? Vier Musiker, die gerade zum Parkplatz gehen?«

»Die Agentin war dabei. Es waren also fünf Personen. Und zwar fünf Personen, die Sie nicht befragt haben.«

»Dafür haben Sie es jetzt getan. Und was ist dabei rausgekommen? Nichts.«

»Das würde ich so nicht sagen, Herr Mölich. Wie es der Zufall wollte, hat das Quartett nämlich eine aufschlussreiche Entdeckung gemacht.« Ich berichtete von dem kleinen Plastikhampelmann. »Na, was sagen Sie nun?«, schloss ich. »Ich denke, das reicht als kleiner Beweis des guten Willens.«

»Was heißt hier Beweis des guten Willens? Ich dachte, ich hätte Ihnen klargemacht, dass Sie sich nicht in Polizeifälle einzumischen haben.«

»Aber nun habe ich eben etwas herausgefunden. Und ich denke, dafür sind Sie mir was schuldig. Wenn Sie mich also endlich mal in die Akten schauen ließen.«

»Wie bitte?«, brüllte Mölich plötzlich in den Hörer. »Für den Blödsinn wollen Sie auch noch eine Belohnung haben? Jetzt erzähle ich Ihnen mal was, Sie Dilettant! Wo, sagen Sie, haben die Musiker das Spielzeug gefunden?«

»Auf dem Parkplatz. Gegenüber vom ›Luzifer‹.«

»Und darauf sind Sie stolz, was?«

»Na ja. Es ist schon komisch, dass so ein Spielzeug auf dem Parkplatz rumliegt, oder?«

Ich hörte ein leises Schnauben. Mölichs Lache. »Mensch, Mensch. Da haben Sie sich aber in was verrannt.«

»Warum?«, fragte ich. »So einer Spur muss man doch nachgehen! Oder finden Sie das nicht?«

»Nein, finde ich nicht.« Mölich war wieder ernst.

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

»Wissen Sie, was auf dem Parkplatz regelmäßig stattfindet?«

»Ich denke, Sie werden es mir gleich sagen.«

»Organisierter Handel mit gebrauchten Gütern.«

»Was?«

»Im Volksmund auch Flohmarkt genannt. Haben Sie davon vielleicht schon mal was gehört?«

Scheiße, dachte ich.

»Das Ding ist von einem Flohmarkt übrig geblieben«, sagte Mölich. »Es hat mit dem Fall nicht das Geringste zu tun.« Wieder kam die Lache. Sie klang wie eine kaputte Luftpumpe.

»Wer weiß?«, sagte ich lahm.

»Ach, hören Sie doch auf! Sie sind ein Schmalspurdetektiv, wenn Sie so was als Spur bezeichnen.«

Ich brachte eine Verabschiedungsfloskel hervor und beendete das Gespräch; dann stand ich eine Weile da und starrte auf den Rhein. Die Möwen hatten sich wieder ihre Plätze auf der Brücke gesucht. Der nächste Zug würde sie aufs Neue aufschrecken.

Ich würde trotzdem mal überprüfen, woher dieser Hampelmann kam; ich würde diese Firma Sondermann ausfindig machen, der Herkunft des Spielzeugs nachgehen und dann Frau Weitershagen Bericht erstatten. Das klang nach einem erträglichen Programm für den restlichen Arbeitstag.

Als ich den Golf auf die Rheinuferstraße lenkte, war die Ampel rot. Ich wühlte im Handschuhfach herum und zog blind eine Kassette hervor. Die Musik war ebenfalls ein Relikt aus der Zeit, als der Golf noch Manni gehört hatte; genauso wie der Kugelkompass auf dem Aschenbecherdeckel. Auf den Kassetten waren durchweg Oldies: ABBA, Procul Harum, The Beach Boys und so ein Zeug. Ich steckte die Kassette in den Spieler, die Ampel sprang auf Grün, und unter den Klängen von »California Dreaming« ging es in Richtung Zoobrücke.

Die Nadel der Tankuhr befand sich tief im roten Bereich. Ich wusste, dass es in der Riehler Straße eine Aral-Tankstelle gab. Ich bog an der Bastei links ab, um über den Ebertplatz ans Ziel zu kommen. In diesem Moment dachte ich mir noch nichts dabei, dass ein alter brauner Opel hinter mir ebenfalls den Blinker setzte und mir in den Theodor-Heuss-Ring folgte.

Als ich getankt hatte und hinten in der Riehler Straße vor der Ampel stand, um zur Zoobrücke abzubiegen, wurde ich stutzig. Da stand dasselbe Auto hinter mir; dabei war ich sicher, es an der Tankstelle nicht gesehen zu haben.

So weit ich erkennen konnte, saß in dem Wagen nur der Fahrer - ein junger, teilnahmslos dreinblickender Typ mit länglichem Gesicht.

Als wir auf der Brücke waren, sorgte ich für ein bisschen Abstand, um das Kennzeichen sehen zu können. Der Wagen war aus Solingen, und er blieb wacker hinter mir.

Ich gab ordentlich Gas und brachte drei, vier Fahrzeuge zwischen uns. Sobald ich mich an die vorgeschriebenen achtzig hielt und hinter mir eine Lücke war, klebte er wieder an mir dran.

Noch immer gab es eine gewisse Chance, dass es sich nur um einen Zufall handelte.

Ich fuhr in Deutz vom Autobahnzubringer ab, lenkte den Golf dann relativ langsam an den Messehallen vorbei und bog schließlich in die Deutz-Kalker-Straße ein. Immer wieder musste ich an einer Ampel warten. Ganz am Ende kreuzte dann die Frankfurter Straße, wo es links wieder zur Autobahn ging. Dort bog ich ab. Der Braune war immer noch hinter mir. Jetzt war die Sache klar. Kein Mensch fuhr so im Kreis herum, wenn er ein Ziel hatte.

Rechts erschien die rote Backsteinmauer des Mülheimer Friedhofes. Gleich dahinter würde wieder die Zufahrt zur A4 kommen. Ich machte einen letzten Versuch und fuhr rechts ran. Der braune Opel fuhr an mir vorbei, und ich dachte schon, ich hätte Gespenster gesehen. Doch dann stoppte er ebenfalls. Hundert Meter vor mir. So weit ich das sehen konnte, stand er in der Zufahrt vor dem Eingangstor - parat, um mich weiter zu verfolgen.     

Dem Opel-Fahrer war klar, dass ich auf der Frankfurter Straße nicht wenden konnte. Ich musste also auf jeden Fall an ihm vorbei.

Was wollte er?

Was würde er tun, wenn ich zu ihm gehen und ihn zur Rede stellen würde?

Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.

Ich stieg aus, schloss den Wagen ab und marschierte auf den braunen Opel zu. Er blieb stehen; es rührte sich nichts.

Der Typ saß im Auto und las Zeitung. Ich ging auf die Fahrerseite und klopfte an die Scheibe. Der Mann drehte sich zu mir. Er gehörte zu den Leuten, die ständig den Mund offen stehen haben und deren Gesichtsausdruck deswegen unglaublich dämlich wirkt.

Er glotzte weiter, und erst als ich erneut klopfte, kurbelte er die Scheibe herunter. Sein Wagen schien genau so ein altes Schätzchen zu sein wie meiner. Ein Gefährt aus den fernen Zeiten, als automatische Fensterheber noch ein unerschwinglicher Luxus waren.

»Was ist?«

»Mich würde mal interessieren, warum Sie mich verfolgen.«

»Geht dich nichts an.«

»Meinen Sie jetzt, es geht mich nichts an, ob Sie mich verfolgen, oder meinen Sie, Sie verfolgen mich nicht, und es geht mich nichts an, was Sie hier machen? Das wäre nämlich sonst meine zweite Frage gewesen.«

»Ich weiß von nix«, sagte er, und ich bemerkte, dass seine Zähne die Farbe von verfaulten Bananen hatten. »Hau ab.« Er begann wieder zu kurbeln. Diesmal aufwärts.

Kaum war die Scheibe zwischen uns, nahm er sich wieder die Zeitung vor. Ich klopfte noch ein paarmal, aber der Mann reagierte nicht. Verbissen glotzte er auf die Schlagzeile: BOHLEN PRÜGEL ANGEDROHT. Ich stutzte. Schon wieder? Aber die Ausgabe war alt. Das Datum lautete 14. Oktober. Es ging um Bohlens Buchmessenauftritt. Für den Jungen da drin sicher eine fremde Welt. Kein Wunder, dass er so lange auf den Artikel glotzen musste, um ihn zu verstehen.

Ich ging zu meinem Wagen zurück. Wer wusste von meiner Ermittlung? Zuerst natürlich Frau Weitershagen, dann der Barkeeper und die Zwillinge aus dem »Luzifer«, außerdem Grundmann. Gerade eben hatte ich noch mit dem Rosenberg-Quartett darüber gesprochen, von Mölich ganz zu schweigen.

Zu viele, um sie zu überprüfen, ob sie irgendwas mit dem Typen im braunen Opel zu tun hatten. Jedenfalls, wenn ich den eigentlichen Fall nicht aus den Augen verlieren wollte.

Ich notierte die Autonummer und überlegte, ob mir Krüger vielleicht wieder mal helfen würde, den Fahrer zu ermitteln. So eine Recherche war nicht ganz legal, und der Hauptkommissar konnte Ärger bekommen, wenn es herauskam.

Ich versuchte es trotzdem. Ich tippte Krügers Nummer in mein Handy. Es klingelte achtmal, dann nahm eine Frau ab.

»Polizei Wuppertal. Steprath.«

Ich verlangte Krüger.

»Der Kollege Krüger ist erst morgen wieder im Büro. Kann ich etwas ausrichten?«

»Nein danke. Ich rufe morgen wieder an.« Ich unterbrach die Leitung und beschloss, die Hängeschnute da drüben zu verarzten. Ich hasse es, wenn mir Leute bei der Arbeit im Nacken hängen.

Ich startete den Golf, gab ein paarmal im Leerlauf Gas und reihte mich in den Verkehr ein. Auf der Strecke zur Autobahn raste ich so, dass der Wagen vor Schmerzen zu heulen schien.

Noch vor dem Kölner Ostkreuz war der Opel wieder da. Er hatte mehr unter der Haube als mein kleiner Diesel.

Die nächste Chance ergab sich an der Anschlussstelle Merheim. Ich täuschte vor, dort abfahren zu wollen, und lenkte den Wagen auf die Abbiegespur. Der Opel war gezwungen, ein Fahrzeug zwischen uns zu lassen. Ganz am Ende der Spur zog ich ruckartig links rüber und gab wieder gnadenlos Gas.

Ob mich der Typ da hinten gesehen hatte, konnte ich nicht erkennen, denn plötzlich war ein Laster hinter mir, aber ich war sicher, dass der Opel ganz schöne Schwierigkeiten hatte, von der Abbiegespur wieder auf die Autobahn zu kommen.

Ich machte, dass ich die Abfahrt Refrath erreichte. Zum Glück war am Ende der Spur die Ampel in Richtung Bergisch Gladbach grün, so dass ich direkt durchpreschte. Ich bog in die nächste kleine Straße ein, eine Sackgasse. Vom Wendehammer aus führte ein Fußweg in den Wald. Ich stoppte. Eine Frau mit einem Boxer an der Leine kam mir entgegen und schloss einen Mercedes-Kombi auf, während ich drehte. Ich stellte den Golf in Fahrtrichtung Hauptstraße. So konnte ich gut die Einfahrt überblicken. Ich schaltete den Motor aus. Kein Opel kam hereingefahren. Erst recht kein brauner.

Ich lehnte mich zurück und rief Frau Weitershagen an.

»Aber das sind doch schon interessante Spuren!«, sagte sie, als ich ihr von dem Streichquartett und der Plastikfigur erzählt hatte.

Ich brachte Mölichs Einwand mit dem Flohmarkt, aber davon wollte sie nichts hören. »Sie müssen das anders sehen, Herr Rott. Die Figur hat nur so lange etwas mit dem Flohmarkt zu tun, bis Sie das Gegenteil bewiesen haben. Und wenn es die einzige Spur ist, die es gibt, dann müssen Sie sie auch bis ans Ende verfolgen.«

Ich war froh, dass sie das so sah. Der Hinweis brachte mir immerhin einen zusätzlichen Tag Arbeit. Oder noch eine Stunde. Die Leute in dem Laden würden mir ihr Angebot an Werbegeschenken zeigen. Sie würden mit dem Bild von dem toten Mädchen nichts anfangen können, und dann war der Fall abgeschlossen. Oder vielmehr im Sande verlaufen. Vielleicht gab es noch eine Möglichkeit, den Fall bis morgen zu strecken, aber mehr gab ich der Sache nicht. Der Typ im Opel war vielleicht ein Verrückter gewesen.

Ich sollte mich gewaltig irren.

Die Firma Sondermann und Co. befand sich laut Auskunft ganz in der Nähe: in Dellbrück - weit oben, fast an der Grenze zu Dünnwald und, wie ich auf der Karte sehen konnte, nahe bei einem großen Baggersee.

Die Straßennamen waren anheimelnd: Es gab einen Schilfweg, einen Hyazinthenweg sowie einen Pilz- und Mohnweg. Um hinzukommen, musste man durch eine alte Siedlung mit kleinen, etwas heruntergekommenen ockerfarbenen Gebäuden. Unter den Reifen des Golfs prasselte Kopfsteinpflaster. Ab und zu sah ich auf einer Einfahrt ein Fahrzeug mit schwarzem Nummernschild. Die Siedlung war der Rest der alten Dellbrücker Belgierkolonie.

Eigenartig, dass es in dieser Gegend ein Spielzeuggeschäft geben soll, dachte ich.

Ganz am Ende ging es um eine Kurve, die Straße war jetzt auf der einen Seite in der ganzen Länge von wildem Gestrüpp begrenzt, auf der anderen standen moderne Eigenheime; jünger als die Häuser, in denen die Belgier lebten.

Ich suchte die Hausnummer, fand sie, doch dort gab es keinen Laden. Noch nicht mal ein Schaufenster. Nur eine Auffahrt, eine Haustür mit Briefkasten - und ein kleines Firmenschild.

Ich stieg aus, um die Plakette in Augenschein zu nehmen. »Sondermann & Co.« stand da.

Ich wollte gerade klingeln, da sah ich eine Bewegung hinter dem geriffelten Glas, und ein Mann mit dicker Hornbrille öffnete die Tür.

»Wenn Sie zu Sondermann möchten, sind Sie hier richtig«, erklärte er und grinste. »Treten Sie nur näher.«

Er führte mich durch einen langen Gang in einen großen Anbau, der sich hinter dem Haus befand. Durch den Raum erstreckten sich deckenhohe Regale, die mit Spielzeug voll gestopft waren. Ich sah Bälle in den verschiedensten Farben und Größen, Kästchen mit Malkreiden, Puppen, Spielzeugautos in durchsichtigen Kunststoffpackungen. An den Wänden lehnten aufstellbare grüne Tafeln mit roten Linien, darunter waren Pappschachteln mit Kreide gestapelt. Es roch nach Kunststoff und Gummi. Außer mir und dem Verkäufer war niemand da.

»Sind Sie Herr Sondermann?«, fragte ich.

»Nein, mein Name ist Antoni. Ich bin der Partner von Herrn Sondermann. Worum geht's denn?«

Ich ließ meinen Blick noch einmal über das Spielzeugparadies gleiten. Es gab sogar Turngeräte. Ein Trampolin, ein Hometrainer.

»Kommen hier viele Kunden vorbei?«, fragte ich. »Ich meine — lohnt sich das überhaupt? Ein Geschäft in so einer Wohngegend?«

»Wir verkaufen hauptsächlich an Schulen, Jugendheime und ähnliche Einrichtungen. Nicht an Laufkundschaft.«

Wir standen in der Büroecke neben einem rechtwinkligen Schreibtisch, der mit Papierkram bedeckt war. Ein Computerbildschirm zeigte Tabellen. Antoni griff nach einer Kaffeetasse, die daneben stand, und nippte daran.

»Ich möchte nichts kaufen«, erklärte ich, »sondern ich hätte gerne eine Auskunft.« Ich erzählte meine Geschichte.

»Kann ich diesen Hampelmann mal sehen?«, fragte Antoni, als ich fertig war.

»Leider nicht. Das Beweisstück ist wegen der Untersuchung der Fingerabdrücke noch nicht freigegeben«, behauptete ich. »Es geht mir jetzt darum, herauszubekommen, woher es stammt.«

Antoni schüttelte den Kopf. »Merkwürdige Sache«, sagte er und strich sich nachdenklich über das Kinn. »Wirklich sehr merkwürdig … Ich glaube, Sie sind an den falschen Sondermann geraten.«

»Was?«

»Na ja - ich wüsste nicht, dass wir jemals so einen Plastikhampelmann als Geschenk gehabt hätten.«

»Gibt es denn noch einen Spielwarenladen, der ›Sondermann‹ heißt?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Die Auskunft kennt auch nur Sie.«

»Ich rufe meinen Partner an«, sagte er. »Ich selbst bin erst ein gutes Jahr in diesem Geschäft. Vielleicht ist die Sache länger her.«

Er umrundete den Schreibtisch. »Das werden wir gleich haben.«

»Kann ich mich solange ein bisschen umsehen?«, fragte ich.

»Aber bitte.« Antoni machte eine einladende Handbewegung und ließ sich in den Bürostuhl fallen.

Ich blieb vor einem Bündel knallbunter Hula-Hoop-Reifen stehen und dachte darüber nach, ob das vielleicht ein nettes Geschenk für Jutta wäre. Sportlich, wie sie war …

Ich hörte im Hintergrund Antoni ein paar Worte wechseln. Offenbar redete der Partner am anderen Ende der Leitung viel mehr als er. Es dauerte ziemlich lange. Endlich legte Antoni auf. Ich kehrte zu dem Schreibtisch zurück.

»Es hat diese Hampelmänner gegeben. Vor einiger Zeit; mein Partner wusste selbst nicht mehr, wann das genau war, aber es muss 2002 gewesen sein. Kurz bevor ich hier anfing.«

»Und wer hat die Werbegeschenke bekommen?« Hoffentlich nicht jeder, der hier was gekauft hat, dachte ich.

»Niemand«, sagte Antoni.

»Was?«

»Herr Sondermann sagt, wir hatten diese Dinger überhaupt nicht als Werbegeschenke verwendet. Man hat sie uns nur angeboten. Aber wir wollten sie nicht haben.«     

»Moment … Verstehe ich das richtig? Sie haben die Hampelmänner nicht an Kunden verteilt? Zu keinem Zeitpunkt?«

»Ganz genau. Eine Firma hat uns ein paar Muster zugeschickt, ohne dass wir sie dazu beauftragt hätten. Einfach, um uns als Abnehmer zu gewinnen.«

Ich nickte. So was kannte ich. Es gab Firmen, die sich systematisch an andere Firmen oder Büros wandten und so genannte Schnupperangebote machten. Ich bekam in letzter Zeit immer wieder mal das telefonische Angebot, für meine Mitarbeiter einen Trinkwasserspender anzuschaffen, um - wie es hieß - das Betriebsklima zu verbessern. Ich erklärte dann, dass das Betriebsklima einzig und allein von mir abhinge und dass ich einen Wasserhahn in der Nähe hätte. Meistens sogar einen Kasten Bier.

»Warum haben Sie sie nicht genommen? Waren sie zu teuer?«

»Das kann ich im Moment nicht sagen; ich habe ja nicht darüber entschieden. Aber ich denke, dass unsere Kunden nicht die richtige Zielgruppe für diese Dinger sind. Die Kinder in Schulen und Jugendheimen sind doch schon etwas älter.«

»Was ist mit dem Muster, das Sie bekommen haben, passiert?«

Er zuckte mit den Schultern. »Weggeworfen, sagt mein Partner.«

»Wissen Sie noch, wo diese Firma war?«

»Nein, aber das werde ich jetzt für Sie heraussuchen.« Er erhob sich und verschwand in dem kleinen Gang, durch den wir von der Haustür hergekommen waren. Kurz darauf kam er mit einem Aktenordner zurück.

»Mein Partner hat das Anschreiben aufgehoben.«

»Warum? Wenn es ihn doch nicht interessiert hat.«

»Firmen, die so was herstellen, muss man sich merken. Vielleicht kommt es doch irgendwann mal zu einem Geschäft… ah ja, sehen Sie - hier ist es.«

Er holte ein Blatt aus dem Ordner und gab es mir. Es war ein computergeschriebener Brief und umfasste nur wenige Zeilen. »Wollen auch Sie sich mit unseren preiswerten Werbegeschenken erkenntlich zeigen« las ich und stellte fest, dass »erkenntlich« mit nur einem »n« geschrieben war. »Bauen auch Sie ein sicheres Netz zu Ihren Kunden auf und sorgen Sie für gute Kontakte. Man wird es Ihnen danken.« »Man« schrieben diese Leute dafür mit zwei »n«.

Oben stand der Absender: P+A-Vertriebs GmbH. Die Adresse war Bergneustadt, Kölner Straße.

»Haben Sie von der Firma in einem anderen Zusammenhang schon mal gehört?«, fragte ich.

Antoni schüttelte den Kopf.

»Ihr Partner?«

»Sicher nicht. Dann hätte er sich an sie erinnert.« Er kratzte sich wieder am Kinn und blickte durch seine dicken Brillengläser nachdenklich zu Boden.

Ich zog die Unterlagen von Frau Weitershagen aus der Tasche und zeigte ihm das Foto des toten Mädchens. »Kommt Ihnen das Kind vielleicht bekannt vor?«

Er sah es sich sehr genau an. »Sieht aus wie viele kleine Kinder.«

»Und doch ist jedes anders«, sagte ich. »Kennen Sie es nun, oder kennen Sie es nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann dazu nichts sagen.«

»Ich wäre froh, wenn ich auch mit Herrn Sondermann selbst noch mal darüber sprechen könnte. Wann ist er denn im Büro?«

»Erst morgen wieder.«

»Wissen Sie was? Machen Sie doch bitte davon eine Kopie. Die können Sie ihm ja schon mal zeigen. Und mir können Sie dabei gleich noch den Brief von dieser Bergneustädter Firma kopieren. Dann brauche ich mir die Adresse nicht aufzuschreiben. Das wäre sehr nett.«

»Kein Problem.« Ich zog eine Visitenkarte hervor und steckte sie zwischen die Tasten der Computertastatur. »Rufen Sie mich bitte an, falls Ihnen noch was zu der Sache einfällt. Bei Herrn Sondermann melde ich mich noch mal. Und vielen Dank für die Auskünfte.«

Ich nahm die Kopie des Briefes, verabschiedete mich und ging durch den Gang zurück zum Wagen.