16. Kapitel

Frau Richard wusste den Vornamen des Sohnes nicht mehr. Und ich fragte mich, ob das alles ein Zufall war.

Irgendein Mölich konnte in dem Haus gewohnt haben, das jetzt der Steuerberaterin gehörte. Irgendeiner, der jetzt in München, Hamburg, Berlin oder in Köln lebte. Und der nichts mit dem Hauptkommissar zu tun hatte. Oder …

Hinter mir hupte jemand.

Ich hatte nicht registriert, dass der Verkehr wieder langsam weiterfloss. Gehorsam schloss ich auf und kam genau an einer Ampel an, als sie wieder rot wurde. Auf der anderen Seite der Kreuzung war eine Menge Platz. Ich konnte den Fahrer hinter mir sehen, wie er mir den Vogel zeigte.

Ich starrte eine Weile vor mich hin und versuchte zu rekonstruieren, wie sich Mölich mir gegenüber verhalten hatte. Bei meinen ersten Ermittlungen war ziemlich schnell dieser junge Dückrath aufgetaucht. Ich war ihn beim ersten Mal im Kölner Osten los geworden. Dann hatte er sich wieder an meine Fersen geheftet, als ich nach Wiehl unterwegs war. Und wenn mich mein Gedächtnis nicht täuschte, dann hatte ich von meinem Plan, zu Zichorius zu fahren, nur Mölich erzählt. Und auch über unsere Nachforschungen zum Hakenkreuzwald wusste nur er Bescheid. Außer Jutta natürlich …     

Es hupte wieder. Grüner wurde die Ampel nicht. Der Mann hinter mir fuchtelte mit den Armen. Ich tat ihm den Gefallen, setzte über die Kreuzung und erreichte nach hundert Metern wieder das Stauende. Jetzt war der Typ zufrieden.

Ich musste mit Mölich reden. Ihn zur Rede stellen …

Es war sinnlos. Wenn das zutraf, was ich vermutete, würde er alles abstreiten. Außerdem war er bei der Polizei.

Ich musste eine Verbindung zwischen ihm und den Dückraths finden. Und zwischen ihm und Ratnik.

Ratnik!

Wenn der Tote da oben im Brucher Wald Ratnik war und Mölich mir erzählt hatte, dass Ratnik ausgewandert war, dann gab es für diesen Widerspruch nur eine Erklärung: Mölich hatte gelogen. Und warum hatte er gelogen? Weil er etwas zu verbergen hatte.

Sollte ich zu Krüger gehen und ihm die ganze Geschichte erzählen? Würde er die Anschuldigung eines Kollegen so einfach hinnehmen? Wenn Mölich in die Sache verwickelt war, dann hatte er auch sicher daran gedacht, wie er die Zusammenhänge verwischen konnte. Und das würde er tun, sobald ihm klar war, dass er sich im Visier befand.

Es gab nur eine Möglichkeit. Ich musste Mölich selbst unter die Lupe nehmen. Heute war Samstag. Laut Krüger hatte Mölich heute frei.

Wieder ging es ein Stück weiter. Diesmal war ich aufmerksam genug, es zu bemerken. Der Typ im Rückspiegel schien sogar zu lächeln.

Ich griff zum Handy und rief die Auskunft an.

In Solingen gab es keinen einzigen Mölich, dafür zwei in Remscheid und einen in Wuppertal. Und der in Wuppertal hieß mit Vornamen Wolfgang. Er wohnte in der Friedrich-Engels-Allee. Dieselbe Straße, in der sich auch das Wuppertaler Polizeipräsidium befand.

Ich wählte die Nummer, die ich von der Auskunft erfahren hatte. Nachdem es viermal geklingelt hatte, meldete sich Mölich. Es war eindeutig seine Stimme. Ich drückte den roten Knopf. Er war also zu Hause …

Während ich mich durch den Stau nach Wuppertal kämpfte, reifte in mir ein Plan.

Ich fand die Hausnummer. Sie lag ganz in der Nähe der Schwebebahn-Haltestelle Völklinger Straße. Ich ließ den Golf langsam vorbeirollen und sah einen lang gestreckten Hof, darin längs ein hell gestrichenes Gebäude. Unten reihten sich Garagentore, oben konnte durchaus eine Wohnung sein. So genau war das auf die Schnelle nicht zu erkennen. Ich suchte mir ein Stück weiter einen Parkplatz.

 

Dann atmete ich tief durch und wählte noch einmal Mölichs Nummer.

»Rott! Lassen Sie mich jetzt auch am Wochenende nicht in Ruhe?«, rief er, nachdem ich mich gemeldet hatte.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte ich und gab mir Mühe, meiner Stimme Festigkeit zu verleihen. »Aber es ist wichtig. Ich glaube, ich habe eine interessante Entdeckung gemacht.«

»Und die hat nicht bis Montag Zeit?«

»Ich glaube nicht. Und ich denke, wenn wir uns jetzt die Zeit nehmen, dann haben wir den Fall mit dem toten Kind am Montag schon gelöst.«

»Tatsächlich?« Ich konnte mich täuschen, aber es kam mir vor, als würde ich ein kleines bisschen Furcht in seiner Stimme spüren.

»Und nicht nur das!«, trumpfte ich auf. »Sie werden am Ende die Lorbeeren einheimsen, nicht ich.«

»Das müssen Sie mir erklären.«

»Ich glaube, Sie wissen gar nicht, was alles passiert ist, oder? Klar, Sie sind ja auch seit gestern im wohlverdienten Wochenende.« Ich sagte das ohne Ironie.

»Was ist los, Rott?«

»Ich war ja heute Nacht da oben am Bruchberg.«

»Wo?«

»Der Hakenkreuzwald, Sie wissen doch. Da hat es erstens eine Schießerei gegeben, und zweitens haben wir eine Leiche entdeckt.«

»Sie machen Witze!«

»Keineswegs.«

»Wurde der Tote schon identifiziert?«

Woher wissen Sie, dass es ein Mann war?, wollte ich fragen, ließ es aber, denn ich durfte Mölich nicht misstrauisch machen.

»Ich glaube nicht«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Ihr Wuppertaler Kollege Krüger wird Ihnen das alles am Montag erzählen. Aber die Folge davon ist: Er hat mir jetzt endgültig verboten, mich in dem Fall weiter zu betätigen.«

»Und Sie konnten es immer noch nicht lassen, was? Mensch Rott, und ich hatte Sie noch gewarnt.«

»Na ja, ich musste ja wenigstens meinen Spuren nachgehen. Schließlich bin ich meiner Auftraggeberin verpflichtet.«

Ich registrierte, dass Mölich gar nichts über die Schießerei wissen wollte, die ich erwähnt hatte.

»Tja, das Berufsethos eines Detektivs wiegt schon schwer, was?«, sagte er jovial.

»Das kann man wohl sagen. Aber um Sie nicht länger auf die Folter zu spannen …«

»Ja?«

Ich machte eine Kunstpause. Dann ließ ich den Versuchsballon steigen. »Ich habe einen Zeugen gefunden, der beobachtet hat, wie das Kind starb«, sagte ich.

Einen Moment lang herrschte Stille in der Leitung. Der Moment war ziemlich lang. Zu lang.

»Sie sollten mal mit ihm reden«, fügte ich hinzu.

Wieder Stille. Etwas kürzer.

»Meinen Sie?«

»Aber ja. Stellen Sie sich vor, er bringt Sie auf die richtige Spur. Das wäre doch sensationell.«

»Natürlich … Aber …«

»Ich schenke Ihnen den Zeugen, Herr Mölich. Befragen Sie ihn. Als Gegenleistung teilen Sie mir einfach mit, was dabei herausgekommen ist. Und ich bin dann endlich diesen Fall los.«

»Ich verstehe nicht, warum Sie das machen, Rott.«

Ich spielte den Verzweifelten. »Meine Güte! Meine Mitarbeiterin ist heute Nacht beinahe erschossen worden. Sie liegt im Krankenhaus, und niemand weiß, ob sie durchkommt. Krüger reißt mich in Stücke, wenn ich weiter an der Sache dranbleibe. Wissen Sie, so langsam habe ich keine Lust mehr. Sie haben doch da ganz andere Möglichkeiten.«

»Soll das heißen, Sie geben auf?«

»Wenn Sie so wollen, ja.«

Wieder sagte Mölich eine Weile nichts. »Na, schön«, kam dann. »Wie heißt der Zeuge, und wo kann ich ihn erreichen?«

»So einfach ist das leider nicht.«

»Wieso?«

»Es ist ein kleiner Dealer, der sich in der fraglichen Nacht im April auf dem Rathausparkplatz rumgetrieben hat. Er hat nicht besonders viel Lust darauf, eine offizielle Zeugenaussage in einem Polizeibüro zu machen. Sie können alles von ihm erfahren, aber reden Sie mit ihm auf neutralem Boden.«

»Wo und wann?«

»Jetzt gleich. Können Sie in einer Stunde in Solingen sein?«

»Wenn ich durch den Verkehr komme, sicher.«

»Fahren Sie zur Potsdamer Straße. Stellen Sie sich in einer Stunde genau an die Stelle, wo das Kind gefunden wurde.«

»Mitten auf die Straße?«

»Sie können auch auf dem Gehweg warten. Der Typ wird Sie ansprechen und Ihnen alles erzählen.«

»Und er weiß, dass jemand von der Polizei kommt?«

»So ist es.«

»Ich hoffe für Sie, dass dabei was rauskommt.«

»Warum sollte ich es Ihnen sonst erzählen?«

»Ja, warum?«, fragte Mölich.

Es dauerte keine fünf Minuten, da kam Mölich in einem grünen Opel aus der Einfahrt. Er wartete eine Weile, bis er abbiegen konnte, dann verschwand der Wagen auf der Hauptstraße. Ich sah auf die Uhr: Viertel nach drei. Eigentlich sollte man mit einem Einbruch warten, bis es dunkel war, aber mir blieb keine andere Wahl.

Ich stieg aus und ging in forschem, aber nicht zu schnellem Schritt auf die Einfahrt zu. Der Hof war leer. Eine Garage stand offen. Ich sah mich um. Von den Nachbarhäusern gingen ein paar Fenster auf das Grundstück. Es musste also schnell gehen.

Die Eingangstür war gleich neben dem Garagentor. Daneben hing ein Briefkasten, darüber gab es eine Klingel. »Mölich« stand auf dem Schild. Hinter dem Milchglas glaubte ich schemenhaft eine Treppe zu erkennen, die nach oben führte. Die obere Etage ging über das ganze Haus. Wenn Mölich sie allein bewohnte, hatte er viel Wohnfläche.

Ich versuchte, um das Gebäude herumzukommen. Die Stirnseite lag an der Mauer, hinter der die Wupper floss. Es gab einen schmalen Durchgang, höchstens einen Meter breit, in dem sich Unrat angesammelt hatte: ein alter Reifen, Plastiktüten, rostende Metallteile und vergessenes Baumaterial. Der Durchgang war eine Sackgasse, die weiter hinten wieder an einer Mauer endete. Alles war feucht, die Steine voller Moos. Ich sah nach oben und erkannte ein breites Fenster, von dem aus Mölich die Aussicht auf den Fluss bewundern konnte.

Ich würde mich hoffnungslos schmutzig machen, aber das war mir egal. Ich suchte auf dem Haufen Unrat mit dem Fuß Halt, und als ich mich streckte, bekam ich die Mauerkrone zu fassen. Dort oben hatte es wohl mal einen Drahtverhau gegeben, der jedoch längst abgerostet war. Nur die Befestigungsstangen aus Metall steckten noch in der Wand. Ich konnte mich an ihnen hochziehen und saß schließlich auf der Mauer.

Mir wurde leicht schwindelig, als ich das Flussbett zu Gesicht bekam. Auf der Grundstücksseite war die Mauer keine drei Meter hoch, auf der Flussseite ging es dahinter viel tiefer hinunter. Außerdem konnte ich von der anderen Seite der Wupper aus wunderbar gesehen werden.

Ich durfte keine Zeit verlieren. Ich zog meine Pistole und beugte mich hinüber zu dem Fenster. Einen Moment dachte ich noch darüber nach, was ich tun würde, wenn sich jemand in Mölichs Wohnung aufhielt. Vielleicht hatte er ja eine Freundin. Doch dann ging ich das Risiko ein und zertrümmerte mit einem einzigen harten Schlag des Pistolengriffs das Glas. Sekunden später war ich in der Wohnung.

Der Raum war tatsächlich riesig. Vielleicht war das früher mal eine Lagerhalle gewesen, oder man hatte irgendetwas darin produziert. Jetzt hatte Mölich ein Wohnzimmer daraus gemacht. Ein paar Sessel standen herum. Mitten im Raum befand sich ein Fernseher mit Videorekorder - direkt auf dem Waschbetonboden. Hatte es bisher noch einen Rest Zweifel gegeben, dass Mölich der Mann war, der das Haus der Steuerberaterin bewohnt hatte und ein Brasilienfan war, dann waren sie jetzt endgültig zerstreut. Auf der weiß gestrichenen Wand hingen sauber gerahmte Plakate mit brasilianischen Motiven: der berühmte Blick auf Rio de Janeiro mit dem Zuckerhut. Nackte milchkaffeebraune Mädchen in knallbuntem Federschmuck, der natürlich nichts verhüllte.

An der fensterlosen Längsseite des Raumes reihten sich mächtige Metallregale, die zur mindestens vier Meter hohen Decke reichten und in denen sich Bücher, CDs und Videos drängten. Eines davon hatte Mölich offenbar zur brasilianischen Bar gemacht und mit dem ganzen Programm ausgestattet: Da standen milchiger Batida de Coco, Caipirinha und klarer Cachaca - der Zuckerrohrschnaps, den ich aus Juttas Bar kannte. Daneben waren die passenden Gläser aufgereiht.     

Ich überflog die Bücher und Videos. Mölich hatte einen ausgefallenen erotischen Geschmack. Mir fielen beim Durchblättern ein paar Hefte in die Hand, die offenbar direkt aus Brasilien importiert waren. Harte Pornos mit penisbewaffneten Frauen. Einige stammten auch aus Deutschland: »Die Welt der She-Males«. Die Videos waren vom selben Kaliber.

Gut, dachte ich. Mölich hat was mit Brasilien zu tun. Aber wo war die eindeutige Verbindung zu Ratnik, wo zu den beiden Dückraths?

Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Es war so etwas wie ein Knacken, und es schien aus dem Zimmer nebenan zu kommen. Ich machte, dass ich wieder zu dem Fenster kam, bereit zur Flucht. Ich hielt inne, lauschte. Nichts war mehr zu hören. Ganz ruhig, sagte ich mir. Hier ist niemand. Und Mölich ist jetzt noch nicht mal in Solingen angekommen - geschweige denn hat er gemerkt, dass das Treffen mit dem ominösen Zeugen ein Trick war …

Ich atmete ein paarmal durch, ging zur Tür, die in den nächsten Raum führte, und öffnete sie.

Ein Schlafzimmer. Als Durchgangsraum angelegt. Ich durchstöberte einen Schrank, fand Mölichs Anzüge und eine ganze Batterie Schuhe, bis ich auf ein paar Aktenordner stieß. Ich öffnete sie, und sofort lächelten mich reihenweise Mädchen an. Manche dunkelhäutig, manche hell, manche mit schwarzen Haaren, andere mit blonden, die wahrscheinlich gefärbt waren. Darunter standen die Namen: Paola, Victoria, Luisa, auch Maria - sogar mehrmals. Es waren Farbausdrucke aus dem Internet, darüber stand der Name einer Firma: »Brasilian Dream Partnervermittlung«. Ich blätterte durch die Unterlagen, entzifferte Anträge und Kopien von Briefen.

Mölich hatte 1998 über das Heiratsinstitut eine Brasilianerin namens Maria Garcia nach Deutschland kommen lassen.

Ich klappte den Ordner zu und öffnete die nächste Tür. Ich stand in einer Küche - fast so groß wie das Wohnzimmer, in das ich eingebrochen war. Interessante Zimmeranordnung, dachte ich. Der Kochplatz befand sich mittendrin, man konnte um die Geräte und die Arbeitsfläche herumgehen. An der Wand ein Sofa, Sessel, ein Couchtisch und noch mal eine separate Essgruppe auf der anderen Seite.

Drei Türen gingen von hier ab. Eine zur Treppe, die nach unten zur Haustür führte, eine in ein Bad. Die dritte ging nicht auf. Während ich mich weiter umsah, kehrte das Geräusch zurück.

Ein Tapsen. Vielleicht Tauben auf dem Dach?

Ich lauschte.

Es war wieder still. Ich wartete, scheinbar endlos. Irgendwo rauschte etwas, aber das Geräusch kannte ich. Es war die Schwebebahn, die dem Lauf der nahen Wupper folgte.

Ich versuchte noch einmal, die verschlossene Tür zu öffnen. Warum war sie abgeschlossen? Hatte Mölich hier die Beweise versteckt, mit denen ich ihn überführen konnte? Quatsch - kein Mensch schloss in seiner Wohnung eine Tür ab, wenn er sich sicher fühlte. Wenn es zu einer Hausdurchsuchung kam, war es ohnehin völlig egal, ob die Tür abgeschlossen war oder nicht.

Ich sah mich suchend um, und nach einer Weile fand ich an der Wand neben der Wohnungstür ein Schlüsselbrett. Ich probierte alle Schlüssel durch, einer passte. In diesem Moment hörte ich wieder etwas. Ein Wagen kam auf den Hof gefahren.

Ich rannte hinüber zum Fenster. Es war Mölichs Auto. Der Hauptkommissar ließ den Wagen auf dem Vorplatz stehen. Er stieg aus und ging zur Eingangstür. Mölich trug wieder den hellgrauen Anzug - wie neulich im Büro. Er sah nicht nach oben.

Ich machte, dass ich durch die Zimmer wieder zurück zum Fenster kam, und kletterte hektisch hinaus. Ich sackte hinunter in den kleinen Gang zwischen den Mauern, und gerade hatten meine Füße den dreckigen Boden berührt, da kam Mölich um die Ecke. Er riss mir die Arme auf den Rücken und rammte mir etwas ins Kreuz, das ganz sicher keine Wasserpistole war. Ohne ein Wort zu sagen, trieb er mich vor sich her, durch den Eingang die Treppe hinauf und wieder bis in den hinteren Raum. Dort stieß er mich zu Boden.

Etwas explodierte in meinem Kopf. Einen Moment lang waren die Bilder von Brasilien, die Bar, die Sessel und die Regale in einen roten Schleier getaucht. Dann verlor ich das Bewusstsein.